Alban Bergs Schaffen
Jugendwerke
Zumindest sieben der Jugendlieder hat Berg später der Veröffentlichung für wert empfunden - und sie mit Klavierbegleitung, aber auch in einem Orchesterarrangement herausgebracht. Ganz der Spätromantik verhaftet können diese Siegen frühen Lieder Neugierigen unter den Musikfreunden den Zugang zur Wiener Moderne erleichtern. Viel von Alban Bergs späteren Stileigenheiten sind hier bereits vorgebildet, noch bleibt die Musik aber in den Regionen der Dur-Moll-Tonalität. Vor allem in der Orchesterfassung stehen die sieben Lieder an Klangsinnlichkeit und purer musikalischer Shönheit den besten Vokalwerken von Richard Strauss nichts nach! Jessye Norman hat ihre Stimme in diesen Liedern in aller Sinnlichkeit strömen lassen - Pierre Boulez, der sachliche Analytiker, gelang eine Orchesterbegleitung, die dem romantischen Anspruch der Musik durchaus auch gerecht wurde. Die Referenz-Aufnahmen
Die Liedtexte
Nacht [Carl Hauptmann]
Dämmern Wolken über Nacht und Thal,
Nebel schweben. Wasser rauschen sacht.
Nun entschleiert sich's mit einem Mal:
O gieb acht! gieb acht!
Weites Wunderland ist aufgethan,
Silbern ragen Berge traumhaft groß,
Stille Pfade silberlicht thalan
Aus verborg'nem Schoß.
Und die hehre Welt so traumhaft rein.
Stummer Buchenbaum am Wege steht
Schattenschwarz -- ein Hauch vom fernen Hain
Einsam leise geht.
Und aus tiefen Grundes Düsterheit
Blinken Lichter auf in stumme Nacht.
Trinke Seele! trinke Einsamkeit!
O gieb acht! gieb acht!
Schilflied [Nikolaus Lenau]
Auf geheimem Waldespfade
Schleich' ich gern im Abendschein
An das öde Schilfgestade,
Mädchen, und gedenke dein!
Wenn sich dann der Busch verdüstert,
Rauscht das Rohr geheimnisvoll,
Und es klaget und es flüstert,
Daß ich weinen, weinen soll.
Und ich mein', ich höre wehen
Leise deiner Stimme Klang,
Und im Weiher untergehen
Deinen lieblichen Gesang.
Die Nachtigall [Theodor Storm]
Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süssen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.
Sie war doch sonst ein wildes Kind,
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut
Und weiß nicht, was beginnen.
Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süssen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.
Traumgekrönt [R. M. Rilke]
Das war der Tag der weißen Chrysanthemen,
Mir bangte fast vor seiner Pracht...
Und dann, dann kamst du mir die Seele nehmen
Tief in der Nacht.
Mir war so bang, und du kamst lieb und leise,
Ich hatte grad im Traum an dich gedacht.
Du kamst, und leis' wie eine Märchenweise
Erklang die Nacht.
Im Zimmer [Johannes Schlaf]
Herbstsonnenschein.
Der liebe Abend blickt so still herein.
Ein Feuerlein rot
Knistert im Ofenloch und loht.
So, mein Kopf auf deinen Knie'n,
So ist mir gut.
Wenn mein Auge so in deinem ruht,
Wie leise die Minuten zieh'n.
Liebesode [Otto Erich Hartleben]
Im Arm der Liebe schliefen wir selig ein,
Am offnen Fenster lauschte der Sommerwind,
Und unsrer Atemzüge Frieden
Trug er hinaus in die helle Mondnacht. --
Und aus dem Garten tastete zagend sich
Ein Rosenduft an unserer Liebe Bett
Und gab uns wundervolle Träume,
Träume des Rausches -- so reich an Sehnsucht!
Sommertage [Paul Hohenberg]
Nun ziehen Tage über die Welt,
Gesandt aus blauer Ewigkeit,
Im Sommerwind verweht die Zeit.
Nun windet nächtens der Herr
Sternenkränze mit seliger Hand
Über Wander- und Wunderland.
O Herz, was kann in diesen Tagen
Dein hellstes Wanderlied denn sagen
Von deiner tiefen, tiefen Lust:
Im Wiesensang verstummt die Brust,
Nun schweigt das Wort, wo Bild um Bild
Zu dir zieht und dich ganz erfüllt.
