Gustav Mahler und Arnold Schönberg


Wie der ältere Kollege dem "jungen Wilden" auf die Sprünge half
Zur Entstehungsgeschichte des Streichsextetts "Verklärte Nacht".

Alexander von Zemlinsky verbrachte die Sommerfrische gemeinsam mit seiner Schwester Mathilde, die ähnlich musikalisch begabt gewesen sein dürfte wie ihr Bruder. Sie galt als hervorragende Pianistin und kluge Gesprächspartnerin.
Arnold Schönberg, den Zemlinsky eine Zeitlang unterrichtete, hatte sich in Mathilde längst verliebt und im Gedanken an sie einige Lieder komponiert, vor allem jene auf die erotisierenden Textvorlagen Richard Dehmels. Nun wählte er dessen Gedicht Verklärte Nacht als Vorlage für ein großes, leidenschaftlich durchpulstes Kammermusik-Werk, dessen glutvoller Ton sich aus der wachsenden Zuneigung zu Mathilde erklärt, eine Zuneigung, die während des Payerbacher Sommers ihre Erfüllung gefunden haben dürfte.
Entsprechend hochgestimmt war Schönberg auch in künstlerischer Hinsicht. Das Sextett entstand in einem wahren Schaffensrausch innerhalb dreier Wochen. Im Winter legte der Komponist noch einmal Hand an das Stück. Die Partitur trägt das Enddatum 1. Dezember 1899.


Wie Mahler Schönberg entdeckte


Es war Gustav Mahler, dessen heute teilweise zum Film-Soundtrack depravierte Musik damals aber ebenfalls zur umstrittenen Avantgarde gehörte, der sich für das Stück des 14 Jahre jüngeren Zeitgenossen einsetzte, obwohl Schönberg damals eher Richard Strauss als Mahler für den führenden Meister seiner Zeit hielt und sich über die symphonischen Werke des Hofoperndirektors und Dirigenten abschätzig geäußert hatte.
Die Uraufführung der Verklärten Nacht musizierte das verstärkte Rose-Quartett, eine der angesehensten Kammermusik-Vereinigungen im Wien der Jahrhundertwende. Einem bis dato nicht beachteten Zeugnis des Musikkritikers Max Graf zufolge, lernte der philharmonische Konzertmeister und Quartett-Primarius Arnold Rose die Partitur der Verklärten Nacht durch seinen Schwager Gustav Mahler kennen.
Mahler wiederum war von Max Graf kurz zuvor auf Schönberg aufmerksam gemacht worden. Die Erstaufführung des D-Dur-Streichquartetts hatte Spuren hinterlassen: Graf schrieb als junger Kritiker eine hymnische Rezension, die in dem prophetischen Schlußsatz gipfelte: „Man soll sich seines Namens erinnern: Er heißt Arnold Schönberg.“
Der Komponist wurde nach Vollendung der Verklärten Nacht mit der Partitur bei Graf vorstellig.
"Die Musik klang neu", kommentierte der Kritiker, „die Harmonien schienen ungewöhnlich. Da ich über ein so gewagtes Werk nicht urteilen wollte, zeigte ich die Partitur Gustav Mahler. Er, der selbst ungewöhnliche Musik komponierte, mußte ungewöhnliche Musik verstehen, aber Mahler war in seinem Urteil ebenso schwankend wie ich selbst. In der Musik, die er nicht zu verstehen vorgab, war jedoch etwas, was ihn interessierte, und er bat Rosé, die Musik in seinem Direktionszimmer an einem der folgenden Nachtmittage zu spielen. Zu dieser privaten Aufführung lud er auch mich ein, und wir beide waren vom lebendigen Klang der poetischen und ausdrucksvollen Musik gepackt. Mahler sagte zu Rosé einige Male: ,Du mußt das in deinem nächsten Konzert spielen!‘ Und Rose spielte das Sextett in einem seiner nächsten Konzerte im Kleinen Musikvereinssaal zum Mißfallen des Publikkums, das laut zischte. Dieses Zischen wuchs in Wien und in anderen Städten in demselben Maße an, als Schönbergs Kühnheit wuchs.“

Probeaufführung in der Operndirektion

Auch wenn Mahler von Schönberg keineswegs rundweg angetan war, wie etliche Zeugnisse beweisen, fühlte er offenbar das Neue und Zwingende in Schönbergs Partitur. Anläßlich von Proben für die Wiederaufführung der Verklärten Nacht in den Räumen der Hofoper, die Rose als Konzertmeister auch für kammermusikalische Zwecke benutzen durfte, kam es 1903 zur ersten Begegnung der beiden Komponisten, die danach ständig Kontakt hielten und gemeinsam mit Zemlinsky eifrige Diskussionen pflegten, die nicht selten mit kleineren Zerwürfnissen endeten. Starrköpfigkeit zeichnete nicht nur Schönberg aus. Die liebevolle einem Walzertitel von Johann Strauß Vater entlehnte Bezeichnung „Eisele und Beisele“, die Mahler den beiden jüngeren Kollegen gab, täuscht ein wenig über die wahren Verhältnisse. Sowohl Schönberg als auch Zemlinsky verehrten Mahler zwar, wagten in musikalischen Dingen dennoch öfters zu widersprechen – und in ihren Argumentationen hart zu bleiben. Im übrigen war Schönbergs Zuneigung erst jüngeren Datums. Noch anläßlich der Wiener Erstaufführung der G-Dur-Symphonie Mahlers, 1902, soll Schönberg gegenüber Alma Schindler, die im selben Jahr Mahlers Frau werden sollte, gehöhnt haben: „Wie kann Mahler bei der Vierten etwas können, wo er doch schon bei der Ersten nichts gekonnt hat?“

Schönbergs Bekehrung

Erst eine Aufführung der Dritten im Dezember 1904 brachte die endgültige Bekehrung. Schönberg wurde zum glühenden Mahler-Anhänger, während ihm die Ästhetik eines Richard Strauss zunehmend fremder wurde. Seinen Zynismus und Widerspruchsgeist hat er sich bei aller Verehrung dem Älteren gegenüber bewahrt. Mahler verbat sich eines Tages auch weitere Besuche Schönbergs, wie Alma in ihren Erinnerungen erzählt. Die Aussperrung dauerte allerdings nicht lange, bald war das gute Einvernehmen wieder hergestellt.

„Ich pfeife auch bei ihren Symphonien“


Mahler war bereits anläßlich der Uraufführung der „Verklärten Nacht“ durch das Rosé-Quartett am 18. März 1902 im Musikverein in die lautstarken Streitigkeiten im Auditorium verstrickt, als er heftig die Partei Schönbergs ergriff. Es blieb nicht bei diesem einen Mal. Die Anekdote über den Tumult im Jahre 1905 anläßlich der Erstaufführung von Schönbergs d-Moll-Streichquartett, ebenfalls durch Rosé, ist legendär: Der Operndirektor hatte einen hemmungslos pfeifenden und protestierenden Hörer mit den Worten: ,,Sie haben nicht zu pfeifen“ zurechtgewiesen, worauf dieser replizierte: „Warum nicht, ich pfeife auch bei ihren Symphonien.“



ARNOLD SCHÖNBERG

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