Von der Konsequenz des Zufalls
Brittens Peter Grimes erstmals an der Staatsoper
14. Februar 1996
Peter Grimes von Benjamin Britten erlebte nach 50 Jahren seine späte Erstaufführung in der Staatsoper. Die aufregendste Musiktheater-Premiere seit langem.
Ganz persönlich: So bewegt habe ich das Haus am Ring selten verlassen. Peter Grimes, inszeniert von Christine Mielitz, realisiert von einem animierten Ensemble, mit Neil Shicoff, der sich mit der Titelpartie bis zur Selbstverleugnung zu identifizieren schien, war ein Erlebnis, das vielleicht nicht »zu Herzen« ging, aber in die Magengrube. Auch das ist eine Bestimmung großer Kunst.
Das gern zitierte, simple Motto, Peter Grimes sei eine Parabel vom "ausgegrenzten Menschen", genügt nicht, ein Publikum zu erschüttern. Mielitz hat es deutlicher formuliert: In diesem Stück, meint sie, seien alle Handelnden gleichermaßen Schuldige. Die Masse mit ihren Bigotterien und Vorurteilen, jeder Einzelne in seinem rücksichtslos dumpfen Streben nach Macht und Lustgewinn. Grimes, der beziehungsgestörte Fischer, zerbricht keineswegs nur an der Tatsache, daß die Volksjustiz ihm Morde an zwei Burschen anlastet, die er nicht begangen hat, für die er sich aber doch, in die Enge getrieben, selbst opfern muß. Er geht wohl auch an seinem Ego zugrunde, das selbst offen bekundete Zuneigung nicht zu erwidern imstande ist.
In Mielitz' Inszenierung sind sie alle zu erleben, vor allem das brutale, von keiner ehrlichen Gefühlsregung mehr angekränkelten Massentier Mensch. Der Chor hat seinen großen Abend, beeindruckt mit vokaler Gewalt, aber auch als einmal blau, einmal grau, einmal scharlachrot verhüllte, in sich bewegte, dräuende Rotte, choreographisch grandios geführt. Die Mielitz setzt die Schwingungen von Brittens Klangwellen kongenial in optische Signale um. Sie findet jenseits von plattem Realismus zu bestechend eindeutigen, vom Zuschauer sogleich zu absorbierenden Bildern. Das Meer, die Küstenstimmung, die halbseidene provinzielle Pub-Atmosphäre, das fühlt, sieht, riecht der Zuschauer nicht, wenn er der von Neonlichtern eingerahmten Dekoration von Gottfried Pilz ansichtig wird. Das entsteht durch die Suggestionskraft der Union von Personenführung, Bühnenbild, Licht, Kostümen und bedrohlichen Wolkenprojektionen.
Eins greift ins andere. Die Musik aber ist überall Ausgangs- und Endpunkt; zuletzt schwappt Brittens Brandung in der ganzen Brutalität ihrer Sanftheit über das gespenstische Schlußtableau. Da ist einer ertrunken, hat sich einer selbst gerichtet. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das Treiben in seiner sinnentleerten Systematik geht weiter. Sie werden wieder Feste feiern, die zu ausschweifenden Orgien verkommen, den Verstand gänzlich ausschalten und Menschenjagden veranstalten . . .
Neil Shicoff ist Peter Grimes. Ein Träumer in Wahrheit, man hört es an den weichen Tenortönen, deren er fähig ist, wenn er von den Sternen erzählt. Einer, in dem viel Sanftheit, Poesie gar zu wecken gewesen wäre, stünden dem nicht Natur, Menschheit, die ganze, grausame, rohe Wirklichkeit entgegen.