Die Sonate op. 1
Vielleicht sind Sie schon fertig mit dem Stück?Tatsächlich beließ es Berg bei dem einen Satz in h-Moll.
Die Lieder op. 2
Texte
Schlafen, Schlafen, nichts als Schlafen!
Kein Erwachen, keinen Traum!
Jener Wehen, die mich trafen,
Leisestes Erinnern kaum,
Daß ich, wenn des Lebens Fülle
Niederklingt in meine Ruh',
Nur noch tiefer mich verhülle,
Fester zu die Augen tu!
Schlafend trägt man mich
in mein Heimatland.
Ferne komm' ich her,
über Gipfel, über Schlünde,
über ein dunkles Meer
in mein Heimatland.
Nun ich der Riesen Stärksten überwand,
Mich aus dem dunkelsten Land heimfand
an einer weißen Märchenhand -
Hallen schwer die Glocken.
Und ich wanke durch die Straßen
schlafbefangen.
Warm die Lüfte,
es sprießt Gras auf sonnigen Wiesen.
Horch!--
Horch, es flötet die Nachtigall...
Ich will singen:
Droben hoch im düstern Bergforst,
es schmilzt und sickert kalter Schnee,
ein Mädchen im grauen Kleide
lehnt am feuchten Eichstamm,
krank sind ihre zarten Wangen,
die grauen Augen fiebern
durch Düsterriesenstämme.
"Er kommt noch nicht. Er läßt mich warten"...
Stirb!
Der Eine stirbt, daneben der Andere lebt:
Das macht die Welt so tiefschön.
Quartett op. 3
Das Werk gilt Kennern bis heute als eines der kühnsten Experimente der Wiener Avantgarde. Berg selbst war darauf besonders stolz. Vom Festival für Neue Musik in Salzburg schreibt er 1923 an seine Frau:
Alles ist paff, daß das Quartett 13 1/2 Jahre alt ist.Die Salzburger Einstudierung durch das junge Havemann-Quartett (Berg: »vier blonde, lustige, sehr begeisterte und eifrige Musiker«) war so etwas wie der Durchbruch für Opus 3 - zuvor hatten Aufführungen in Wien stattgefunden, die wenig Nachwirkungen zeitigten.
Nicht nur die (letzendliche) Zweisätzigkeit des Quartetts hat den Kommentatoren Rätsel aufgegeben. Überhaupt finden auch Apologeten der Musik der Wiener Schule - allen voran Hans Ferdinand Redlich oder Theodor W. Adorno - zu höchst unterschiedlichen analytischen Ergebnissen.
Zweifelsfrei steht fest, daß es sich beim ersten Satz um ein Adagio, beim zweiten um ein (Schluß-)Rondo handelt - und vor allem, daß die beiden Sätze durch enge thematische Verwandtschaften und Zitate miteinander innig verbunden sind. Redlich nennt etwa die ersten beiden Sätze von Gustav Mahlers Fünfter Symphonie als mögliches Vorbild für eine solche Struktur: Sie bilden miteinander quasi den ersten Symphonie-Satz (oder, wie Mahler schreibt: die erste »Abtheilung«) der Symphonie. Nimmt man die beiden Sätze von Bergs Quartett also als Einheit, käme dem Auftreten der Themen aus dem Adagio im Rondo »Durchführungscharakter« zu und von vielen Kommentatoren für den ersten Satz allein postulierte Sonatensatzform würde sich auf das gesamte Quartett ausdehnen. Jedenfalls gehört Bergs Quartett zu den kühnsten Anverwandlungen klassischer Formprinzipien in der musikalischen Moderne und hat seine diesbezügliche Kraft - wie auch sein Verstörungspotential - auch nach 100 Jahren nicht verloren.
Schönberg dachte noch Jahrzehnte später in einer Notiz, die er ein Jahr nach Bergs Tod verfaßte, an das Streichquartett als ein zentrales Werk seines Schüler aus der Phase ihrer Wiener Verbindung:
I cannot remember what he worked on with me afterwards. Others can report more reliably on this point. One thing is sure: his String Quartet (Opus 3) surprised me in the most unbelievable way by the fullness and unconstraint of its musical language, the strength and sureness of its presentation, its careful working and significant originality ...
