ERICH WOLFGANG KORNGOLD

VON RICHARD SPECHT

Publiziert zum 30. Geburtstag des komponisten in der Zeitschrift »Die Musik« (1927)

 Er wird erst in einigen Monaten dreißig.
Die »tote Stadt« hat noch immer nicht die fünfzigste Bühne überschritten; erst die siebenundvierzigste. Die neue Oper wird erst im nächsten Herbst aufgeführt werden.

Und die Suite »Viel Lärm um Nichts« hat längst ihre hundertste Aufführung erlebt; ich habe die Gelegenheit verpaßt und stehe nun ganz verdonnert da, wenn mich jemand fragt, aus welchem »Anlaß« ich just heute über einen der elementarsten Musiker ewesen, des Tags, an dem vor 15 Jahren ein paar schmale grüne Hefte in meine Hände kamen: eine bezaubernd kindliche, hinreißend anmutige Pantomime, Der Schneemann; eine Sonate mit einem erstaunlichen Variationenfinale in Passacagliaform; ein Zyklus unglaublich kecker, zeichnerisch drastischer Klavierstücke, unter dem Titel »Don Quixote« vereinigt, ein Bilderbuch in Tönen von einer Prägnanz der karikaturistischen Kontur, einer Schärfe des thematischen Ausdrucks, einer Einheitlichkeit des konstruktiven und einer ganz persönlichen, künstlerisch logischen und dabei jungenhaft frischen und übermütigen Harmonik, daß diese knappen Arbeiten einen unentrinnbaren Eindruck weckten.

So zukunftsfroh, so gegenwartkräftig und so eigen, daß jeder Unbefangene, der Ohren hatte zu hören und dem die Empfindung für neuen Wert nicht verschlossen war, sagen mußte: hier ist ein Genie.

Es hat es auch jeder gesagt. Von Richard Strauß und Gustav Mahler angefangen bis zu Nikisch und Weingartner. Alle wahrhaften Musiker, denen diese Privatdrucke zugänglich gemacht worden waren, bekannten ihr Staunen und ihre Ergriffenheit vor dem andächtig stimmenden Wunder einer Manifestation des Musikgeistes in einer Kinderseele, die kaum ahnen mochte, daß all diese vom Spieltrieb bewirkten kleinen Stücke das Zeichen des Schöpferischen und die Gewähr früher Meisterschaft trugen.

Die Kritik sagte das gleiche aus, bekräftigte es durch den heulenden Widerspruch gewisser Parteileute ebenso wie durch die enthusiastische Freude, endlich wieder eine geniale Begabung grüßen zu dürfen. Dieser Enthusiasmus wäre noch lauter und wäre ungehemmt gewesen, wenn Erich Korngold der Sohn irgendeines Vorstadtschusters und nicht der des einflußreichen Kritikers einer großen Tageszeitung gewesen wäre: man scheute vor der Mißdeutung einer Schönfärberei oder gar Austrommelei aus Gefälligkeit, vielleicht gar aus Liebedienerei gegen den Kollegen zurück und sordinierte den Ton, der sonst noch ganz anders jubelnd eine Erscheinung von solch seltener Art angekündigt hätte.

Daß jene Mißdeutung trotz alledem erfolgte, rührt an das unerfreulichste Kapitel im Leben des jungen Tondichters. Es soll nur kurz gestreift werden. Zu sagen ist: daß feigerweise an ihm vergolten wurde, was man an Dr. Julius Korngold rächen wollte, daß während langer Jahre Verdächtigungen, Gehässigkeiten, Tatsachenfälschungen die Begleiterscheinungen jeder Neuaufführung einer Arbeit des begnadeten Kindes und des jungen Meisters bedeuteten; man wollte den Vater im Sohne treffen. Freilich begab sich dieses abscheuliche Schauspiel nur in der Heimat und in Deutschland. Dort, wohin die Kritik der Neuen Freien Presse nur mehr als Ton aus der Ferne drang und wo all diese kleinlichen Racheakte und ihre Anlässe vollkommen unverständlich gewesen wären, ist Erich Korngolds Erscheinung von Anbeginn an als die starke und freudenweckende erkannt und geehrt worden, die sie war: als die stärkste Hoffnung der neuen Musik, die jetzt immer mehr der Erfüllung entgegenreift.

