Pierrot Lunaire

Arnold Schönberg

Des Komponisten vielleicht radikalstes ästhetisches Experiment.

Das Umfeld

In einer Stimmung zunehmender Anerkennung gebar Schönberg 1912 in Berlin die Idee zu einem der Spitzenwerke seines Oeuvrekatalogs.

Am 28. Jänner berichtet der Komponist in seinem Tagebuch

Vorschlag zu Frau Dr. Zehmes Vortragsabsichten, einen Zyklus Pierrot Lunaire zu komponieren. Stellt hohes Honorar (1000 Mark) in Aussicht. Habe Vorwort gelesen, Gedichte angeschaut, bin begeistert. Glänzende Idee, ganz in meinem Sinn. Würde das auch ohne Honorar machen wollen.

Kaprizen einer Diseuse

Albertine Zehme, die Frau eines durch den spektakulären Scheidungsprozeß einer hochadeligen Dame berühmt gewordenen Leipziger Rechtsanwalts, hatte für ihre Auftritte als Diseuse bei Schönberg einen Zyklus von Melodramen bestellt und ihm auch einen 1893 erschienenen Band mit Otto Erich Hartlebens Übersetzungen von Gedichten Albert Girauds übermitteln lassen.

Schaffensrausch

Schönberg war von der Ästhetik der Gedichte fasziniert und inspiriert. Ein Schaffensrausch, wie er ihm früher schon etwa bei der Verklärten Nacht und der Erwartung gegönnt war, ermöglichte eine schnelle Erledigung des Auftrags: Am 16. Oktober 1912 kam es bereits zur Uraufführung jenes Werkes, das oft als Schönbergs fortschrittlichstes und eigenwilligstes bezeichnet wurde.

Clownesker Auftritt

Albertine Zehme, im Pierrotkostüm mit weißter Halskrause, wurde zum Zentrum beleidigender Publikumsproteste und höhnisch-spöttischer Zwischenrufe. Die „dreimal sieben Gedichte“, von der Schauspielerin in seltsamem Singsang auf Tonhöhen gesprochen, von den kargen musikalischen Linien einiger, weniger Instrumente untermalt, brachten allerdings einen neuen, unbekannten und wirklich revolutionären Ton ins Konzertleben.

Ästhetik der Reduktion

Noch nie hatte sich die Konzentration auf das Wesentliche, auf das Skelett der musikalischen Erfindung so radikal verwirklicht. Nicht nur Harmonik und Melodik, auch die Farbgebung war auf das absolute Minimum reduziert.

War noch in Schönbergs frühen Werken die Kunst des Mischklangs, wie er nach Wagner die romantische Musik beherrschte, in gigantische Dimensionen gesteigert worden, so beschränkte sich der Schöpfer der massiv orchestrierten Gurrelieder und der Tondichtung Pelleas und Melisande mit einem Mal auf skizzenhafte, skelettierte Klanggebung.

Nur fünf Musiker begleiten die Sprechstimme.
Aber in jedem der 21 Miniaturdramen wechselt die Farbe. Der Geiger greift zuweilen zur Bratsche, der Flötist zum Piccolo, der Klarinettist wechselt zur Baßklarinette.

Was die bisher kühnsten Werke Schönbergs ahnungsvoll vorbereitet hatten, die Reduktion der Klavierstücke op. 19, die dramatische Konzentration der Erwartung, sie finden im Pierrot Lunaire ihre Erfüllung.

Freie Formen

Formal pendelt Schönberg vom freien Aphorismus zur strengsten kanonischen Setzweise und liefert auf diese Weise auch ein Kompendium an kompositorischer Handwerkskunst - alte Kontrapunktlehre, übertragen in den neu erschlossenen Raum der freien Tonalität. Zum avantgardistisch-frechen Ton des Werks trägt die Behandlung der Sprechstimme nicht unwesentlich bei.

Sprech-Gesang

Die durch Noten angegebene Melodie“ ist (bis auf einzelne besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen bestimmt. Der Ausführende hat die Aufabe, sie unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzuwandeln. Das geschieht, in dem er
I. den Rhythmus haarsharf so einhält, als ob er sänge, d. h. mit nicht mehr Freiheit, als er sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte;
II. sich des Unterschiedes zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt wird; der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder. Der Ausführende muß sich aber sehr davor hüte, in eine ,singende‘ Sprechweise zu verfallen. Das ist absolut nicht gemeint.
Damit präzisiert der Komponist seine Vorstellungen vom Melodram in seinem Verständnis. Schon anläßlich der Gurrelieder hat er in Des Sommerwindes wilde Jagd musikalisch notiertes Sprechen vorgeschrieben.