Die Altenberg-Lieder
Besonders gereizt hat das Publikum damals vermutlich die scheinbare Diskrepanz zwischen der Kürze der einzelnen Lieder und der riesigen Orchesterbesetzung des Werks. Freilich wird in den beiden ausgedehnteren Liedern, die den Zyklus einrahmen, rasch deutlich, daß Berg dieses riesige Instrumentaensemble in raffiniertester Weise auffächert, um damit ungeahnte koloristische Effekte zu erzielen. Die Schilderung des Schneesturms, mit dem Lied Nr. 1 anhebt, gehört zu den beeindruckendsten orchestralen Instrumentationskunststücken der musikalischen Moderne: man meint, jede einzelne Schneeflocke sehen (bzw. hören) zu können. Berg als Meister kleinster Übergänge und nahtloser Verbindungen führt dann auch die Singstimme mit einem quasi instrumentalen Effekt ein: Die ersten Töne werden gesummt, ehe Altenbergs Text gesungen wird.
Lied Nr. 5, das eine äußerst emotionale, dramatisch aufgebutschte Steigerung enthält, bindet Berg formal durch die strengen Regeln einer Passacaglia, eine Technik die er später auch im Wozzeck wieder anwenden wird.
Den äußersten Kontrast zu solchen aufwendigen Klang-Inszenierungen bilden die drei mittleren Lieder, deren Farbauftrag minimalistisch ist und die von der reichen Orchesterpalette jeweils nur einen kleinen Teil des Spektrums nützen.
Altenbergs Ansichtskartentexte
I.
Seele, wie bist du schöner, tiefer, nach Schneestürmen.
Auch du hast sie, gleich der Natur.
Und über beiden liegt noch ein trüber Hauch,
eh' das Gewölk sich verzog!
II.
Sahst du nach dem Gewitterregen den Wald?
Alles rastet, blinkt und ist schöner als zuvor.
Siehe, Fraue, auch du brauchst Gewitterregen!
III.
Über die Grenzen des All blicktest du sinnend hinaus;
Hattest nie Sorge um Hof und Haus!
Leben und Traum vom Leben, plötzlich ist alles aus - - -.
Über die Grenzen des All blickst du noch sinnend hinaus!
IV.
Nichts ist gekommen, nichts wird kommen für meine Seele.
Ich habe gewartet, gewartet, oh - gewartet!
Die Tage werden dahinschleichen, und umsonst wehen
meine aschblonden seidenen Haare um mein bleiches Antlitz!
V.
Hier ist Friede. Hier weine ich mich aus über alles!
Hier löst sich mein unfaßbares, unermeßliches Leid,
das mir die Seele verbrennt ...
Siehe, hier sind keine Menschen, keine Ansiedlungen.
Hier ist Friede! Hier tropft Schnee leise in Wasserlachen ...
Klarinettenstücke op. 5
Drei Stücke op 6
Wozzeck
Inhalt
Musikalische Form
Libretto
Das »Kammerkonzert«
2. Adagio
3. Rondo ritmico con introduzione
In dem Brief, mit dem Berg das Kammerkonzert - schon der Titel eine Anleihe bei Schönbergs stilbildender Kammersymphonie - dem Lehrer zueignet, gibt der »Schüler« viele Geheimnisse seiner strukturellen Arbeit preis. Vor allem ist das Werk von starker Zahlensymbolik geprägt: Die Zahl 3 durchdringt dies gesamte Komposition, die aus drei Sätzen besteht, mit Themen arbeitet, die den drei Komponisten der Neuen Wiener Schule zugeordnet sind, ist für drei Instrumenten-Familien gesetzt: eine Geige, ein Klavier und Bläser.
Dem ersten Satz ist ein Motto vorangestellt, das die Worte
Aller guten Dinge sindund die drei musikalischen Motive enthält, die für die Komponisten-Trias steht:
Die ersten beiden Sätze sind jeweils Konzertsätze für einen der beiden Solisten - wobei der andere Solist (im ersten Satz die Geige, im zweiten das Klavier) nur jeweils für einen Moment mit einem dramaturgisch motivierten Einwurf zum Zug kommt.
Dem dritten Satz geht eine Introduktion der beiden Solosinstrumente voraus, wie in der Oper ein Rezitativ vor dem großen Duett, das dann im Finale beide Solisten und die Bläser vereint und auch von der musikalischen Konstruktion her einen Akt der Multiplikation der beiden vorangegangen Sätze darstellt.
Mit Arnold Schönbergs Zwölftonmethode setzt Berg sich zum zeitpunkt der kompostion des Kammerkonzerts bereits intensiv auseinander, nutzt in diesem Werk allerdings nur die Möglichkeiten von Umkehrung und Krebsgang des Themenmaterials. Noch sind die Themen nicht zwölftönig.