Ihm selbst mag, bei erwachender Erkenntnis all jener beschämenden und desillusionierenden Häßlichkeiten manche bittere Stunde durch sie bereitet worden sein; aber er ließ sich's nicht anfechten und überließ sich ganz und gar seinem Schaffen. Er ist kein Vielschreiber, liefert weder Opern noch Sinfonien im Dutzend, ist der gewissensvollste Architekt in Tönen, läßt keinen Takt stehen, den er nicht verantworten kann, und ist in alledem eine Besonderheit: denn die brennende Leidenschaft seines Musizierens, sein Überschwang, sein manchmal zu Hypertrophien verleitendes Temperament, der heftige Blutschlag seines Rhythmus all das ist so elementar, ist derartig vulkanisch, daß die Selbstzucht seiner Arbeit um so bewunderungswürdiger ist. Er ist heute der Glühendste unter so vielen Kühlen und Intellektuellen.

Und er bietet das schönste Schauspiel gerade dann, wenn man in Sorge um ihn ist, weil sich sein ungestümes Temperament, das sich des strömenden melodischen Einfalls beglückenderweise noch nicht zu schämen gelernt hat, sondern sich verschwendet, manchmal allzu unbedenklich an grelle Theaterwirkung zu verlieren schien, wenn auch an eine, die sein wilder Impetus und seine inspirierte Lyrik immer wieder künstlerisch erhöhen.

Aber gerade nach Werken von energischem Operngriff entflieht er dann immer in die reinen und sublimeren Welten der Kammermusik, schafft bezaubernd feine und aparte Sätze von wahrer Anmut und voll heimatlichen Dufts, eigenwillig sinfonisch aufgebaute Lieder, entzückend heitere und geistreiche Stücke wie die berühmte Musik zu »Viel Lärm um Nichts« und beweist immer wieder, daß es ihm nicht um die Konkurrenz auf dem Musikmarkt geht und einzig darum, der gesegneten Stunde gehorsam zu sein.

Von dem Mirakel seiner Entwicklung, von der Fülle und Reife seiner frühen Arbeiten bis zu den beklemmend reichen dramatischen Werken sei nur in knapper Andeutung gesprochen: heute gilt nicht mehr das Wunderkind und sein Mysterium und nur mehr das Werk, das der bald Dreißigjährige gelten läßt und ergänzt. Nach jenen kleinen Klaviersachen kam das unheimlich geniale Trio op. I, das ich in der jungen Herbheit der Thematik, in ihrer Plastik und ihrer (nur hie und da abreißenden) Entwicklung und Einheitlichkeit, aber auch in der absonderlich kühnen Harmonik des Elfjährigen, in der sich auffallende atonale und lineare Züge finden, heute noch für eines seiner stärksten Werke halte. Damals war es eine Überwältigung.

Es war das erste Werk des Knaben, das öffentlich aufgeführt wurde (nach monatelangem Sichwehren und Abmahnen des Vaters), und es weckte einen Sturm; eine neue Sprache war hier laut geworden, die Sprache einer Jugend, die mit Strauß und Mahler aufgewachsen war und dort einsetzte, wo diese Meister hielten, aber die doch von Brahms herkam und durch diese Tradition davor bewahrt blieb, sich allzu ungezügelt dem Neuen und Fremdartigen entgegenzuwerfen. Es kam die Wiener Aufführung der reizenden, zunächst für Klavier komponierten »Schneemann«-Pantomime, die seither über 27 Bühnen gegangen ist: zuerst in Alexander Zemlinskys Instrumentierung, dann in der orchestralen Umarbeitung des jungen Tondichters. Es kamen die frappierend erfundenen, phantastisch funkelnden »Märchenbilder« für Klavier, die großartige Klaviersonate in E-dur, deren Adagio zu einer Höhe führt, eine Ergriffenheit ausatmet und durch eine Größe der Stimmung und der ernsten Melodik geweiht ist, die das Stück zu einem der herrlichsten Nachbrucknersehen langsamen Sätze machen (nebenbei durch das Besondere einer gleichsam »unterirdischen« Reprise fesselnd, die dann in überirdischer Verzücktheit ausklingt); es kam die viel sprödere, noch heute nicht leicht zugängliche Geigensonate, kam die Schauspielouvertüre und mit ihr das erste orchestrale Gesellenund Meisterstück des Vierzehnjährigen, der hier seine dramatisch lebensvolle und drängende Musik so völlig instrumental erfunden und ihr ein sprühendes, farbiges Klangleben von eigenartigstem Zauber gegeben hat; und es sei hier gleich vorweggenommen, daß diesen Orchesterund Kammerwerken im Laufe der Zeit eine Reihe anderer folgten: die köstliche, herzensfrohe, glanzvoll organisch gebaute Sinfonietta, die wohl etwas künstliche und überladene, höchst interessante, aber fast allzu virtuos konstruierte .Sursum corda«-Ouvertüre, das Klavierquartett und -quintett, denen das Juwel in dieser Kammermusik voranging: das wunderbar jugendvolle, wienerisch geistreiche und gemütswarme Sextett (mit einem Intermezzo, in dem alle guten Geister des Wiener WaIds zu leben und zu singen scheinen) ein Stück, das nur noch in der Lustspieloper und der schon erwähnten, hinreißend heiteren und vergeistigten Komödienmusik zu »Viel Lärm um Nichts « ein Seitenstück in Korngolds Schaffen hat.