Für Pierrot lag nun die genaue Anleitung vor. Sie hat zu etlichen Mißverständnissen geführt und trägt nach wie vor zur Verwirrung der Interpeten bei. Das Problem, nicht in die zitierte „singende Sprechweise“, die oft genug in eine Art stilisierten Gruselgeheules ausartet, mag neben der schockierenden Modernität der künstlerischen Aussage zum Uraufführungsskandal beigetragen haben.

Jedenfalls war die Innovation schicksalsträchtig. Schon Alban Bergs Wozzeck verfällt zuweilen in das für den Pierrot gültige, durch Tonhöhen fixierte Sprechen. Spätere Komponisten schreiben vergeichbare Sprachmelodien als ganz selbstverständliche Ausdrucksmittel vor. Auch die von Schönberg dafür vorgesehene Notationsweise - durchkreuzte Notenhälse - hat sich eingebürgert.

Auch über die grundsätzliche expressive Haltung der Interpretation hat sich Schönberg im Vorwort geäußert. Er wünscht vor allem, daß sich der Solist an der Musik, nicht am Text orientiert. Wo „tonmalerisches Darstellung“ vom Komponisten erwünscht sei, werde sie der Gestalter in der Musik wiederfinden. Ähnliches galt für Schönberg wohl auch im Hinblick auf seine Gesangspartien, wie seine erbitterte Reaktion auf die Berliner Aufführung des Buchs der hängenden Gärten durch Martha Winternitz ahnen läßt.

Drei mal sieben Melodramen



I


Mit einem quasi impressionistischen Stimmungsbild, wie Schönberg es vergleichbar auch am Beginn seiner Gurrelieder zu malen wußte, hebt auch der Pierrot Lunaire an. Nur daß dem Klangzauberer Schönberg hier Klavier und Geigenpizzikato für seine koloristischen Absichten genügen. Hier wird die Instrumentalfarbe nicht als Selbstzweck eingesetzt, sondern entfaltet erst in Verbindung mit den harmonischen Werten der Klänge ihren duftigen, ätherischen Charakter Das Mondlicht, der „Wein, den man mit Augen trinkt“, wird auf diese Weise Klang. Girauds Gedicht beschwört eine somnambule Szene, in der das Leuchten des Mondes als „Springflut am Horizont“ empfunden wird.

Schönberg setzt nach dem impressionistischen Zauber der ersten Takte auch dieses Bild sofort in Töne: Die Flöte, gefolgt vom Klavier, holt zu sprühenden Klangkaskaden aus. Das alles entfaltet sich in den ersen Sekunden der Komposition. Es folgt eine immer dichter werdende Verarbeitung der melodischen Elmente dieser Einleitungstakte, die sich zu jenem „Taumel“ der „Gelüste, schauerlich und süß“ verdichten, von denen der Text spricht.

Mit einer retardierenden Erinnerung an den Beginn schließt die erste Nummer des Zyklus, Mondestrunken.

Für Schönberg bedeutete diese Musik ein Vordringen in ungeahnte Regionen, wie eine Tagebucheintragung verrät:
12. März schrieb ich das erste von den Pierrot-Lunaire-Melodramen. Ich glaube, es ist sehr gut geworden. Das bringt viele Anregungen. Und ich gehe unbedingt, das spüre ich, einem neuen Ausdruck entgegen. Die Klänge werden hier ein geradezu tierisch unmittelbarer Ausdruck sinnlicher und seelischer Bewegungen. Fast als ob alles direkt übertragen wäre
Hintergründige Klangmagie prägt alle 21 Stationen des Pierrot Lunaire. Wie suggesitv, wenn Colombine (Nr. 2) nach einem nur von der Geige begleiteten, kokett-ratlosen Rezitativ, zu zitternd repetierten Staccatoakkorden von Flöte, Klarinette und Klavier davon träumt, zu „entblättern auf deine braunen Haare des Mondlichts bleiche Blüten“.

Ähnliche akkordische Staccatoklänge des Klaviers lassen im darauffolgenden Dandy auch die „krystallenen Flakons“ glitzern, wenn sie ein „phantastischer Lichtstrahl“ des Mondes (die hochfahrende Klarinettenfigur am Beginn des Stücks) zum zweiten Mal erleuchtet.

Das Antlitz der blassen Wäscherin wiederum rufen uns fahle, akkordisch gesetzte Klänge von Flöte, Klarinette und Geige vor Augen.

Der Walzer von Chopin, der dem Pierrot nicht aus den Sinnen schwinden will, schimmert immer wieder in seinem klaren Rhythmus durch die oft kompliziert verdichteten Strukturen des fünften Melodrams hindurch, während die von Zeitgenossen hier und da als „blasphemisch“ empfundene Madonna, deren Holbläserkantilenen sich über gleichmäßigem Cellopizzikato ineinander verschlingen von Ferne Assoziationen an den Duktus der Erbarme Dich-Arie aus Bachs Matthäuspassion wecken mögen.