1. Thema scherzoso con variazioni
Die Dominanz der Zahl 3 bei der rormalen Organisation des Kammerkonzerts findet sich auch in Details wie der Dreiteilung des Variationsthemas im ersten Satz: Jeder der drei Abschnitte ist im Tempo deutlich vom vorhergehenden Abschnitt unterschieden.Eine Dreiteilung findet im ersten Satz auch insofern statt, als Berg die Variationsform mit dem klassischen »Sonatensatz« verquickt: So entsprechend Thema und Variation I der »Exposition«, die Variationen 2 bis 4 der »Durchführung«, während mit Variation 5 die »Reprise« einsetzt.
1. Adagio
Wie eine sanfte Überblendung bei einer Foto-Präsentation schiebt sich hinter die verklingende Coda des Kopfsatzes der Beginn des Adagios. Violine und Blechbläser beginnen mit ihrer Musik, während die Variationen noch gar nicht ganz zu Ende gekommen sind.In diesem Adagio wendet Berg einen Kunstgriff an, den er auch im ersten Scherzo der Lyrischen Suite oder in der Verwandlungsmusik im zweiten Akt der Oper Lulu nutzt: Er »spiegelt« die Musik genau in der Mitte und läßt sich im Krebsgang quasi zurücklaufen. Der Moment der »Umkehr« wird durch den unmerklichen Einsatz des Klaviers mariert, das ganz leise zwölf »Glockenschläge« auf dem Kontra-Cis spielt.
3. Rondo ritmico con introduzione
Das abschließnde Rondo ritmico bildet dann wirklich eine raffinierte Melange aus den ersten beiden Sätzen, deren Klänge Berg sozusagen »addiert«, ein handwerklicher Drahtseilakt von unerhörter Kunstfertigkeit - und einzigartig in der Musikgeschichte: Alle Elemente der ersten beiden Sätze finden sich hier wieder, rhythmisch meist stark verändert, oft übereinandergeschachtelt, manchmal nebeneinander gestellt. Konstruktiver, komplexer hat selbst Alban Berg nie zuvor und nie danach gearbeitet.Der Hang zum Zahlenmystizismus hat Berg sogar dazu verleitet, in diesem Finalsatz eine Wiederholung vorzusehen, damit die Zahlenspekulationen, die sich an die Taktzahlen der einzelnen Sätze knüpfen aufgehen. Das hat zu Kritik von wohlmeinenden Exegeten geführt: Pierre Boulez etwa, der den Hut zieht vor dem »strengsten Werk, das Berg je geschrieben hat«, stößt sich an der wörtlichen Wiederkehr eines ganzen Abschnitts der Komposition die doch im übrigen »dem Prinzip der beständigen Variation« gehorcht.
Der Dramatiker Berg verrät sich am Ende des Kammerkonzerts, wenn die einzelnen Elemente der verklingenden Musik durch immer längere Pausen voneinander getrennt werden, bis der abschließende Klavierklang ganz erloschen ist.
Die »Lyrische Suite«
Musikalische Erotik
Bekenntnishaft ist jedes Werk von Alban Berg. Doch die Lyrische Suite birgt das Protokoll einer erotischen Leidenschaft, die geheim bleiben mußte, sich aber künstlerisch doch Luft verschaffte: Inmitten des sechsätzigen Streichquartetts steht ein Adagio, das ganz unverkennbar die Begegnung eines Mannes und einer Frau in Tönen widerspiegelt: Seit der Auffindung eines Partitur-Exemplars mit minutiösen handschriftlichen Anmerkungen des Komponisten ist auch offenbar geworden, daß es sich bei dem Liebespaar um Alban Berg und Hann Fuchs-Robettin handelt. Die beiden verband eine kurze, aber offenbar äußerst leidenschaftliche Romanze anläßlich eines der Besuche des Komponisten in Prag.Beim Ehepaar Fuchs war Berg auf seinen Reisen des öfteren zu Gast gewesen. Alma Mahler hatte den Kontakt vermittelt. Als Berg 1925 zur Aufführung seiner Wozzeck-Bruchstücke beim Internationalen Musikfest nach Prag kam, wohnte er bei Fuchs. Die luxuriöse Lebenshaltung beeindruckte den Komponisten sehr. An seine Frau schreibt er nach Wien:
Abends 10 Uhr mit Fuchsens genachtmahlt (zuhaus). Der hat den herrlichsten Wein von der Welt.Einige Monate später, auf der Durchreise nach Berlin zu den Proben für die Wozzeck-Uraufführung in Berlin heißt es erneut über den Aufenthalt in Prag:
Dann nachtmahl: Hummer-Eier, Rebhühner mit Erdäpfel und Koptt, Käs, Obst - Und ein unerhörter Wein!
