Ernst von Dohnányi
1877 - 1960
Ungarns letzter Romantiker
Das Schaffen des ungarischen Komponisten Ernst (Ernö) von Dohnányi ist lang sträflich vernachläßigt worden. Er zählte neben Bartók und Kodály zu den führenden Meistern der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts, blieb aber anders als die Kollegen lebenslang der musikalischen Spätromantik treu.
Aus seiner Feder stammen einige der brillantesten Konzertkompositionen jener Ära, allen voran die in ihrer hintergründigen Komödiantik hinreißenden Variationen über ein Kinderlied, von denen András Schiff und die Wiener Philharmoniker unter Sir Georg Solti eine wunderbare Aufnahme gemacht haben, die als »Füllsel« hinter dem viel gespielten Ersten Tschaikowsky-Konzert kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Sie ist dennoch sehr hörenswert, konfrontiert sie uns doch mit einem der geistreichsten jüngeren Klavierkonzerte.
Die Kinderlied-Variationen heben an wie eine große Oper. Eine dramatische Einleitung ballt sich zu geheimnisvollen akustischen Gewittertürmen - einem Paukenschlag folgt dann freilich die Erleichterung:
Hinter dem Gewitter lacht uns das wohlbekannte, einst schon von Mozart variierte "Weichnachtsmann"-Lied entgegen.
Das ist die erste Pointe in diesem an Überraschungen reichen Bilderbogen, in dem zwischen Groteskem, Virtuosem, Lyrischem schon auch einmal - wie sooft bei Dohnányi - ein wienerischer Walzer aufklingt.Wie nach der machtvollen »Ouvertüre« nicht anders zu erwarten, mündet der Variationenreigen in ein großes, dramatisch entwickeltes Finale. Die Leuchtkraft der Orchestrierung ist bemerkenswert. Die Aufgaben für den Pianisten sind es ebenso. Daß dieses dankbare Werk nicht regelmäßig gespielt wird, gehört zu den groben Unterlassungsünden unseres Musikbetriebs.
András Schiff hat mit seinen bevorzugten Kammermusik-Partnern auch ein weiteres Kleinod aus Dohnányis Schatzkammer geborgen.
Für Decca hat er auch das Sextett in der kuriosen Besetzung Klavier - Violine - Bratsche - Cello - Klarinette und Horn aufgenommen. ↓
Im Sextett ist die unverwechelbare Tonsprache dieses Komponisten bereits voll entwickelt. Der brillante Stil nutzt die Errungenschaften der Spätromantik zu späten Blüten und ist immer gepaart mit verschmitztem Humor.
Die Themen des ersten Satzes finden sich durchs ganze Werk hindurch, immer neu verwandelt. Die anfängliche modulatorische Kühnheit sorgt zitathaft am Ende des Werks für einen Coup de theatre: Fast scheint es, das Sextett würde in der »falschen« Tonart enden; ehe eine rasche Kadenz uns auf den Boden der Realität zurückführt.
Die Aufnahme erschien auf einer CD, die auch Dohnányis Erstlingswerk, ein (vor allem im zweiten Satz, dem Scherzo, noch hörbar an Brahms' Kammermusik orientiertes Klavierquintett op. 1 enthält: Das ist unverfälschte Romantik ohne Augenzwinkern, gefühlsintensiv, aber durchaus von jenem Tonfall getragen, der für diesen Meister charakteristisch bleiben wird: Hinter allem steckt in der Regel eine Prise Humor; oder zumindest lebenskluge Serenitas.
Klaviermusik des brillanten Pianisten
Für seine Zeitgenossen war Ernst von Dohnányi als Enkelschüler Franz Liszts (er studierte unter anderem bei Eugen d'Albert) vor allem einmal einer der führenden Pianisten seiner Generation. Entsprechend virtuose Solostücke hat er für sein Instrument (auch zur Selbstdarstellung) komponiert. Erstmals sind beide Konzerte des ungarischen Meisterkomponisten auf einer CD vereint und geben Beispiele für den frühen und den ganz späten Dohnányi. ↓
Das e-Moll-Konzert, 1899 in Wien mit dem nach Hans von Bülow benannten Bösendorfer-Preis ausgezeichnet, präsentiert den jugendlichen Romantiker Dohnanyi, der nach dem Vorbild der großen Konzertliteratur des 19. Jahrhunderts ein ausladendes, üppig orchestriertes Stück vorlegte.
Dohnányis eigene Aufnahmen gehören zu den wichtigsten Dokumenten des romantischen Klavierstils.
Der Pioniergeist der CD-Produzenten erschließt nach und nach das Gesamtwerk Dohnányis zumindest für Musikfreunde, die auf Live-Erlebnisse verzichten können.
So hat beispielsweise Sofja Gülbadamova, die Leiterin des Brahmsfestes Mürzzuschlag einer Doppel-CD mit Solo-Klavierwerken Dohnányis herausgebracht und im Verein mit der Staatsphilharmonie Rheinland Pfalz unter Ariane Matiakh mit den Klavierkonzerten nachgesetzt.
