5. August 2011

Frühfassungen der Symphonien

Manches von Sibelius klang in der ursprünglichen Form ganz anders

Seit Mitte 2007 lanciert BIS eine Gesamtausgabe der Werke des finnischen Nationalkomponisten auf CD. Sibelius ist hierzulande nach wie vor ein großer Unbekannter. Außer dem Violinkonzert sind im Konzertleben bestenfalls die ersten beiden Symphonien hie und da präsent, im Wunschkonzert die »Valse triste« und »Finlandia«. Von der Kammermusik oder den vielen kleinteiligen Klavierwerken weiß der Musikfreund in Mitteleuropa so wenig wie von den formal oft kühn gezackten Tondichtungen.

Jüngst erschien mit der vorletzten Box die vielleicht wichtigste Stufe in der tönenden Landnahme. Sie enthält neben allen sieben Symphonien, exzellent musiziert von Osmo Vänskä und dem Orchester von Lahti, auch Frühfassungen einiger Abschnitte sowie die gesamte Fünfte in der vier Jahre vor der endgültigen entstandenen Version. Für fortgeschrittene Sammler eine bedeutende Ergänzung zu bestehenden Aufnahmen der Symphonien in klassischen Interpretationen wie Barbirolli (EMI) oder Maazel mit den Wiener Philharmonikern (Decca). Jaako Kuusisto bringt mit dem Orchester von Lahti auch Fragmente von Skizzen zum Klingen, die bisher ungespielt im Sibelius-Archiv von Turku ruhten. Da erfährt man etwa, dass der rauschhafte Höhepunkt im langsamen Satz der Ersten ursprünglich anders lautete und der Schluss der einsätzigen, in einem großen Bogen gearbeiteten Siebenten zwei Vorstufen durchlaufen hat, in deren Verlauf er immer klangvoller, prächtiger geworden ist.

Spannend auch, das gesamte Scherzo der rauen Vierten in der Urversion zu hören, eine der kühnsten formalen Konzeptionen des genial-unorthodoxen Formenfinders, deren merkwürdig auslaufender Schluss zunächst noch karger, einsilbiger formuliert war, als ihn Sibelius schließlich in seiner Partitur für die Ewigkeit festhielt. - Eine Studie für sich ist der direkte Vergleich der beiden Versionen der Fünften, die Osmo Vänskä auf einer CD vereinigt.

Wo bleiben Thors Hammerschläge?

Sibelius-Freunde stutzen bereits beim Abhören der Anfangstakte der ersten Fassung. Auf Schritt und Tritt stößt man dann beim Hören auf Ecken und Kanten. Als ob Sibelius zunächst nur eine Verlaufsskizze hingeworfen hätte, die später noch zu konkretisieren war. Der geniale Übergang vom Stirnsatz ins Scherzo - eine in der Literatur einzigartig geglückte Verzahnung zweier Sätze - fehlt hier ebenso wie die berüchtigten »Hammerschläge des Thor« im Finale: Dieselbe Musik, doch gezähmter, weniger theatralisch jedenfalls.

Man darf Wetten annehmen, wie lange es dauern wird, bis wir Sibelius' Meisterwerk, die Fünfte, wieder einmal live in Wien zu hören bekommen. Bis dahin können Interessenten aber schon über die gewaltigen Differenzen in den beiden vom Komponisten hinterlassenen Partituren erzählen...


↑DA CAPO