Tschaikowskys Symphonien entstanden im Spannungsfeld zwischen den Bemühungen um eine originär »russische« Musik und den Anforderungen der klassischen Formbewältigung - wobei für Tschaikowsky, den Mozart-Verehrer und Beethoven-Skeptiker, eher Robert Schumann als die Klassiker als Vorbild diente. So entstand im Bemühen um satzübergreifende Strukturen ein symphonisches Werk, das in seiner Subjektivität nach drei bemerkenswert eigenständigen Versuchen und einer veritablen Programm-Symphonie nach Berlioz' und Liszts Vorbild drei vollgültige Meisterwerke zeitigte, deren Formgebung aus inhaltlichen (mehr oder weniger verdeckt) programmatischen Vorgaben erwuchs - womit der Boden bereitet war für die Erneuerung der Symphonie im XX. Jahrhundert. Mahler und Schostakowitsch sind ohne Tschaikowskys Vorbild kaum denkbar - auch wenn diese Erkenntnis quer steht zu den ästhetischen Überzeugungen von Musikfreunden und musikwissenschaftlichen Vordenkern der Moderne. Allein die inhaltlich-strukturellen Parallelen zwischen Tschaikowskys »Pathétique« und Mahlers Neunter in der großformalen Anlage und manchen Details sprächen bände . . .
Daß die Kraft von Tschaikowskys Melodik und der dramatische Impetus seiner musikalischen Architekturen regelmäßig das Publikum überwältigen, spricht eher für die Qualität dieser Musik, nicht gegen ihre organisatorische Strukturen.
In Petersburg spielte ich auf einer musikalischen Soiree bei Rimskij-Korsakow das Finale; die ganze Gesellschaft war so hingerissen, daß sie mich schier in Stücke zerteilte.
komponiert 1875
Im Sommer 1875 entstand die Dritte Symphonie wiederum auf einem der Landgüter der Familie Davydov.
Vorangegangen war - nach den Erfahrungen mit der Zweiten die Umarbeitung der Ersten Symphonie, 1874. Tschaikowsky war auf dem Weg zu einer sehr eigenen symphonischen Sprache, die um Einheit bemüht war. In der Dritten beobachten wir ihn auf diesem Weg: Faszinierend, wie aus dem düsteren, trauermarschartigen Beginn der Symphonie das Hauptthema des ersten Allegros förmlich herauswächst. Nach wie vor aber sind nicht die Klassiker, sondern Robert Schumann das sichtbare Vorbild. Wie dessen Dritte ist auch Tschaikowskys Dritte Symphonie fünfsätzig und eher dem romantischen Reihungs- oder Suitenprinzip - wie manche von Schumanns frühen Klavierzyklen - verpflichtet als der klassischen Symphonieform.
Daraus resultiert bei Tschaikowsky vor allem in dieser Symphonie eine Gliederung durch variierten Wiederholungen eher als durch dramaturgische Entwicklungsdynamik des »Durchführungs-Prinzips«. Vor allem das Finale der Dritten leidet ein wenig unter dieser Tatsache, während die Mittelsätze des Werks äußerst originell geraten sind.
Vor den langsamen Satz schiebt sich in diesem Fall noch ein Intermezzo, ein deutscher Tanz, der zweite von Tschaikowskys symphonischen Walzern.
Das Scherzo (in h-Moll) ist - nicht zuletzt dank der duftigen Orchestrierung - das brillanteste Stück dieser Symphonie, harmonisch apart mit der exotischen Ganztonleiter experimentierend und mit einem marschartigen Trio, das der Komponist einer frühen Kantate entlehnt hat. Cesar Cui, kritischer Kollege aus dem Mächtigen Häuflein, bemängelte in diesem Satz das Fehlen gehaltvoller Musik: Das Stück sei lediglich klanglich interessant. Freund Balakirew, ebenfalls einer der Mächtigen, sah das ganz anders und lobte gerade das Scherzo als eine der besten Kompositionen, die Tschaikowskys bis dahin geschrieben habe - eine Position, der sich die Nachwelt angeschlossen hat.
Der Komponist war sicher, seinem Ziel der technischen Vervollkommnung mit seiner D-Dur-Symphonie nähergekommen zu sein, wie er in einem Brief an Rimskij-Korsakow bekannte.
