Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch
Nikolai Rimskij-Korsakows Spätwerk, ein pantheistisches Märchen
Kritik der Premiere bei den Bregenzer Festspielen 1992
"Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch": Gewiß wissen viele Besucher der Eröffnungspremiere nichts Genaues über den Inhalt der extravaganten Oper Nikolai Rimskij-Korsakows auszusagen. Aber alle, alle müssen - ganz tief drinnen - das pantheistische Märchen verstanden haben.
Rimskijs Werk gilt als "Russischer Parsifal", was in den meisten Fällen gleichbedeutend mit lähmender Langeweile sein dürfte. Im Bregenzer Festspielhaus jedoch breitet sich vom ersten Moment an jenes Faszinosum aus, mit dem ein neues Märchenbuch voll bunter Farben und irrationaler Erzählungen die Phantasie eines Kindes umfängt.
Das erreicht Theater selten. Oper schon gar, wo der Kenner weiß, auf welche Töne des Tenors er aufpassen soll, wo Pathos zu herrschen, wo Ergriffenheit sich seiner zu bemächtigen hätte. "Kitesch" ist anders. Man begegnet dem Werk nicht "vorbereitet". Auch dann nicht, wenn man die Handlung gelesen hat.
Gewiß, es geht um Schwarzweißzeichnung im klassischen Fabulierton, um die bösen Tataren, die mordend und brandschatzend Schrecken verbreiten, um die ahnungslos und blauäugig dem Wahnbild einer ewigen "Pax hominibus" hingegebenen, kultivierten Bewohner von Kitesch (welch ein Sittenbild unserer Generation!), um das Urbild des feigen, beugsamen, egoistischen Menschen (der Säufer und Verräter Grischka), um die Vision einer vorbehaltlos guten Kreatur (das Mädchen Fewronija), deren Gebet die belagerte Stadt tatsächlich unsichtbar macht. Nur das Spiegelbild leuchtet im See, ein Anblick, der die Feinde vor Schreck in die Flucht schlägt.
All das wird von Rimskij-Korsakow in märchenhaft unverbunden nebeneinander gestellten Bildern erzählt. Keiner im Saal hätte es wohl gewagt, die Plattheit, die geradezu unverschämte Naivität der Fabel zu belächeln. Wo das Märchen uns wieder einholt, herrscht ein transzendentes Gesetz.
Wer wollte im einzelnen rekapitulieren, welche Assoziationen ihm angesichts von erbarmungslosen Schlachten und Folterszenen, von Verwandlungswundern - oder einer pantheistischen Gotteserfahrung - auf der Szene in den Sinn kommen? Der Krieg auf dem Balkan, die existentielle Antinomie von Verteidigungsbereitschaft und blinder Schicksalergebenheit. . .
Was schwerer wiegt: Diese Produktion reißt tiefere, nicht mehr benennbare Schichten im Bewußtsein des Zuschauers (und -hörers) auf, macht Staunen, berührt, ohne daß momentane Reflexion über die Ursachen der Erregung Aufschluß gäbe. Das ist ihr Geheimnis.
Ermöglicht haben es die kongenialen Mitglieder des Leadingteams. Man könnte lang überlegen, ob Harry Kupfer nicht wieder einmal allzuviel Bewegung ins Spiel gebracht hat und seiner notorischen Angst vor Ruhe, die ja nicht Stillstand bedeuten müßte, ganz und gar erlegen ist. Er hat aber in Dekorationen Hans Schavernochs eine lebendige, die Schwarz-Weiß-Zeichnung der "Legende" getreulich ins Bild setzende Inszenierung erarbeitet, die im Verein mit den von Wladimir Fedosejew und den Wiener Symphonikern entfalteten Klangbotschaften ein unausweichliches Kontinuum ergeben.
Atemlose Stille im Saal bewies mehr als einmal, daß hier wohl alle in Bann geschlagen waren.
Kupfers unaufdringlich Mythos und Zeitgeist vermählende Bilder garantieren den äußeren Zusammenhalt der Geschichte, die mit dem Traumgesicht eines ewig glückseligen "Groß-Kitesch" endet. Diese Parabel vom Glauben, der Berge versetzt (und Städte unsichtbar macht), kann für bare Münze nehmen, wer den magischen Orchesterklängen, der verzehrend schönen Mischung aus Wagnerschem "Waldweben", russischen Volksmelodien und orthodoxer Psalmodie vertraut.
Fedosejew modelliert sie mit faszinierender Überzeugungskraft aus dem Orchester und der stupenden Pianissimokultur der Chöre (Akademie Moskau, Kammerchor Sofia). Wer sieht und dennoch nicht "glaubt", relativiert mit Harry Kupfer die Vision als Delirium der im Sumpf versinkenden Heldin, die so - eine mittelalterliche "Daphne" - auf ihre Weise eins mit der Natur wird. Auch das ist eine der möglichen Botschaften der "Legende".
Schon zu Beginn sang Fewronija Elena Prokina (dort noch einen Viertelton zu tief) von der Natur und Gott, der sich in ihr offenbart - die Symphoniker webten und waberten und zwitscherten dazu, wie sie das in solcher Harmonie selten tun. Solcher Sanftheit bleibt der Heldin in allen Phasen der Handlung, auch in der widerwärtigsten Bedrängnis (und in der rechten Tonhöhe) treu.
Wladimir Galusin ist der grandiose Gegenspieler, der für ein Glas Schnaps nicht nur die Götterdämmerung aufs Spiel setzen, sondern auch die eigene Großmutter verkaufen würde, Sergei Naida der traumwandlerische Prinz, der nur stimmlich kraftvoll, beinahe ungeschlacht agiert, aber zu spät in die Schlacht zieht. Besonders wohltönend im insgesamt stimmigen Ensemble: der "Fürstliche Knabe" von Nina Romanowa und der Paradiesvogel von Alessandra Durssenewa.
Ihnen allen gelang, was kaum möglich schien: Rimskij-Korsakows bis dato unsichtbaren Geniestreich ans Licht zu bringen.