Vor rund einem Jahrzehnt noch hätte ein solcher Abend vor nicht einmal halbvollem Saal stattgefunden. Heute findet sich Publikum genug, freilich ein spezielles Publikum. Ob Avantgarde wie diese deshalb bereits ohne Schranken in den Musikbetrieb integriert ist, wage ich zu bezweifeln.
Erinnern wir uns an Boulez' erstes Engagement mit den Wiener Philharmonikern und die hämischen Kommentare mancher Kritiker, wonach es das traditionsbewußte Wiener Orchester mit des Dirigenten eigener Musik doch ein wenig schwer gehabt habe? Vielleicht ist es den Wienern ein Trost, daß auch das London Symphony Orchestra gerade mit dem »Livre pour Cordes« seine liebe Not hat.
Der Graben zwischen dem technischen, aber auch emotionellen Vermögen klassisch ausgebildeter Orchestermusiker und dem, was Boulez und seine Kollegen auszudrücken begehren, ist zwar kleiner geworden. Aber er klafft nach wie vor deutlich.
Das ist an Kleinigkeiten abzulesen. Wenn etwa ein Celloton solistisch im Raum stehen bleibt und man konstatiert, daß dieser recht armselig tönt. Bei keiner Tschaikowsky- oder Mozartsymphonie würde man solches Spiel am Rande der Expressions-Skala akzeptieren.
Bei Boulez muß es sogar Boulez akzeptieren. Nicht nur besagten Celloton. Aufgefächert ins Kollektiv, wird die Sache ja nicht besser, sondern noch prekärer. Die Zeiten sind noch nicht angebrochen, in denen man Anforderungen, wie er sie stellt, als Selbstverständlichkeiten betrachtet - wie eine Zweiunddreißigstelfigur im Tristan.
Ungefähr effektvoll
Das liegt wohl vor allem an den rhythmischen Strukturen, die raffiniert in zuvor unbekannte Gefilde ausgeweitet wurden und nach neuen Etüden-Lehrwerken verlangen. Immerhin, wir sind schon so weit, daß sich das Publikum in Wien Näherungswerten, wie sie hier erklangen, mit großer Neugier widmet. Man versteht den Werdegang des Komponisten Boulez vom Revoluzzer zum Schöngeist. Diese Metamorphose ist es auch, die hinter der strengen Fassade im Interpreten Boulez den Festspielkünstler reifen ließ, der es versteht, die hedonistischen Bedürfnisse eines illustren Auditoriums zu befriedigen. Er tut es auch als Komponist. Gewiß sind auch in späteren Werken so "fortschrittliche" Harmonien und labyrinthische Verschachtelungen auszumachen wie in der berüchtigten Zweiten Klaviersonate, die auch nicht freundlich werden will, wenn Maurizio Pollini sie spielt. Es ist halt ein Unterschied, ob ein dissonanter Akkord gleichmäßig auf dem Klavier angeschlagen wird oder aufgesplittert in unterschiedlichsten Klangfarben vom Gitarrengezirpe über Vibraphongeklingel bis zum Geigenflüstern.
Da lichtet sich das verzerrteste Antlitz in poetischen Licht- und Schattenwirkungen. Das ist Boulez' klangsinnliche Seite. Gottfried von Einem wird gleich sagen: »gallische Eitelkeit«; aber halt: italophile Deutsche wie Hans Werner Henze können das auch!
Dann waltet überall ein Sinn fürs Dramatische. Wie Klangtürme sich aufschichten und zusammenbrechen, wie raffiniert gegeneinander gesetzte Effekte und Stimmungsbilder fast theatralisch bildhafte Abläufe suggerieren, wie die Musik auf diese Weise Konsistenz gewinnt, das sichert ihr Aufmerksamkeit - etwa in "Figures, Doubles, Prismes" oder in den Improvisationen aus »Pli selon Pli«, in denen die erotisierende Stimme von Laura Aikin das vielgliedrige Orchestergewebe überwölbt.
Das macht bei den »Notations« den tollsten Effekt. Er könnte jedem philharmonischen Konzert als virtuoser Schlußpunkt dienen. Freilich erst in Jahrzehnten, wenn die Dinge ganz selbstverständlich realisiert werden. Immerhin, wir sind im Skizzieren und Andeuten weiter als vor 10 Jahren. Ein guter Beginn. Vielleicht sogar ein wirkliches Geburtstagsgeschenk.