Der gestrenge Hans Richter, Uraufführungsdirigent von Wagners "Ring" und mancher Brahms- und Bruckner-Symphonie, stand bei der Weltpremiere dieses in der Nähe von Preßburg vollendeten Werks am Pult.
Ein halbes Jahrhundert und etliche Schicksalsschläge später entstand das h-Moll-Konzert (op. 42), mit dessen etwas herberen, doch nach wie vor romantisch getönten Klängen es Dohnanyi versuchte, nochmals an frühere Erfolge anzuknüpfen. Ihm selbst gelang das zwar noch für einige Zeit. Doch nach Ende der Konzertkarriere des Komponisten-Pianisten führen beide Konzerte ein Schattendasein.
Das müßte nicht so sein, denkt man, angehörs der Neueinspielung durch Gülbadamova, die glasklar und luzid spielt und sich auch von kräftigen Akkordballungen nicht verleiten läßt, das Klangbild einzudicken. Das Orchester begleitet sauber, ein wenig mehr Elan hätte der Aufnahme allerdings gutgetan.
Aber als Auftrag für künftige Dohnányi-Unternehmungen solte diese CD ebenso gelten wie die bisherigen Ausgaben der Reihe auf dem Label Capriccio: Neben Gülbadamovas Solo-CD erschien bisher die Ballettmusik zu Schleier der Pierette (nach Schnitzler) und die 1897 in Budapest zum Studien-Ende mit dem königlichen Preis ausgezeichnete Erste Symphonie unter Roberto Paternostro; liebenswerte Entdeckungen für Freunde ungefilterter Spätromantik.
Das Zweite Klavierkonzert entstand nach des Komponisten Flucht aus Budapest knapp vor Ende des Zweiten Weltkriegs (die man ihm in der kommunistischen Ära seiner Heimat als Sympathie für das NS-Regime auszulegen versuchte). Die vorgebliche Nähe zum NS-Regime bzw. der ungarischen Horthy-Diktatur entpuppt sich bei Lektüre von Dohnányis lesenswerten Lebens-Erinnerungen als Mystifikation. Sie stand der Verbreitung von Dohnányis Schaffen allerdings bis heute im Wege, obwohl etliche Musiker, die zu seinen Studenten während seiner Zeit als Direktor der Budapester Musik-Akademie zählten, für ihn Zeugnis ablegten. Zu seinen Zöglingen gehörten Größen wie Annie Fischer, Misha Levitzki, Edvard Kilenyi, Géza Anda oder Georg Solti. Viele Cello-Konzerte von der Qualität von dessen Konzertstück op. 12 haben sie nicht zur Verfügung. ↓ Das »Konzertstück« gehört zu den allerbesten Cellokonzerten der ganzen klassisch-romantischen Literatur. Nachzuhören bei Raphael Wallfisch und dem London Symphony Orchestra unter Charles Mackerras - wiederum als »Füllsel« nach einer Aufnahme des meistgespielten aller Cellokonzerte, jenem von Antonín Dvořák.
Zumindest Cellisten sollten den ärgerlichen Dohnányi-Bann eigentlich regelmäßig durchbrechen.
Wiener Musikfreunde erinnern sich vielleicht noch daran, daß es einmal im Konzerthaus zu einer prächtigen Aufführung mit den Wiener Philharmonikern unter Lorin Maazel kam, bei der Solo-Cellist Robert Nagy den Solopart spielte; leider wurde diese rare Gelegenheit verpaßt. Es gibt keinen Mitschnitt...
Doch hat → Janos Starker das Werk mit dem Philharmonia Orchestra unter Walter Susskind in all seiner Leuchtkraft verewigt. (Warner)
Dohnányis Lebenserinnerungen entnehmen wir, wie die Künstlerkarriere nach 1945 zwischen den alliierten Animositäten zerrieben zu werden drohte. Zunächst versuchten die amerikanischen Besatzer, den Musiker, der versteckt auf einem Bauernhof inmitten des in Zonen zerteilten Österreich lebte, für eine Mitwirkung bei den ersten Nachkriegsfestspielen in Salzburg zu gewinnen. Womit Dohnányi an legendäre Vorkriegsauftritte anknüpfen hätte können.
Allein, die russischen Machthaber legten sich quer - es kam nicht dazu.
Im amerikanischen Exil, das er nach Entlastungs-Zeugnissen etlicher jüdischer Studenten und des Komponisten Leo Weiner erreichte, führte Dohnányi dann ein geachtetes Leben als großer alter Mann der ungarischen Musik und Exponent der pianistischen Liszt-Schule. Die Zeitläufte ließen ihn freilich mehr und mehr »unmodern« scheinen. Er starb 1960, wenige Tage nachdem er noch Beethoven-Sonaten für das Label Everest aufgenommen hatte.