Vor allem aber: es kamen die beiden Operneinakter des noch nicht dem Knabenalter Entwachsenen; die tragische »Violanta« des Siebzehnjährigen, die von Anmut und Laune strahlende, jede Szene zu sinfonischer Geschlossenheit zusammenfassende komische Oper »Der Ring des Polykrates« des Sechzehnjährigen, der sich mit diesen beiden Werken in die erste Reihe der Tondramatiker von heute gestellt hat. Kein Geringerer als Richard Strauß hat die erstaunliche Schlagkraft des Jünglings mit den Worten anerkannt, daß hier der einzige unter den jüngeren sei, der das echte dramatische Theatertalent sein Eigen nennt: »Erich Wolfgang Korngold der hat's. « Und ein Kritiker, dessen Unparteilichkeit in diesem Fall weniger als je anzuzweifeln sein wird, Adolf Weißmann, sagt in seinem Buch »Die Musik in der Weltkrise« von dem jungen Opernmeister: »Der einzige Opernmensch der Gegenwart, der den Ausgleich der verschiedenen Wirkungsfaktoren der musikalischen Bühne allmählich erreicht; der einzige, der den Gesang voll ausschwingen und ihn sich von dem klangüppigen, meisterlich behandelten Orchester abheben läßt; der einzige, der nach Puccini den Mut und die Kraft hat, die Problemlosigkeit in der Oper ganz durchzuführen.«

Er sagt nichts, als was wahr ist. (Nur über die »Problemlosigkeit« ließe sich diskutieren.)

Wer das Wunder dieser beiden Akte ganz ermessen will, braucht nicht erst Relativitäten heranzuziehen; so unheimlich es ist, die schwüle Liebesstimmung, die phantastisch drohende Atmosphäre der Violanta, die überlegene, spielende Heiterkeit der Lustspieloper als den Ausdruck einer unerfahrenen Knabenseele begreifen zu sollen. Man kann es auch nicht begreifen; kann nur in andachtvollem Ernst vor dem Geheimnis des Genies und seiner Bestimmung stehen, die es erfüllt, ohne zu wissen, was es tut und noch ehe es das wissen kann ... Aber auch ohne das Unbegreifliche, daß ein halbes Kind diese beiden Opernakte geschaffen hat, sind diese beiden Partituren in ihrem Reichtum, ihrer Architektur, ihrem Kolorit und ihrer Inspiration ebenso unfaßbar, wie es eben jede wahre Eingebung ist. Für mich bedeutet die »Violanta« in ihrer aufgewühlten dramatischen Melodik, dem zarten Schimmer ihrer Lyrik, den peitschenden Klängen der Katastrophenszene, ihrem irgendwie von unheimlich lauerndem Schicksal überschatteten Karnevalsrausch, ihrer flammenden Leidenschaft und dem breit hinwehenden Atem des nur leise von Puccini-Duft übersprühten Gesangs (der aber nie Musik aus zweiter Hand ist) eine geniale Offenbarung und immer noch die zwingendste, leuchtendste und unmittelbarste Musik des Dramatikers Korngold, der übrigens mit seinem eben der Vollendung entgegenreifenden Opernmysterium »Das Wunder der Heliane« auf die Tonsprache der Violanta zurückzugreifen scheint: diese in brennnender Farbentrunkenheit schwelgende, in Zartheiten und in Fieberschwüle flimmernde, breit strömende, von den stärksten inneren Spannungen gestraffte Melodik, diesES seltsam opalisierende, blutrot durchwirkte, golden flammende, geheimnisvoll schleiernde Kolorit des Orchesterklanges und diese wagnisreiche, oft ganz ins Atonale zerstäubende Harmonik, in der man doch niemals das tonale Gleichgewichtsgefühl verliert, weil auch die sonderbarsten Ausweichungen, die fremdartigsten vagierenden Akkorde doch immer zum magnetischen Mittelpunkt der Tonart hinstreben und sich in der überraschendsten und befreiendsten Art binden und lösen. Während die Lustspieloper, gleicher klanglicher und harmonischer Probleme voll, auf ein einziges Thema (das des »fröhlichen Herzens«) gestellt, aber verschwenderisch in dem melodischen Blühen, das all die Variationen des Grundmotivs umrankt und durch die Durchsichtigkeit und die sprühende Leichtigkeit ihrer zärtlich lebensfrohen Musik von vornherein dem Verständnis näher, durch ein formales Element bestrickt: jede Szene ist in sich geschlossen, ein Scherzo mit Trio und Reprise (wenn auch durchaus unschematisch) und trotzdem bleibt der dramatische Fluß gewahrt, ist jeder Takt der schlagende Ausdruck der Situation, jede Phrase gleichsam improvisiert und doch organisch eingegliedert. Was übrigens für jeden Akt und jede Szene der Korngoldschen Opern gilt: der Dramatiker gibt das Expressive, der Sinfoniker die Architektur, das Gleichgewicht des Aufbaus, die Einheit und Abrundung der Form, die wieder mit dem Ausdruck des Seelischen zur Einheit verwächst.