Bei diesen Prag-Aufenthalten kam es zu einer innigen Annäherung Bergs an Hanna. Sie war die jüngere Schwester Franz Werfels, dessen Frau Alma bald als Zwischenträgerin für die Liebespost des geheimen Paars fungierte. Was sich schriftlich nur in einigen wenigen versiegelten Briefen äußern durfte, wird in der Musik zum Ereignis.
Die Lyrische Suite schildert das Aufblühen einer Liebe - vom unschuldig »schlendernden« Beginn der Erstbegegnung im Allegretto gioviale über die Verzauberung in einem Andante amoroso bis hin zur exuberanten Liebesszene des Adagio appassionato.
Bergs Anmerkung zum Adagio im privaten Exemplar von Hanna Fuchs
Die Verzweiflung über die letztlich aussichtslose Hoffnung auf Erfüllung der Liebe äußert sich in abschließenden Largo desolato, in dem sich durch die Instrumentalstimmen eine Vertonung von Charles Baudelaires Gedicht »De profundis clamavi« zieht - zuletzt wiederholt die Bratsche bis zum absoluten Verstummen die immergleichen zwei Töne.
Im Mai sind's fünf Jahre! Welch ein fürchterliches Diminuendo in dieser Zeit: nichts ist mehr geblieben als - meine Liebe...
Die »Tragödie«
In dem Partitur-Exemplar, das Berg Hanna Fuchs mit genauen Anmerkungen übersandt hat, beschreibt er das Werk - bzw. die in diesem Werk geschilderten Begebenheiten - ausdrücklich als Tragödie. Er gibt außerdem einen bemerkenswerten Einblick in seine harmonisches Denken, das etwa trotz der Zwölfton-Faktur des ersten Satzes deutlich auf die Tonarten von (H)anna (F)Fuchs - H-Dur und F-Dur - bezogen ist, was Berg akribisch von Seite zu Seite belegt. An den Beginn setzt er die Bemerkung:Dieser erste Satz, dessen fast belangloses Stimmung die folgende Tragödie nicht ahnen läßt, streift immerwährend die Tonarten H- und F-Dur. Auch das Hauptthema (die dem ganzen Quartett zugrundeliegende 12-Tonreihe) wird von Deinen Buchstaben F..H umschlossen
Die Sätze III und V sind Scherzo-Sätze, deren erstes ein heimliches Liebesgeflüster des Paares nachzeichnet, das ein leidenschaftlich aufbegehrendes Trio umrahmt und deren zweites wütende Attacken mit einem zentralen Misterioso-Abschnitt verbindet, in dem sich der Klang zu entmaterialisieren scheint.
Für die eindeutige Konnotation der inhaltlichen Ausdruckskraft der Musik steht unter anderem auch ein unmißverständliches Zitat aus Alexander von Zemlinskys Lyrischer Symphonie (deren Titel inspirierend für Bergs Quartett gewirkt hat):
Aus wird bei Berg:
Doch zähmt Alban Berg sein exzessives Programm durch äußerste Konzentration der kompositorischen Arbeit. Erstmals in seinem Schaffen schreibt er zumindest Teile der Komposition nach dem Muster der Schönbergschen »Zwölftonmethode«.
Schönberg gegenüber offenbarte er folgendes Schema:
1. Satz 12-tönigBergs Zwölftonreihe ist freilich aus zwei klar tonal zuzuordnenden Teilen zusammengesetzt:
2. Satz frei (a)tonal
3. SatzScherzoteil: 12-tönig Trio: frei
4. Satz frei
5. SatzScherzoteil: frei Trio: 12-tönig
6. Satz 12-tönig
Der Text zum Largo desolato
Zu dir, du einzig teure, dringt mein schrei
Aus tiefster schlucht, darin mein herz gefallen.
Dort ist die gegend tot, die luft wie blei.
Und in dem finstern fluch und schrecken wallen.
Sechs monde steht die sonne ohne warm.