Da war seine folgende Komposition, von der vieles in der Symphonie bereits anzuklingen scheint, bereits in Arbeit: Schwanensee. Entsprechend hochgestimmt war Tschaikowsky gegen Ende des Jahres
1875: Die Uraufführung der Symphonie wurde laut beklatscht, dem b-Moll-Klavierkonzert war in den USA ein Riesenerfolg beschieden und ein Treffen mit Camille Saint-Saens, der auf der Durchreise in Moskau Station machte, verlief zur Freude beider Komponisten: Man spielte nicht nur Klavier miteinander, sondern extemporierte, am Klavier begleitet von Nikolai Rubinstein, ein Theaterstück namens »Pygmalion und Galathea«, in dem Tschaikowsky als Pygmalion die Statue Galathea, alias Saint-Saens, zum Leben erwecken durfte.
Die Vierte gilt allgemein als die erste vollgültige Symphonie, mit der Tschaikowsky seinen Stil gefestigt hatte und zu einer uvnerwechselbar persönlichen, programmatischen, aber dem viersätzigen Schema verpflichteten Tonsprache vordrang. Das Werk steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Katastrophe der gescheiterten Ehe und dem seelischen Halt, den der Komponist durch seine einzigartige Brieffreundschaft mit seiner Mäzenin Nadeschda von Meck gewann. Die Symphonie ist Frau von Meck gewidmet, allerdings für die öffentlichkeit verklausuliert:
Meinem treuesten Freund
Dieser »Freund« war erst kurz vor Beginn der Arbeit an der Symphonie in Tschaikowskys Leben getreten - wurde aber in die tiefsten Geheimnisse vor allem des Schaffensprozesses - eingeweiht. In gewisser Weise spiegelt die Musik die Situation Tschaikowskys in jener Lebensphase getreulich. Das einleitende, gewaltige »Schicksalsmotiv« beherrscht das gesamte Werk und kehrt selbst im lauten Festesjubel des F-Dur-Finales warnend noch einmal wieder. Was es damit auf sich hat, erfahren wir aus Tschaikowskys offenen Worten in einem erläuternden Brief an Frau von Meck:
Für unsere Sinfonie gibt es allerdings ein Programm, besser gesagt: Es ist möglich, ihren Inhalt in Worte zu fassen. Daher will ich Ihnen, und nur Ihnen allein, die Bedeutung des ganzen Werkes sowie seiner einzelnen Teile verraten. Die Einleitung ist der Kern der ganzen Symphonie. Der Hauptgedanke, der zuerst in den Trompeten und anschließend in den Hörnern auftritt, steht für das Fatum, jene verhängnisvolle Macht, die unser Streben nach Glück behindert, jene Macht, die wie das Damoklesschwert ständig über unseren Häuptern schwebt. Wir haben keine Wahl, als die, uns diesem Fatum zu unterwerfen. Das Hauptthema des Allegros steht für das Gefühl der Resignation, der Hoffnungslosigkeit: Ist es nicht besser, sich von der Realität abzuwenden, sich in Träume zu verlieren? Die zweite Themengruppe, die durch leicht dahingleitende Figuren der Holzbläser eingeleitet und durch eine zarte Streichermelodie aufgenommen wird, symbolisiert diesen Gegensatz
Das folgende Andantino in modo di canzona ist wirklich eine »Kanzone« ein trauriges Lied in b-Moll. Die melancholische Oboen-Melodie wird mehrmals aufgegriffen und intensiviert, aber von einem GegenGesang in F-Dur abgelöst, der sich zu höchster Leidenschaftlichkeit steigert, bis die Eingangsmelodie, resignativ von den Holzbläsern umspielt, wieder erscheint.
Das Scherzo zeigt Tschaikowskys originelle Klang-Fantasie: Der Hauptteil gehört ausschließlichen den Streichern, die den gesamten Abschnitt im vielfach dynamisch schattierten Pizzicato spielen, abgelöst von einem flotten Marsch der Bläser und Pauken. Die Pikkoloflöte setzt zuletzt ihre blitzenden Akzente über die jähr aufeinanderprallenden Kontraste der virtuose Verquickung der beiden Abschnitte.