Sehnsucht nach Umarmung
Die hat ihn selbst grausam und rauh werden lassen. Ellen Orford, die Nancy Gustafson in all ihrer liebevollen Hilflosigkeit zu zeigen versucht, stößt er von sich. Umarmungen haßt er. Zumindest der »offizielle Peter Grimes«. Der andere, tief drinnen, sucht sie. Selbst dort, spürt man, wo er mit Kapitän Balstrode, dem Wicus Slabbert bärbeißiges Profil verleiht, zu raufen beginnt. Und dort, wo er sie ohne Scheu anwendet, im Umgang mit dem Buben, der kurze Zeit später den Unfalltod stirbt.
Das Finale, in dem Grimes mit der Leiche des Kindes, aller Träume vom »großen Fang« entledigt, in der Vorahnung seines notwendigen Endes am Ufer umherirrt, ist von erschütternder Intensität - der folgerichtige Schlußakkord hinter ein Schicksal von der unerbittlichen Konsequenz des Zufalls.
Den grandiosen Gestalter Shicoff, bei dem noch der kraftvolle, beachtlich tönende Spitzenton uneitler Teil der vokalen Dramaturgie ist, umgibt ein ausgezeichnetes Ensemble: Simina Ivan und Gabriele Sima ziehen, befehligt von der nicht minder leichtgeschürzten »Auntie« Jutta Geisters, als kaugummikauende Schlampen ebenso punktgenau durchs Kneipenleben, wie Heinz Zednik die heuchlerischen Sprüche des Methodisten Boles von sich gibt. Peter Köves ist unter den Kleinstgestaltern der "gestaltendste". Der kleine Manuel Wagner absolviert seine stumme und anspruchsvolle Bubenrolle wie ein Vollprofi.
Mstislav Rostropowitsch hat dirigiert, und es fiel mir zu Beginn des Abends oft auf, wieviel mehr ein Dirigent an Differenzierung, Präzision, Klarheit aus der genialen Partitur modellieren könnte. Gegen Schluß zu war mir das gänzlich gleichgültig, gebannt von der Gesamtwirkung dieses Abends, an der das Orchester, von Rostropowitsch zu kraftvollen, rücksichtslos ausgekosteten Steigerungen animiert, schon seinen gehörigen Anteil hatte.
Keine Details: Hier findet das Stück statt.
Ganz.
Wer sich das entgehen läßt, ist selber schuld.
Ganz persönlich: So bewegt habe ich das Haus am Ring selten verlassen. Peter Grimes, inszeniert von Christine Mielitz, realisiert von einem animierten Ensemble, mit Neil Shicoff, der sich mit der Titelpartie bis zur Selbstverleugnung zu identifizieren schien, war ein Erlebnis, das vielleicht nicht »zu Herzen« ging, aber in die Magengrube. Auch das ist eine Bestimmung großer Kunst.
Das gern zitierte, simple Motto, Peter Grimes sei eine Parabel vom "ausgegrenzten Menschen", genügt nicht, ein Publikum zu erschüttern. Mielitz hat es deutlicher formuliert: In diesem Stück, meint sie, seien alle Handelnden gleichermaßen Schuldige. Die Masse mit ihren Bigotterien und Vorurteilen, jeder Einzelne in seinem rücksichtslos dumpfen Streben nach Macht und Lustgewinn. Grimes, der beziehungsgestörte Fischer, zerbricht keineswegs nur an der Tatsache, daß die Volksjustiz ihm Morde an zwei Burschen anlastet, die er nicht begangen hat, für die er sich aber doch, in die Enge getrieben, selbst opfern muß. Er geht wohl auch an seinem Ego zugrunde, das selbst offen bekundete Zuneigung nicht zu erwidern imstande ist.
