Mendelssohns geistliche Musik
Glaubensbotschaften des jüdischen Protestanten
Über die Religiosität des Komponisten der Reformationssymphonie, der als Enkel des großen jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn Äquidistanz zu allen Glaubensrichtungen suchte.
Daß ein jüdischer Komponist in starken Chören seinen Glauben an die Auferstehung besang, wie es Gustav Mahler in seiner Zweiten Symphonie tat, war in der Musikgeschichte nicht unerhört.
Mahler, der zum Katholizismus übergetreten war, als man ihm das Amt des Hofoperndirektor in Wien anbot, beschwor in seiner Achten Symphonie dann auch – und noch viel stürmischer – den Heiligen Geist.
Ebenso in symphonische Formen hatte ein knappes Jahrhundert früher ein anderer Konvertit sein Lutheranertum gegossen: Die Reformations-Symphonie gibt Zeugnis davon, daß Felix Mendelssohn-Bartholdy es ernster mit dem Christentum meinte als der Dichter Heinrich Heine, der sich etwa zur selben Zeit clandestin in einem thüringischen Pfarrhof taufen ließ, um, wie er kommentierte, seinen "Einlaß-Schein in die europäische Kultur" zu bekommen.
Solcher Zynismus war dem Enkelsohn des großen Vordenkers der Toleranz, Moses Mendelssohn, fremd.
Moses hatte für ein freies Miteinander der Religionen geworben. So entschieden sich denn auch zwei seiner sechs Kinder für den Katholizismus, zwei wurden Lutheraner.
Und die älteste Tochter, Brendel, konvertierte nach der Scheidung von ihrem jüdischen Ehemann, dem Bankier Simon Veit, zunächst zum Protestantismus, um an der Seite ihres zweiten Manns, Friedrich Schlegel, schließlich katholisch zu werden.
Musik für den Tempel
Ähnlich offen gab sich lebenslang auch ihr Neffe Felix, der als berühmter Komponist nur einmal damit beschäftigt war, Musik für den jüdischen Gottesdienst zu schreiben. Der Briefverkehr mit Maimon Fränkel, dem Präses des Hamburger Tempels, zeigt wie detailliert sich der Komponist mit den formalen Fragen auseinandersetzte.
Ob es anginge, fragt er, daß er die zur Einweihung neu errichteten Gotteshauses gewählten Psalmen in Luthers Übersetzung in Musik setze? Das sei kein Problem, entgegnete Fränkel, so lange die „Härten und Unrichtigkeiten“ im deutschen Text beseitigt würden.
Ob dieses Projekt je übers Planungsstadium hinaus gediehen ist, wissen wir nicht. Die Sache ist insofern bemerkenswert als Mendelssohn ja auf die Übersetzung seines Großvaters Moses zurückgreifen hätte können . . .
Hugenotten und Anglikaner
Verheiratet war Felix Mendelssohn-Barthold übrigens mit Cecile Jeanrenaud. Sie war eine Hugenottin. So komponierte ihr Mann denn auch für den Gottesdienst der französisch-reformierten Kirche (die Hymne „Venez chanter“, 1846).
In London vertonte Mendelssohn anglikanische Anthems, von ihnen wurde „Hear My Prayer“ (nach Psalm 55) im viktorianischen England geradezu volkstümlich. Seine Musik gefiel allenthalben – und erfüllte ihren erbaulichen Zweck, auch in Rom, wo eine Vertonung des „Ave Maria“, in „heilig frohem A-Dur“, wie ein Zeitgenosse bekannte, „einen Nichtkatholiken zu Marias Heiligkeit führen“ hätte können. Und das in Zeiten des Cäcilianismus, der Musik von Haydn oder Mozart wegen mangelnder Askese aus den Kirchenschiffen verbannte.
Entdeckung der Matthäuspassion
Die wichtigste Tat für seinen protestantischen Glauben aber gelang bereits dem Zwanzigjährigen in Berlin, wo er im März 1829 Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion in einem eigenen Arrangement wieder aufführte. Der preußische Hof war Zeuge des musikhistorischen Ereignisses, bei dem, wie Mendelssohn selbst kommentierte, „ein junge Jude den Christen ihre größte Musik“ in Erinnerung gebracht – und damit Bach endgültig in die Aufführungsgeschichte zurückgeholt hat.
Biblische Oratorien
Als Komponist gelang Mendelssohn mit dem „Paulus“ sieben Jahre später dann der internationale Durchbruch. Das Oratorium verbreitete sich rasch nicht nur über ganz Deutschland, sondern bis nach Polen, Rußland und schon zwei Jahre nach der Uraufführung sogar bis in die USA.
Mendelssohn adaptiert hier abgesehen von den großen Chorälen – weniger Bachs Passions-Modell als die Oratorienkunst Händels und führt sie in origineller Mixtur aus Dramatik und Lyrik stilistisch mitten hinein in die Romantik seines Jahrhunderts. Eine Hinwendung zum Glauben seiner Väter läßt sich übrigens auch nicht aus der Tatsache ablesen, daß er für sein zweites großes Oratorium, den Elias, einen alttestamentarischen Stoff wählte, denn er erzählt ihn aus der Perspektive seiner intimen Kenntnis des Neuen Testaments – wiederum mit hochromantischen Mitteln, wenn auch in einem neobarock wirkenden Formmodell.
Das geplante dritte groß angelegte Chorwerk konnte denn auch folgerichtig unter dem Titel Christus publiziert werden, posthum und als Fragment. Der Komponist selbst hatte als Titel Erde, Hölle und Himmel vorgesehen. Das ambitionierte Vorhaben hätte nicht nur Christi Wirken auf Erden und seine Himmelfahrt zum Thema gehabt, sondern im Zentrum vermutlich auf Grundlage des apokryphen Nikodemus-Evangelius – auch den Abstieg „in das Reich des Todes“.
Luthers Symphonie
Was uns entgangen ist, weil Mendelssohn diesen kühnen Plan nicht mehr ausführen konnte, läßt sich angehörs des bewegenden musikalischen Denkmals ermessen, das er seinem lutherischen Glauben gesetzt hat: Am beginn des Finalsatzes der „Reformations-Symphonie“ steht das Zitat des „Ein feste Burg ist unser Gott“, aus einem kaum hörbaren Flötensolo zum gewaltigen Choral gesteigert, der wirklich auf felsenfestem Grund zu stehen scheint: „auf Erd' ist nicht seinesgleichen".