Staatsopern-Produktion 2010

Cardillac

Wiener Staatsoper, 1994

Der Mörder war wieder der Gärtner

Drei Jahrzehnte ist es her, daß der Goldschmied Cardillac seine letzten Kunden in Wien ermordet hat. Jetzt treibt er wieder sein Unwesen in der Stadt.

Man sollte sich Paul Hindemiths packendstes Musikdrama in der Staatsoper ansehen. Des Stückes wegen, nicht, weil Marco Arturo Marelli eine kongeniale Inszenierung in die selbstentworfenen, abstraktexpressionistisch dräuenden Straßenschluchten gegossen hätte. Das ist gutes Regiehandwerk, mehr nicht.

Hindemith hat mehr als das gefordert, sich von Ferdinand Lion ein Libretto schreiben lassen, das frei nach E.T.A. Hoffmanns »Fräulein von Scuderi« ein Künstlerdrama blutigsten Zuschnitts skizziert; in den damals üblichen, kühn hingeworfenen Satzfetzen, deren kraftstrotzende Attitüde man heutzutage eher belächelt als bewundert.

Aber Hindemith hat mit seiner Musik die Brücke zur Zeitlosigkeit geschlagen. Er bedient sich zwar der heftig gestikulierenden tönenden Pendants zum fahrigen, ausdruckswütigen Sprachton bindet diese jäh hochfahrenden, zuckenden, brüllenden Klang-Vokabeln aber in ein Geflecht klassizistischer, neobarocker Formgerüste. Er schreibt sozusagen mit expressionistischen Versatzstücken Briefe in die Concerto-grosso-Vergangenheit.

Wenn, wie diesmal, die Philharmoniker unter Ulf Schirmer kraftvoll, zügig, leidenschaftlich aufspielen, nimmt dieses retrospektive Kompositionsprinzip der Orchestersprache nichts von ihrer oftmals überwältigenden Theater-Wirksamkeit.

Es schafft aber - vielleicht für »postmoderne Zeiten« wieder besonders relevant - im selben Atemzug die nötige Überhöhung des momentanen Effekts zum in größeren Zusammenhängen gedachten Kunstwerk.

Anknüpfend an diese stilistische Synthese von Ausdruckswut und Formalismus ließen sich zupackende Personenführung, suggestive Lichtregie denken. Marellis von grellen Blitzen durchzucktes Anfangstableau, in dem der von Dietrich Gerpheide gut studierte Chor als verängstigte Volksmasse seinen besten Auftritt hatte, schien den rechten Weg einzuschlagen.

Mit Dagmar Niefinds strahlend weißer Rokokogewandung des königlichen Hofstaats glückte inmitten des Zentralakts auch einmal das optische Gegenstück zur musikalischen Stilisierung in expressionistischem Ambiente.

Solche Anfälle szenischer Kongenialität blieben jedoch Momente im insgesamt biederen Bühnenarrangement. Nicht einmal Franz Grundheber, sonst durchaus einfühlsamer Menschendarsteller, vermochte der Figur des egomanischen Goldschmieds wirklich Profil zu geben.
Daß dieser offenkundig solide Cardillac zum Mörder wird, um seine geliebten Kunstwerke zurückzuerlangen, steht im Libretto. Auf der Bühne erscheint seine Entlarvung mangels theatralischer und vokaler Dämonie so überraschend wie die des sprichwörtlichen Gärtners im Kriminalroman.

Adrienne Pieczonka durchlebt das Schicksal der ungeliebten Tochter bedeutend glaubhafter, Kurt Schreibmayer - von ein, zwei wackelnden Höhen abgesehen - ist ihr der rechte stürmisch-überstürzte Fluchthelfer.

Eliane Coelho singt als große Dame ihren Schlafzimmermonolog mit entsprechend verhangenem Sopran, Richard Brunner kann dieser souveränen Partnerin mangels stimmlicher Potenz nicht überzeugend den Hof machen. Walter Fink und Gottfried Hornik absolvieren ihre undankbaren Miniaturrollen ordentlich.

Das Publikum wiederum bejubelt alle Beteiligten mehr oder weniger enthusiastisch es hat ein Stück wiedergewonnen, das diese Belebung verdient hat.
Am zu erwartenden Besuchermangel in den Reprisen wird das nichts ändern. Hindemith ist nicht »in«. Daran hätte nur eine Cardillac-Sensation etwas ändern können. Aber die ist bei aller gediegenen Qualität des Gebotenen ausgeblieben.

↑DA CAPO