Symphonie Nr. 6 a-Moll
Dieses Werk, zwar klassisch viersätzig, aber inhaltlich rücksichtslos persönlich und mit allerhand äußeren Zeichen einer inwendigen Programmatik ausgestattet, hat es in Zeiten der Mahler-Ignoranz bis zur Renaissance der Musik dieses Komponisten in den Siebzigerjahren nicht leicht gehabt. Die Einbindung von Kuhglocken und die scheinbar sehr plakativen Hammerschläge, die im Finale den niederschmetternden Effekt der Musik noch optisch und akustisch verstärken, sorgten für allerlei zynische Kommentare.
»Herrgott, daß ich die Hupe vergessen habe. Jetzt kann ich noch eine Symphonie schreiben.«
zeitgenössische Karikatur
Die Symphonie stellt ganz eindeutig einen Höhepunkt in Mahlers subjektivistischer musikalischer Selbstbespiegelung dar, obwohl sie mit ihrem viersätzigen Aufbau scheinbar dem klassischen Formmodell angehört. Inhaltlich ist sie schon durch die äußeren Zeichen, die gesetzt werden, als Programm-Musik erkenntbar: der konsequent und kompromißlos durchgezogene - auch im Scherzo, wiewohl im Dreiertakt (!) nahezu unablässig vorwärtstreibende Marschrhythmus, das Gebimmel der Herdenglocken in einem Moment der Ruhe und Abgeschiedenheit, die Hammerschläge als Symbol für das unbarmherzige Eingreifen des Schicksals. Auch hat, obwohl ein offizielles Programm zu diesem Werk nie veröffentlicht wurde, die Tatsache Bedeutung, daß Mahler beim lyrisch-schwungvollen Seitenthema des ersten Satzes, das die positiven Kräfte symbolisiert, ausdrücklich an seine Frau Alma gedacht hat.
Reihenfolge der Sätze
Für Verwirrung hat gerade Alma Mahlers Anmerkung gesorgt, daß die Reihenfolge der Sätze von Mahler angeblich anders gewünscht wurde als bei den von ihm dirigierten Aufführungen: Das Scherzo stand daraufhin in den ersten Druckausgaben an zweiter Stelle. Doch weisen alle Anordnungen des Komponisten und vor allem die von ihm festgelegte Stellung der Binnensätze in den eigenen Aufführungen auf die gegenteilige Reihenfolge hin, worauf in Einlagzettel im Anfang des XXI. Jahrhunderts erschienenen Band der Gesamtausgabe hinweist.Drei oder zwei Hammerschläge?
Nicht minder verwirrend Mahlers eigene Anweisungen bezüglich der berüchtigten Hammerschläge im Finale: Den dritten, scheinbar alles niederschmetternden Hammerschlag hat er in seinen eigenen späten Aufführungen gestrichen. Vielleicht im Hinblick auf die folgende Siebente Symphonie, die nach dieser gern sogenannten Tragischen wieder per aspera ad astra führt und mit einem jubelnden C-Dur-Finale schließt, das - setzt man eine übergeordnete Tonarten-Dramaturgie voraus - als Antithese zu den dramatisch-negetiven a-Moll-Kräften der Sechsten gehört werden kann.Aufnahmen
Pioniere um 1965
Im Plattenstudio war der Exil-Wiener Erich Leinsdorf ein Pionier: Er spielte die Sechste mit dem Boston Symphony Orchestra 1965 erstmals ein. Bis dahin mußten Mahler-Verehrer mit einem Livemitschnitt vom Holland-Festival 1955 in Rotterdam unter der Leitung von Eduard Flipse (Philips) das Auslangen finden - er holländische Mahler-Pionier hatte Mitte der Fünfzigerjahre auch die allererste Aufnahme der Achten Symphonie heausgebracht. Kurz nach Leinsdorf ging auch Vaclav Neumann mit dem Leiphiger Gewandhausorchester ins Plattenstudio, um die Sechste aufzunehmen, die in einer Box mit drei Langspielplatten bei Philips in den Handel kam - bis heute eine der wichtigsten Mahler-Editionen der Zeit vor Beginn der Mahler-Schwemme, etwa zehn Jahre danach. In diese Phase gehören dann auch die innerhalb kürzester Frist enstandenen Aufnahmen bedeutender Interpreten wie der Livemitschnitt einer markigen Aufführung durch George Szells mit seinem Cleveland Orchestra vom Oktober 1967, der bei CBS alledings erst 1972 in den Handel kam, Rafael Kubeliks Studioproduktion im Rahmen der Gesamtaufnahme für Deutsche Grammophon im Dezember 1968 und, bereits im Febraur 1967, Leonard Bernstein in seinem Mahler Zyklus mit New York Philharmonic (CBS, 1967 veröffentlicht).Unter diesen bemerkenswerten Aufnahmen verdient vielleicht jene von John Barbirolli mit dem New Philharmonia Orchestra die Palme: Die technisch meisterhaft mikrophonierte Wiedergabe irritiert zwar anfangs durch das vergleichsweise langsame Tempo, zieht aber dank der immensen Ausdruckskraft und der beredten Artikulation aller Stimmen unweigerlich in ihren Bann. Bemerkenswerterweise hatte Barbirolli als einer der wenigen Dirigenten bereits entgegen der Reihenfolge in den Druckausgaben das Scherzo an die dritte Stelle seiner Aufnahme gerückt.
Bedeutend später bekam die Diskographie noch Zuwachs: 1978 nahm Kirill Kondraschin das Werk in Leningrad auf, eine bemerkenswerte, kompomißlos deutliche Wiedergabe der Partitur, 1982 folgten die Wiener Philharmoniker unter Lorin Maazel mit einer nicht minder mitreißenden Wiedergabe - wobei Kenner hoffen, daß eines Tages der im selben Sommer enstandene Live-Mitschnitt der Salzburger Festspiel-Aufführung in dieser künstlerischen Konstellation veröffentlicht wird, eine der aufregendsten Mahler-Deutungen, derer sich der Chronist erinnert.
Noch einmal mußten Jahrzehnte vergehen, ehe eine wirklich konkurrenzfähige Wiedergabe auf CD gebannt wurde: Kirill Petrenko realisierte nach seiner Bestellung zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker eine grandiose Sechste, die 2020 auf dem orchestereigenen Label in den Handel gebracht wurde.