Pierre Boulez
1925 - 2016
Man geht wohl nicht fehl mit der Behauptung, daß das XX. Jahrhundert erst mit dem Tod von Pierre Boulez am 5. Jänner 2016 endgültig zu Ende gegangen ist;
musikhistorisch betrachtet zumindest. War doch kaum eine Persönlichkeit dermaßen prägend für die Geschicke
der sogenannten Neuen Musik wie der 1925 im französischen Montbrison
geborene Komponist, Dirigent, Lehrer und Kulturphilosoph.
Sein Name
stand für die musikalische Avantgarde – und das in all ihren
Ausprägungen, mit all ihren Brüchen und Verwerfungen seit den
Fünfzigerjahren.Viel zitiert – und wenn auch aus dem Zusammenhang
eines »Spiegel«-Interviews gerißen, dennoch idealtypisch für die
Grundstimmung der künstlerischen Fortschrittsgläubigkeit in der Ära des
Aufbruchs nach dem Zweiten Weltkrieg – ist der Ausspruch, man möge doch
die Opernhäuser in die Luft sprengen.
Die Verehrer und Parteigänger von
Boulez trugen diesen Satz wie eine Standarte vor sich her.
Etwas
vom Selbstwertgefühl der Avantgarde schwingt bis heute mit, wenn man ihn
zitiert, nun schon als historisch gewordenes Bonmot.
Ein Versöhner
In Wahrheit war
Pierre Boulez selbst stets eher ein Versöhner, wenn er auch als
Aktionist eine Zeitlang mit Gleichgesinnten Aufführungen von Musik
störte, solange sie allzu sehr nach Dur und Moll, nach Vergangenem,
überwunden Geglaubtem tönten.
Er selbst, ausgebildeter Mathematiker,
huldigte in seinem schmalen, doch epochemachenden Schaffen nach
rational-kargem Beginn rasch wieder einer Art Neo-Impressionismus, in
dessen farbigem, fein schattiertem Klangspektrum die minutiös
berechneten Konglomerate aus rhythmisch vertrackten,
melodisch-motivischen Teilchenstrukturen durchaus wohlklingende Gestalt
annahmen.
Unmenschlichkeit?
»Hören Sie mal, was Sie da von den Musikern verlangen, das
ist unmenschlich«, brachte Gottfried von Einem, einer der echten
Boulez-Antipoden, die Kritik der Traditionalisten auf den Punkt, die
Spieler wie Hörer vor all zu viel »seriellen Happenings« (so Hans Werner
Henze) in Schutz nehmen wollten.
Doch war ein Pierre Boulez immer schon
weiter als seine Kritiker, lugte mit der nächsten Uraufführung schon
wieder hinter einem ganz anderen Winkerl hervor als aus dem, in das man
ihn zuvor gestellt zu haben glaubte.
Der Dirigent
Er war ja auch als
Opernhaus-Terrorist trotz allen vollmundigen Ankündigungen nicht zu
gebrauchen, sondern engagierte sich am Pult bedeutender
Symphonieorchester (Südwestfunk, Cleveland, BBC, New York Philharmonic)
nicht nur für Zeitgenössisches, sondern auch für Beethoven oder Brahms.
Daß
ausgerechnet er zum Nachfolger eines Leonard Bernstein in New York
werden würde, erstaunte die Musikwelt 1971 gar nicht mehr, denn schon
1966 hatte Wolfgang Wagner angeklopft und den musikalischen
Gottseibeiuns als Dirigent des »Parsifal« nach Bayreuth berufen.
Mir
nichts, dir nichts, stand der Kompositionsschüler Olivier Messiaens in
den Fußstapfen von Hans Knappertsbusch.
Der »Jahrhundert-Ring«
Und es war Boulez, der im Verein
mit Patrice Chéreau 1976 zum 100-Jahr-Jubiläum der Tetralogie den
neuen, den bald so genannten »Jahrhundert-Ring« herausbrachte. Wild umfehdet bei der Premiere, dann geradezu als Heiligtum verabschiedet 1980. In dem halben Jahrzehnt hatte die Wagner-Rezeptionsgeschichte tatsächlich einen Jahrhundert-Schritt getan,
dessen globale Wirkungsmacht Mitte der Siebzigerjahre niemand zu
prophezeien gewagt hätte.
Das war typisch Boulez. Seinem Engagement
bei den Darmstädter Ferienkursen und der Gründung des Ensembles
intercontemporain verdanken sich das Selbstbewußtsein zweier
Komponistengenerationen und die Gründungen zahlreicher Spezialensembles
für Neue Musik in aller Welt.
Philharmonie in Paris
Auch, daß in Paris eine neue
Philharmonie gebaut wurde, geht ausschließlich auf Boulez' Anregung zurück. Was
immer er tat, es schien Vorbildwirkung zu haben. Daß er sämtliche
seiner Aktionen wortgewaltig zu untermauern wußte, sicherte ihm den
Status eines lebenden Denkmals für den musikalischen Fortschritt.
Dabei
hatte der radikale Erneuerer Pierre Boulez seine kompositorische
Tätigkeit bald auf ein Minimum reduziert. Vermutungen, er könnte einmal
eine Oper komponieren, wie sie von manchen Intendanten hoffnungsfroh ins
Leben gesetzt wurden, quittierte er stets mit einem ironischen Lächeln.
Tatsächlich wurde nicht einmal die projektierte Orchesterfassung
sämtlicher seiner frühen »Notations« für Klavier vollendet. Freilich:
Wann immer er ein älteres Stück wieder zur Hand nahm, gab er ihm eine
neue Gestalt.
Daß die Welt, auch die musikalische, in stetem Wandel
befindlich ist und sein soll, war sein Credo.
Und daß die Welt sich
nicht mit einmal vorgefertigten Vorstellungen ideologischer Natur
abgeben sollte.
Schon 1951, auf dem Höhepunkt der stilistischen
Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten Serialisten, den
Nachfolgern der sogenannten Wiener Schule, und den Parteigängern einer
virtuellen »Gegenseite«, postulierte Boulez zum Erstaunen aller:
»Schönberg ist tot, Strawinsky lebt.«
Und setzte Musik von Bartók auf
seine symphonischen Programme.
Als wollte er sagen: Bleibt wach! Und neugierig!
Wir geloben...