In sechsen lagert das dunkel auf der erde.
Sogar nicht das polarland ist so arm.
Nicht einmal bach und baum noch feld noch herde.
Erreicht doch keine schreckgeburt des hirnes
Das kalte grausen dieses eis-gestirnes
Und dieser nacht o ein chaos riesengross !
Ich neide des gemeinsten tieres los
Das tauchen kann in stumpfen schlafes schwindel...
So langsam rollt sich ab der zeiten spindel!
Übers.: Stefan George
Komponist am Scheideweg
Für Alban Berg bedeutete die Arbeit an der Lyrischen Suite einen entcheidenden Schritt in seinem Komponistenleben, manifestiert sich hier doch erstmals sein Bemühen, die Zwölftön-Methode seines Lehrers Schönbeg für sich zu adaptieren. An Schönberg schreibt er während des Entstehungsprozesses über seine Überzeugung, daß der Zwölftonmethode die Zukunft gehören würde - eine Zukunft, die nichts mit dem zu tun haben würde, was bei Festivals wie jenen, die die Gesellschaft für Neue Musik damals organisierte, worüber sich Berg mit einem nicht ganz stubenreinen Wortwitz lustig macht:Es wird, wie ich Dir, glaub' ich, schon einmal gesagt habe, eine Suite für Streichquartett u. zwar 6 Sätze mehr lyrischen Charakters: Allegretto, Andante, Allegro, Adagio, Presto, Largo. Im Herbst hoffe ich es bestimmt fertig zu haben. Über die Erfahrungen, die ich bei der Arbeit daran (... auch früher schon) mit der »Komposition mit 12 Tönen« machte, hab' ich mir erlaubt, Dir auf beiliegendem Notenblatt einiges zu berichten. Langsam komm auch ich in diese Schreibweise hinein, was mir eine große Beruhigung ist. Denn es hätte mich furchtbar geschmerzt, wenn mir die Möglichkeit, mich solcherart musikalisch auszudrücken, versagt gewesen wäre. Weiß ich doch, abgesehen vom persönlichen Ehrgeiz (u. Idealismus), daß man nur mehr so wird komponieren KÖNNEN, wenn das sonstige gesamte Gedudel der I.G.f.l.M.(i.A.) - verzeih den ordinären Witz! - längst schon versunken sein wird.
Uraufführung
Die erste Aufführung des neuen Streichquartetts musizierte das Kolisch-Quartett. Alban Berg war bei den Proben anwesend und schreibt begeistert über den Arbeitsfortschritt an Arnold Schönberg:Ich hatte jetzt infolge der Proben mit dem Kolischquartett (es werden wohl ein Dutzend gewesen sein!) sehr bewegte, aber auch sehr schöne Tage. Es war für mich aufregend und spannend zu sehen, wie diese Musik, die für's erste in den Proben überhaupt wie keine anmutete, nach u. nach Sinn bekam, zu klingen begann, bis dann plötzlich in den letzten Proben, das Ganze so dastand, wie es gemeint war um bei der Aufführung eine Stufe der Darstellung zu erreichen, die für's erste (d. h. für eine Uraufführung) in Anbetracht der kurzen Probenzeit niemand, auch Kolisch selbst u. ich nicht, erwartete. Dieser ganz selbstverständlichen, Souveränen Darstellung war es auch zu danken, daß es einen so großen Erfolg hatte: Vom 2. Satz an wurde nach jedem Satz applaudiert. Nun hab' ich nur mehr den Wunsch, daß Du das Quartett kennen lernen mögest! (Spieldauer 30-35 Minuten)...
In den nächsten Tagen bereite ich mein Quartett für den Stich vor.
»Der Wein«
eine Arie oder Kantate im modernen Stil, so wie Mozart so viele hatte.
Die Arbeit an der Arie riß Berg zwar aus der Beschäftigung mit seiner Oper Lulu, fungierte gleichzeitig aber als guter Test für die Einbindung der Zwölfton-Methode in Musik für Gesang und Orchester. Die Klangwelt der Lulu entfaltet sich in der Konzertarie bereits in aller leuchtenden Farbenpracht.
In einem Brief an seine »geheime« Geliebte Hanna Fuchs offenbart Berg, daß es sich - wie beim Streichquartett Lyrische Suite auch bei Der Wein um eine geheime Liebesbotschaft handelt.