In Mielitz' Inszenierung sind sie alle zu erleben, vor allem das brutale, von keiner ehrlichen Gefühlsregung mehr angekränkelten Massentier Mensch. Der Chor hat seinen großen Abend, beeindruckt mit vokaler Gewalt, aber auch als einmal blau, einmal grau, einmal scharlachrot verhüllte, in sich bewegte, dräuende Rotte, choreographisch grandios geführt. Die Mielitz setzt die Schwingungen von Brittens Klangwellen kongenial in optische Signale um. Sie findet jenseits von plattem Realismus zu bestechend eindeutigen, vom Zuschauer sogleich zu absorbierenden Bildern. Das Meer, die Küstenstimmung, die halbseidene provinzielle Pub-Atmosphäre, das fühlt, sieht, riecht der Zuschauer nicht, wenn er der von Neonlichtern eingerahmten Dekoration von Gottfried Pilz ansichtig wird. Das entsteht durch die Suggestionskraft der Union von Personenführung, Bühnenbild, Licht, Kostümen und bedrohlichen Wolkenprojektionen.
Eins greift ins andere. Die Musik aber ist überall Ausgangs- und Endpunkt; zuletzt schwappt Brittens Brandung in der ganzen Brutalität ihrer Sanftheit über das gespenstische Schlußtableau. Da ist einer ertrunken, hat sich einer selbst gerichtet. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das Treiben in seiner sinnentleerten Systematik geht weiter. Sie werden wieder Feste feiern, die zu ausschweifenden Orgien verkommen, den Verstand gänzlich ausschalten und Menschenjagden veranstalten . . .
Neil Shicoff ist Peter Grimes. Ein Träumer in Wahrheit, man hört es an den weichen Tenortönen, deren er fähig ist, wenn er von den Sternen erzählt. Einer, in dem viel Sanftheit, Poesie gar zu wecken gewesen wäre, stünden dem nicht Natur, Menschheit, die ganze, grausame, rohe Wirklichkeit entgegen.
Sehnsucht nach Umarmung
Die hat ihn selbst grausam und rauh werden lassen. Ellen Orford, die Nancy Gustafson in all ihrer liebevollen Hilflosigkeit zu zeigen versucht, stößt er von sich. Umarmungen haßt er. Zumindest der »offizielle Peter Grimes«. Der andere, tief drinnen, sucht sie. Selbst dort, spürt man, wo er mit Kapitän Balstrode, dem Wicus Slabbert bärbeißiges Profil verleiht, zu raufen beginnt. Und dort, wo er sie ohne Scheu anwendet, im Umgang mit dem Buben, der kurze Zeit später den Unfalltod stirbt.
Das Finale, in dem Grimes mit der Leiche des Kindes, aller Träume vom »großen Fang« entledigt, in der Vorahnung seines notwendigen Endes am Ufer umherirrt, ist von erschütternder Intensität - der folgerichtige Schlußakkord hinter ein Schicksal von der unerbittlichen Konsequenz des Zufalls.
Den grandiosen Gestalter Shicoff, bei dem noch der kraftvolle, beachtlich tönende Spitzenton uneitler Teil der vokalen Dramaturgie ist, umgibt ein ausgezeichnetes Ensemble: Simina Ivan und Gabriele Sima ziehen, befehligt von der nicht minder leichtgeschürzten »Auntie« Jutta Geisters, als kaugummikauende Schlampen ebenso punktgenau durchs Kneipenleben, wie Heinz Zednik die heuchlerischen Sprüche des Methodisten Boles von sich gibt. Peter Köves ist unter den Kleinstgestaltern der "gestaltendste". Der kleine Manuel Wagner absolviert seine stumme und anspruchsvolle Bubenrolle wie ein Vollprofi.
Mstislav Rostropowitsch hat dirigiert, und es fiel mir zu Beginn des Abends oft auf, wieviel mehr ein Dirigent an Differenzierung, Präzision, Klarheit aus der genialen Partitur modellieren könnte. Gegen Schluß zu war mir das gänzlich gleichgültig, gebannt von der Gesamtwirkung dieses Abends, an der das Orchester, von Rostropowitsch zu kraftvollen, rücksichtslos ausgekosteten Steigerungen animiert, schon seinen gehörigen Anteil hatte.
Keine Details: Hier findet das Stück statt.
Ganz.
Wer sich das entgehen läßt, ist selber schuld.