Weit sicherer und meisterlicher noch werden all diese Linien in der »toten Stadt« gezogen. Das Werk bedeutet den stärksten Triumph des jungen Opernschöpfers, hat einen Welterfolg errungen, war die erste deutsche Oper, die nach dem Krieg in Amerika gespielt wurde, ist für Paris, London und Barcelona in Aussicht genommen, in der Schweiz und in Holland und Belgien enthusiastisch empfangen, vom Verlag Ricordi für Italien und Südamerika erworben, ins Italienische und Englische übersetzt worden, und war die Festoper bei den letztjährigen Musikfesten in Wien, Bremen, Karlsruhe und Wiesbaden; einzelne Stücke daraus: Mariettas süß versonnener Lautengesang und das schmachtende Pierrot-Tanzlied haben Weltberühmtheit erlangt. W as nicht angeführt wird, um anpreisende »Reklame « zu machen, sondern um bekennen zu dürfen, daß mir gerade dieses Werk, in dem des jungen Meisters Genialität immer wieder hell aufleuchtet und das mehr als eines seiner anderen die ungeteilte Zustimmung der Gegenwart gefunden hat, ferner steht als die beiden ersten Opern und gar als die Kammermusikwerke. Es sind Stimmungen von unbeschreiblicher Kraft und Schönheit darin, traumhaft Beklemmendes von größter Eindrucksgewalt und klangliche und melodische Eingebungen des geborenen Dramatikers. Aber hier empfinde ich manche Wendung als stereotyp geworden, allzu vieles als überhitzt, unruhig, krampfig ohne lösende Kontraste, und diese Kontraste selbst, wenn sie doch eintreten, als allzu süß und werbend. Gewiß, derlei Momente gibt es nicht oft in dem ganzen Werk, das unaufhörlich in seinen Bann zwingt, auch dort, wo das Stoffliche als unangenehm absichtlich und äußerlich effektvoll wirkt und vielleicht trägt die dichterische Unterlage mehr als die Musik an jenem Eindruck des Atemlosen, Unrastvollen, fieberig Überspannten und Hypertrophischen Schuld.

Aber auch in der Musik empfinde ich zu wenig von dem schönen Maß, von der Gleichgewichtsverteilung im Kräftespiel, wie es die köstliche» Viel Lärm um Nichts«Musik oder das Sextett haben, empfinde zu viel als forciert und überladen, um die hohe Freude an all den unheimlichen, bangen, phantastisch visionären Tonträumen zu empfinden, die das eigentlich Neue und Verführerische dieser reichen, in heißer Pracht glühenden Schöpfung bedeuten.