Und auch,w enn ich - wie heuer im Sommer - den Wein besang: Wen anders geht es an als Dich, Hanna, wenn ich (im »Wein der Liebenden«) sagte: »Laß Schwester uns Brust an Brust flieh'n ohne Rast und Stand In meiner Träume Land« --- und diese Worte im leisesten Zusammenklang von H- und F-dur verklingen! - Was dann folgt, kann ja nur mehr das Lied sein vom Wein des Einsamen. Ja der bin ich und bleib ich, aber auch als der: ganz und ewig Dein...
Der Text zur Arie stammt von Charles Baudelaire in der Übersetzung von Stefan George. Berg wählte aus dem Kapitel Le Vin aus den berühmt-berüchtigten Fleurs du mal drei der fünf Gedichte aus, ordnete sie neu an und vertonte sie in einem dreiteiligen, pausenlosen großen Satz. Das Werk entstand in einer für Berg erstaunlich kurzen Frist zwischen Mai und Juli 1929 - wohl um die Arbeit an Lulu nicht allzu lange unterbrechen zu müssen.
Die Uraufführung fand am 5. JUni 1930 anäßlich des 60. Tonkünstlerfestes des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Königsberg.
Abgesehen von der Lulu-Suite war das die letzte Uraufführung eines eigenen Werks, die Berg erleben durfte.
Lulu
Inhalt
Musikalische Form
Libretto
Das Violinkonzert
Der formale Aufbau ist wie die dramaturgische (Erzähl-)Struktur des Werks leicht überschaubar und verständlich. Das - und die immer wiederkehrenden Passagen, die Assoziationen zur tonalen Musik ermöglichen - am Schluß des ersten Teils zitiert Berg sogar ein Kärntner Volkslied - haben das Violinkonzert zum populärsten Stück der Zwölfton-Literatur werden lassen. Die Schönbergsche Methode wendet Berg nach seinen Erfahrungen mit der Lyrischen Suite, der Wein-Arie und Lulu mit virtuoser Freizügigkeit an.
Der im Untertitel angesprochene Engel ist Manon Gropius, die Tochter Alma Mahlers aus der Ehe mit dem Bauhaus-Architekten Walter Gropius, die 1935 noch als Teenager nach schrecklichen Leiden an Kinderlähmung starb. Berg setzte Manon in diesem Konzert, das gleichzeitig sein »Requiem« werden sollte, ein tönendes Denkmal. Gewiß hat die Nachricht vom Tod Manons am 11. April 1935 die Arbeit an dem Werk entscheidend beeinflußt. Erste Skizzen waren zwar bereits in März enstanden, kurz nachdem Krasner den Auftrag erteilt hatte, doch besteht kein Zweifel, daß mit der programmatischen »Inspiration« der Musik auch die musikalische Form entscheidend geprägt wurde.
Aufbau und »Programm«
I.
- Andante
- Allegretto
II.
- Allegro
- Adagio
Bergs Studienkollege Anton von Webern, der als Dirigent für die posthume Uraufführung des Violinkonzerts beim Festival für neue Musik in Barcelona, 1936, ausersehen war, scheint vielleicht auch wegen der unverhohlen traditionsgebundenen Assiziationen in Bergs Musik - die Behandlung der Zwölftonmethode steht in diametralem Gegensatz zu Weberns Verständnis von Schönbergs System - seine liebe Not mit der Musik des Kollegen gehabt zu haben. Er sagte kurz vor dem Konzert ab und wurde durch Hermann Scherchen ersetzt, dem damit die Ehre zukam, eines der erfolgreichsten Werke der sogenannten Wiener Schule aus der Taufe gehoben zu haben: Louis Krasner, der das Violinkonzert in Auftrag gegeben hatte, spielte den Solopart.
Die deutlichste, präziseste Realisierung der ungemein differenzierten Partitur stammt von Salvatore Accardo und dem Südwestfunkorchester unter Ernest Bour, der im Orchester für extreme rhythmische Genauigkeit und vor allem für eine klangliche Abstimmung, genau Bergs akribischen dynamischen Angaben sorgt. Bei dieser analytischen Spielweise gehen glücklicherweise auch Details wie die Anspielungen auf Walzer- oder Ländlerton und dergleichen nicht verloren. Fein modellierte Übergänge wie das unmerkliche »Herausapern« des Bach-Chorals im Wechsel zwischen dem katastrophischen 3. und dem tröstlichen 4. Satz sind im Studio kaum jemals so überzeugend realisiert worden.