Lilli Boulanger
1893 - 1918
Als »die größte Komponistin der Musikgeschichte« bezeichnete der Dirigent und Komponist Igor Markevitch Lilli Boulanger, die mit ihrer Schwester Nadia zu den schillerndsten Persönlichkeiten des Pariser Musiklebens gehörte.
Tatsächlich hat die Frühverstorbene einige grandiose Werke vorgelegt, die sie auf Augenhöhe mit den führenden Köpfen der vulkanösen französischen Moderne am Beginn des XX. Jahrhunderts zeigt. Die Zeitgenossen wußten ihre außerordentliche Begabung zu schätzen, anders als etwa Maurice Ravel, aber ähnlich wie einst ihrem komponierenden Vater, dem in Paris hoch geehrten Gesangspädagogen Ernest Boulanger (1815 - 1900) erkannte man ihr den begehrten Prix de Rome bereits in jugendlichem Alter zu.
Den Aufenthalt in der Villa Medici mußte sie freilich wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nach wenigen Wochen bereits wieder abbrechen.
Lehrer wie Louis Vierne nahmen sich in Paris des ungemein begabten, aber lebenslang kränkelnden Mädchens an. Sie hatte schon vor ihrer offiziellen Aufnahme ans Konservatorium Kurse besucht und erlernte neben dem Violinspiel (Debüt 1901) auch Cello, Klavier und sogar Harfe.
Der Platz im neunten Pariser Arrondissement, an dem die Familie Boulanger seit 1904 lebte, wurde später nach Lilli benannt.
Hauptwerk von Lilli Boulange sind ihre Psalmen, an denen sie von 1907 an bis kurz vor ihrem Tod kontinuierlich arbeitete.
Während des Kriegs waren Lilli und die benfalls komponierende Nadia Boulanger karitativ tätig und kümmerten sich um die Mitglieder des Konservatoriums, die durch den Krieg in Bedrängnis geraten waren.
Lilli erlag im Alter von 24 Jahren ihren lebenslangen Darmleiden (»Morbus Crohn«).
Aufgrund der dauernden Leiden konnte Lilli Boulanger nur einen kleinen Teil ihrer üppig angewachsenen musikalischen Skizzen vollständig ausarbeiten. Eine Oper nach Alfred de Mussts Princesse Maleine blieb wie viele kürzere Kompositionen unvollendet.
Immerhin konnten an die zwei Dutzend Partituren publiziert werden und der von Lillis Musik begeisterte, bedeutende Dirigent Igor Markevitch konnte 1960 die erste Schallplatte mit ihren Werken herausbringen, darunter die gehaltvolle → Vertonung des 130. Psalms, »Aus tiefster Not« mit Oralia Dominguez als Solistin. Das Werk steht in seinem expressivem Gestus stilistisch etwa auf einer Ebene mit ähnlichen Kompositionen Arthur Honeggers, ist aber bedeutend früher entstanden.