Über Korngolds neues Opernwerk, »Das Wunder der Heliane« (nach des genialen, allzu jung verstorbenen Hans Kaltneker Mysteriendichtung von Hans Müller bearbeitet, der auch der Dichter der Violanta war) von diesem Werk zu sprechen, ist mir so lange verwehrt, bis es der Öffentlichkeit vorliegt. Nur das eine möchte ich sagen dürfen: daß hier all das, was mir die »tote Stadt« fremder machte, all die Mängel, die immer nur solche des Zuviel, nie des Zuwenig, nur solche der Überfülle waren, die sich verschwendet und nicht solche der berechnend sparenden Armut, einer Reife schönster Art gewichen sind: daß hier eine ruhevoll atmende Melodik breite Bogen zieht, ein verklärter Orchesterklang all die lebendig gewachsenen, einheitlich aufgebauten Szenen überschimmert, ohne Überhitzung und Unruhe, voll gesammelter Kraft, und daß hier eine Tonsprache von kühnster Modernität, voll bitonaler und polytonaler Bindungen, linearer Stimmführungen, Vorhaltkettenbildungen und leiterfremden Akkorden derart zu überzeugender, kaum jemals befremdender Eindringlichkeit gestaltet ist, weil die innere Logik, das unergrübelt Elementare und innerlich Gehörte der Harmonik so stark zutage tritt, daß man die Einheit von melodischer und harmonischer Erfindung spürt, das nicht »Hinzugefügte«, sondern gleichzeitig Entstandene, ohne Primat des Gesanglichen oder Klanglichen: sie sind untrennbar verwachsen, sind innig phantasievoll und persönlich und tragen ein Drama von reiner Beseelung und Menschlichkeit.

Ist es nicht gerade die Vielfalt, das Verschiedenartige all dieser dramatischen Welten, die am deutlichsten für die Berufung des dramatischen Tondichters spricht? Wer die bürgerliche Heiterkeit, die gutherzige Lebensfreude des »Polykrates «, die venezianische Welt der »Violanta « mit all ihren Lagunenliedern, ihrem Grufthauch, ihren wilden Leidenschaften, dann wieder die Traumreiche der »toten Stadt« und ihren Kult des Gewesenen, die mutwillige Ausgelassenheit, den Shakespeare-Humor, die altenglische Volksliedschwermut und die hinreißende Rüpeldrastik von »Viel Lärm um Nichts« (neben dem Straußsehen »Bürger als Edelmann(die kongenialste Schauspielmusik seit dem Sommernachtstrauml) und dann wieder die stille Verzückung und den Blutzeugenfanatismus der »Heliane« mit solcher Sicherheit, Lebendigkeit, Wesenhaftigkeit und Stimmungskraft zu gestalten vermag, der ist zum dramatischen Musiker geboren. (Aber wer die Intimität des Sextetts empfindet, meint wieder, daß hier ein spezifischer Kammermusiker am Werk sei.) Wer aber an der vulkanisch-elementaren Musikernatur und an der Erwählung des jungen Tondichters, dieses Repräsentanten einer echten, nicht gewollten, sondern erlebten Modernität, immer noch zweifelt, muß ihn einmal am Werk sehen: am Klavier oder am Dirigentenpult, wenn er eines seiner Werke oder eine der von ihm einzigartig fein, geistvoll und stilrein bearbeiteten Operetten des Klassikers Johann Strauß leitet: wie er nichts als Musik ist, Musik ausströmt, bis in die Fingerspitzen geladen mit Tonaktivität, selbstvergessen, aufgegangen im höheren Element das ist jedesmal ein unvergeßliches Schauspiel: das einer vom Musikgeist gesegneten

... Ist wirklich kein »Anlaß« da, über diesen jungen Meister zu sprechen, auch wenn er kein Jubiläum feiert, keinen schönen Titel erhalten hat und nicht einmal vor einer Uraufführung steht?

Doch, der Anlaß ist da: weil diese Erscheinung da ist, vor unseren Augen heranreift, das Wunder seiner Kindschaft durch das seiner unbeirrten Haltung und seiner in Blüte stehenden Kraft vergessen macht und die Hoffnung hochhält, daß Musik als Kunst der Freude nicht ihrem Ende zueilt und daß sie auch eine Angelegenheit der Zukunft, nicht nur eine der Vergangenheit bleiben muß. Und weil man vor ihr wieder jener schönsten Empfindung des Zeitgenossen teilhaftig werden darf: die Heraufkunft eines schöpferischen Menschen zu erleben.

↑DA CAPO

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