Mit dem kranken Mond schließt der erste Teil des Zyklus. Nur die zunächst karge, dann zu den Worten „dein Blick, so fiebernd übergroß“ heftig zuckende Flötenkantilene umrankt die Sprechstimme, wohl Sinnbild von jener „fremden Melodie“, die den Pierrot in diesem Gedicht „bannt“.

II


Den zweiten Abschnitt eröffnet eines der bedrohlichsten Stücke des Zyklus, Nacht. Schönberg nennt diese Nummer im Untertitel eine Passacaglia, was den verschachtelten, äußerst diffizilen formalen Bau der Komposition beinahe verharmlost. Auf engstem Raum sind die Zitate des Passacaglia-Themas hier kontrapunktisch ineinander verwoben. Die Musik wächst aus gedeckten Farben zu immenser Intensität und läßt die grauenhafte Vision von den „finsteren schwarzen Riesenfaltern“, die den „Glanz der Sonne töten“ tönende Realität werden.

Zwischen dumpfem Brüten und hysterischem Gelächter balanciert das Gebet an Pierrot, Bittgedicht eines, der das Lachen verlernt hat und nicht wiederfinden kann. Im Klavier erklingt ganz zuletzt ein rhythmisierter Akkord, der, verwandelt, auch am Ende des zehnten Melodrams, Raub, wiederkehren wird, ein nicht nur Zusammenhang stiftender, sondern auch klanglich erstaunlicher Kunstgriff, denn das Klavier schweigt im übrigen während dieser Nummer, die durch ätherisch verfremdete Streicher- und flüsternd gestoßene Holzbläserfarben gekennzeichnet ist.
An die Formenwelt des Eingangsstückes erinnern die Klavierfigurationen am Beginn der Roten Messe, die nach einer Generalpause jäh von den Auswürfen eines schwarzen Klangvulkans überschüttet wird. Das „grause Abendmahl“, die zerrissenen Priesterkleider, das Herz als „triefend rote Hostie“ - die abgründigen Bilder Girauds evozieren wütende Klänge.
Im scheinbar harmlosen, sich aber mehr und mehr überstürzenden Ton eines Kinder-Auszählreims handelt Schönberg hingegen das Galgenlied ab.
Auf dessen keß hüpfende Rhythmen folgt sogleich die furiose Enthauptung, die sich in ähnliche klangliche Abgründe stürzt wie die Rote Messe. Es sind die brutalsten Stücke des Zyklus, voll von wild gestikulierenden, expressiven Klängen, die des öfteren vom oppressiven Pianissimo unvermittelt zu schreiender Lautstärke anwachsen. Mit dem Ende des Gedichts aber, nach der Vision, in der der Mond als „blankes Türkenschwert“ auf den Hals des Pierrots herniedersaust, stimmen Flöte, Baßklarinette, Bratsche und Cello ein unheimlich-stilles Pastorale an.

Das Ende des zweiten Abschnitts des Pierrot Lunaire markieren Die Kreuze, die Schönberg deutlich in zwei Teile gliedert: heftig bewegt der eine, von einem durchwegs liegenden, schaurig-tiefen Flötenton durchzogen der andere, in dem sich stumm über den Dichtern, die mit den ersten Gedichtstrophen verblutet sind, die Sonne als „Rote Königskrone“ niedersinkt.
Im dritten und letzten Abschnitt der Melodramen beschreibt Schönberg einen resignativen Bogen vom Heimweh zum nostalgischen „alten Duft aus Märchenzeit“, der durchaus als symbolischer Gruß des Komponisten an vergangene Epochen seines künstlerischen Schaffens gedeutet werden kann.

Das Heimweh des Pierrot, das „lieblich klagende Seufzen aus Italiens alter Pantomime“, verlockt den Komponisten zu einer grandiosen Parodie auf sentimentalen Operettenkitsch, die sich immer weiter steigert, bis sie in jenem Moment in sich zusammenbricht, da des Pierrots Sehnsucht „durch des Lichtmeers Fluten kühn hinauf, empor zum Himmel“ schweift.

Mit brutal gestoßenen Tonrepetitionen und Begleitakkorden stürmt nach einer Überleitungsmusik die Gemeinheit daher, bevor die Parodie den zynisch-karikierenden Ton von Heimweh wieder aufnimmt. Die Verwendung der Piccoloflöte gibt den hektischen Tongespinsten einen luftigen, huschenden Ton, der sich - besonders lichtfüßig - im Mondfleck fortsetzt.

