Mili Balakirew
1837 - 1910
Balakirew stammte aus Nischnij Nowgorod und erhielt seine erste, bemerkenswert grundlegende Ausbildung am Alexandrovsky-Institut in seiner Heimatstadt durch den Pianisten Karl Eisrach.
Das offenkundige Talent des Teenagers führte dazu, daß man ihm sogar Proben des Instituts-Orchesters anvertraute.
Nach Abschluß des Gymnasiums ging Balakirew zunächst nach Kasan, um Mathematik zu studieren. Aber schon zwei Jahre nach Studienbeginn fand man ihn in St. Petersburg, wo er sich als Klavierspieler durchs Leben brachte und Unterricht gab.
Ab 1857 versammelte sich um Balakirew ein Komponisten-Kreis, den der Kritiker Wladimir Stassow 1867 dann → Das mächtige Häuflein nannte. Modest Mussorgskij und Cesar Cui waren die ersten, 1861
stieß Nikolai Rimskij-Korsakow zu der Gruppe, ein Jahr später Alexander Borodin.
Ziel des Häufleins war es, eine nationalrussische Musik zu schaffen. Michail Glinka war das Vorbild: Die russische Volksmusik sollte die Basis sein, orientalische spanisch-maurische Elemente durften einfließen.
Balikirew selbst steuerte mit seiner orientalischen Fantasie namens Islamey ein gewichtiges Beispiel bei, das noch dazu für Pianisten über lange Zeit einer der wichtigsten technischen Prüfsteine bildete. Noch Maurice Ravel berief sich auf Islamey als er daran ging mit dem dritten seiner Stücke aus Gaspard de la nuit, dem Scarbo, den Interpreten eine Aufgabe zu stellen die ausdrücklich »schwerer als Islamey« sein sollte.
Drei Reisen unternahm Balakirew in den Kaukas, um die dortige Volksmusik zu studieren. Er plante nach dem Feuervogel-Märchen, das später Strawinsky zu seinem ersten Ballett inspirieren sollte, eine Oper zu machen. Balakirews Werk kam über Skizzen nicht hinaus.
Die »Freischule«
1862 gründete Balakirew Musikalische Freischule in St. Petersburg. Man veranstaltete Orchesterkonzerte, die Balakirew einstudierte und leitete.
Zwei Saisonen lang leitete er außerdem ab 1867 die Konzerte der Kaiserlich russischen Musikgesellschaft.
Die Krise
Anfang der Siebzigerjahre war Balakirew bei den kaiserlichen Bahnlinien beschäftigt. Er durchlebte eine schwere persönliche Krise. Aus dem Freidenker und Atheisten wurde ein gläubiger Anhänger der Orthodoxie.
Rimskij-Korsakow erinnerte sich, daß Balakirew in jungen Jahren »mit dem Teufel paktierte«. Nun wandte er sich Gott zu und mutierte zum fanatischen Anhänger des Zarentums, komponierte auch einige Hymnen auf Angehörige des Kaiserhauses.
An seine früheren Erfolge konnte der »geläuterte« Balakirew nicht mehr anknüpfen. Er lebte als Misanthrop zurückgezogen mit vielen Tieren.
Das Werk
Balakirew hatte als einziger Komponist des mächtigen Häufleins eine profunde musikalische Ausbildung aufzuweisen. Spätere Kommentatoren meinen, sein Hang zur ausgefeilten, detailierten Ausgestaltung seiner Werke sei deren Verbreitung oft im Wege gestanden; man fühle in seiner Musik nichts von dem inspirativen Schwung, der bei Borodin herrscht, nichts von der urwüchsigen Kraft, die bei Mussorgsky oft scheinbar ungeordnet hervorzubricht.
Tatsächlich hat es nur die Islamey-Fantasie in den Konzertgebrauch geschafft. Immerhin hat aber der junge Herbert von Karajan mit dem Philharmonia Orchestra London eine exzellente Aufnahme der Symphonie in C vorgelegt.
Die neue russische Symphonie
Die Symphonie Balakirews, Mitte der Sechzigerjahre skizziert, aber erst Ende der Neunziger fertiggestellt, wurde jedenfalls im Kreise des »Häufleins« immer wieder durchgespielt und heftig diskutiert. Sie diente jedenfalls den Freunden als Musterbeispiel einer »neuen russischen Symphonie«. Die ersten Takte klingen zwar beinah wie das Echo einer langsamen Einleitung zu einer späten Haydn-Symphonie, doch spätestens mit dem forschen Eintritt des Allegro-Themas wird deutlich, daß hier ein neuer, folkloristisch gefärbter Tonfall angeschlagen wird. Der Impetus dieser Klänge kehrt im berühmten Anfangs-Thema von Borodins Zweiter Symphonie ebenso wieder wie im langsamen Satz die orientalisch gefärbte Melodik.
Ein auch handwerklich meisterlich geformtes Stück ist das Scherzo, das virtuos zwischen den entsprechenden Sätzen bei Mendelssohn und (auch dank brillanter Orchestrierungskunst) Berlioz balanciert.
Bei Jewgenij Swetlanow kann man Balakirews Tondichtung Tamara nachhören, die Rimskij-Korsakow ganz offenkundig nebst dem Andante aus Balakirews Symphonie als Inspirationsquelle für seine populäre Scheherazade diente. Tamara, nach dem Vorbild von Liszts Tondichtungen gearbeitet, ist das klingende Portrait der verführerischen Märchenfigur aus dem Kaukasus, die verirrte Wanderer in ihren Turm lockt, um ihnen - nach ekstatischen erotischen Erlebnissen - im nahen Fluß den Tod zu geben.
Die technischen Herausforderungen von Islamey haben viele Pianisten mit Freude angenommen. Unter den vielen Einspielungen findet sich eine in ihrer Differenzierungskunst unvergleichliche → Wiedergabe durch Vladimir Horowitz, der sich, wie gewohnt, manche Freiheiten gegenüber dem Text nimmt; einfacher macht er sich's dadurch übrigens nicht! Die »Trefferquote« ist - es handelt sich um einen Livemitschnitt! - enorm hoch. Und der lyrische Mittelteil gelingt schwärmerisch, frei, fast improvisatorisch.