Das wirbelnde Finale schildert, so Tschaikowsky, ein Volksfest in all seiner Bewegung und Buntheit, ein Rondo mit zwei besinnlicheren, nachdenklichen Kontrast-Episoden. Zuletzt bricht das Thema des »Fatums« mit aller Gewalt über die Szene herein - hörbar aber vielleicht nur für den Einsamen, der im jubilierenden Treiben seinen Trost sucht, ihn aber nicht finden kann. Die Festgesellschaft tobt über ihn hinweg, eine effektvolle, im Sinne des Programms der Symphonie aber wohl »bedenkenlose« Schluß-Stretta.
Die Fünfte ist durchaus eine Verwandte, eine Weiterentwicklung der inhaltlichen Vorgaben, die Tschaikowsky für seine Vierte Symphonie gemacht hatte. Wie er dort - folgen wir seiner brieflichen Anmerkung gegenüber Frau von Meck - mit einem Schicksalsmotiv gearbeitet hatte, durchzieht auch die Fünfte ein solches Leitthema, dessen Gehalt nicht minder persönlich sein dürfte. In einer Notiz des Komponisten über die Satzfolge seiner neuen Symphonie heißt es:
Introduktion. Völlige Hingabe an das Schicksal oder, was aber an sich dasselbe ist, an die unerforschliche Prädestination durch die Vorsehung. Allegro (I) Murren, Zweifel, Klagen, Vorwürfe gegen ++-+-.Nun liegt zwischen der Vierten, in der ein »Schicksalsmotiv« zwar drastisch, aber nicht konsequent in allen vier Sätzen in Erscheinung tritt, und dem neuen Werk eine weitere, allerdings nicht numerierte Symphonie: die Manfred-Symphonie nach der Vorlage von Lord Byron - nach dem Lisztschen Prinzip gearbeitet und - auf Vorschlag Mili Balakirews - von einem Hauptthema geprägt, das die gesamte Symphonie durchzieht.
(II) Soll ich mich dem Glauben hingeben???
cantabile, con alcuna licenza
als ob der Komponist nur den Alptraum schildern wollte, immer schneller laufen zu wollen, aber nicht von der Stelle zu kommen.Die dreiteilige, triumphale Coda, zuerst majestätisch, dann orgiastisch, zuletzt hymnisch getragen, beschließt ein Werk, das nach immensen inneren Kämpfen zu einer Lösung aller vorangegangenen Probleme vorzudringen scheint - doch ist über dem E-Dur-Jubel zweierlei zu bedenken: Zum einen Tschaikowskys eigene Anmerkung über das Finale seiner Vierten, das nicht minder nach Festeslärm tönt, nachdem zum letzten Mal mit großer Gewalt das Schicksalsmotiv erklungen ist - hiezu merkt Tschaikowsky an, hier stünde das sensible Individuum allein und einsam inmitten einer tosenden Freudenstimmung. Ähnlich doppelbödig kann Musik dechiffriert werden, wenn ein sensibler Hörer ahnt, was zwischen den Zeilen zu lesen ist. Schließlich ist es das Schicksalsthema, das (nach Dur gewendet) hier triumphiert und nicht der, der vor ihm davonzulaufen versucht und dabei, um Toveys Kritik aufzugreifen, nicht vom Fleck kommt. So hat - zum andern - auch Dmitri Schostakowitsch Ähnliches für seine Fünfte Symphonie einbekannt; auch sein ebenso triumphal wirkender Dur-Schluß hinter eine Schicksalssymphonie hat einen doppelten Boden - und wäre überdies wohl (wie übrigens manche ebenso subjektiv-vielschichtige Anwandlung in den Symphonien Gustav Mahlers) ohne Tschaikowskys Vorbild kaum denkbar.
Ich möchte eine große Symphonie zu schreiben, die gewissermaßen den Schlußstein meines gesamten Schaffens bilden soll.Nicht nur diesen Anspruch sollte die h-Moll-Symphonie letztendlich erfüllen. Es fällt auch nicht schwer, die einzelnen programmatischen Anmerkungen zu Das Leben mit der Musik der Sechsten zur Deckung zu bringen.
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