Die Serenade bringt den zweiten Walzer des Pierrot Lunaire, ein besonders zart und voll poetischer Kantilenen gesetztes Stück für Cello und Klavier, das die Suggestionen des Textes (Pierrot kratzt mit „groteskem Riesenbogen auf seiner Bratsche“) theatralisch in Musik verwandelt.

Ganz Poesie ist auch die sanft wiegende, über Pizzicati von Cello und Geige sich entfaltende Barcarole der Heimfahrt. Der Titel ist auch symbolisch zu verstehen: Immer intensiver nähert sich die Klänge vertrauten tonalen Beziehungsmustern an.

Terzengänge setzen sich durch, die zuletzt, in den Schlußtakten des letzten Melodrams sogar in eine ungeschminkte E-Dur-Passage der beiden Streichinstrumente münden dürfen: „O alter Duft aus Märchenzeit“.

Uraufführungs-Tournee

Albertine Zehme ging mit dem Pierrot Lunaire nach der Uraufführung sofort auf Tournee. Schönberg leitete einige dieser Konzerte (Hamburg, Dresden, Stettin, Breslau, Wien und Leipzig) und war an allen mit einem hohen Tantiemensatz beteiligt. Das hatte er sich an Stelle des ursprünglich angebotenen Honorars ausbedungen.

Hört Schönberg Fehler?

Bei einem der Konzerte kam es zu einem Fauxpas. Der Klarinettist Essberger vergaß vor dem Melodram Mondfleck das Instrument zu wechseln und spielte auf der A-, statt auf der (nur für dieses eine Stücke vorgesehenen) B-Klarinette, also einen Halbton versetzt. Der Musiker kam danach, wie Schönberg in einer Tagebucheintragung dokumentiert, um zu „beichten“, denn Schönberg hätte den Irrtum gar nicht bemerkt.

Wäre das an die Öffentlichkeit gedrungen, es hätte Gegnern der Neuen Musik Anlaß zu spöttischen Kommentaren gegeben: Der führende Komponist der Neutöner selbst könne „falsche“ nicht von „richtigen“ Dissonanzen unterscheiden.

Schönberg reagierte entsprechend verwirrt und beleidigt:
Möglich, aber es ist nicht erwiesen, daß ich es nicht doch bemerkt habe (stellenweise), und nur nicht die Courage hatte, so was auszusetzen, da man ja nicht an die Möglichkeit denkt, daß jemand ein ganzes Stück einen halben Ton tiefer spielt, sondern annimmt, man verhört sich. Aber für mich bemerkenswert, weil ich mich dadurch erinnere, wieso es kam, daß ich aus einem vertrauensseligen ein mißtrauischer Mensch geworden bin! Diese Tücke!

Ästhetische Konkordanz

Wache Geister hörten sofort das Neue, fühlten die „Luft von anderem Planten“, die Schönbergs Musik hier wirklich verströmt. Erstmals kommen in seinem Werk harmonische Öffnung, dramaturgische Aussage und formale Gestaltung mit der klanglichen Erscheinung der Komposition ganz zur Deckung.

Kaum je wieder sollte es auch Schönberg gelingen, seine Visionen so klar und ohne jede Anlehnung an mehr oder weniger passende historische Vorbilder umzusetzen.

Begeisterte Künstlerkollegen

Daß das auch Zeitgenossen fühlen konnten, beweist die Reaktion der Künstler Oskar Schlemmer und Albert Burger, die Pierrot Lunaire bei der Stuttgarter Aufführung im Rahmen der Urauffürungs-Tournee kennenlernten. Schlemmer hatte eben erst die Vorstellungen von seinemTriadischen Ballett notiert, das er mit dem Tänzer Burger realisieren wollte. Schönberg schien damals einer Zusammenarbeit mit diesen szenischen Innovatoren nicht abgeneigt.

Später, als sich der berühmte russische Tänzer Leonide Massine - offenbar angeregt von Darius Milhaud - für den Pierrot interessierte, das Werk aber ohne Sprechstimme seiner Choreographie unterlegen wollte, lehte er ab. An Alma Mahler schrieb er:
Ich habe gewiß bewiesen, daß ich kein Formalist der Besetzung bin, und daß ich eine Ide für transponierbar halte. Aber daß der Pierrot ohne Rezitation, aber mit Tanz aufgeführt werden soll, scheint mir doch zu weit zu gehen (...) Wenn Milhaud mich in Paris haben will, so bietet die Erwartung oder die glückliche Hand hiezu Gelegenheit.
Beide Musikdramen waren damals, 1922, noch unaufgeführt.



↑DA CAPO

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