Anton Reicha

1770 - 1836


Zeitgenössischer Kupferstich (Diens)

Einer der unbekannten Großen

Il existe plus de cent œuvres gravées de la composition de Reicha sans compter un grand nombre d’autres, encore manuscrites, et parmi lesquelles plusieurs sont pour l’art de la plus haute importance.

Hector Berlioz


Die Wertschätzung, die Hector Berlioz seinem Lehrer entgegenbrachte, wurde in der Musikwelt nach dem Tod des Komponisten keineswegs allgemein geteilt. Selbst die Verwandtschaft ging nachlässig mit Anton Reichas Erbe um.

Notizbuch im Müll

Ein Sensationsfund gelang im Mai des Jahres 2021 einer aufmerksamen Zeitgenossin in Paris: Neben einer Mülltonne fand sie ein Kuvert mit der Aufschrift "Antoine Reicha", in dem sich ein Tagebuch aus dem frühen XIX. Jahrhundert befand. Es stellte sich heraus, daß es sich dabei tatsächlich um Aufzeichnungen des Komponisten Anton Reicha handelte, der nach einer kreativen Phase in Wien (1802-1808) seine späten Jahre in Paris verbracht hatte und ein hoch angesehener Komponist war.

Beethovens Freund

Reicha, wenige Monate älter als Ludwig van Beethoven, stammte aus Prag. Mit zehn Monaten war er Vollwaise, mit elf Jahren nahm ihn sein Onkel Josef auf, der Musiker war und die Musikalität seines Ziehsohnes förderte. Josefs Ehefrau war Französin und unterrichtete den Zögling, der bis zu diesem Zeitpunkt nur Tschechisch gesprochen hatte, auch in Deutsch und ihrer Muttersprache.

Mit der Familie ging Reicha nach Bonn, wo Josef Kapellmeister des Hoforchesters wurde: So lernte der junge Reicha Beethoven als Bratschisten kennen, während er selbst als Flötist in der Kapelle wirkte. Die beiden Musiker wurden Freunde, Reicha studierte später in Wien bei den selben Lehrern wie Beethoven, Albrechtsberger und Salieri.

Lehrer von Liszt und Berlioz

Bläser schätzen Reicha bis heute, denn er hinterließ an die zwei Dutzend glänzend gesetzte, virtuose Bläserquintette. Die Zeitgenossen sahen in Reicha nicht zuletzt einen erfolgreichen Lehrer: Als Nachfolger Etienne N. Mehuls unterrichtete Reicha am Pariser Konservatorium. Die Liste seiner Studenten ist bemerkenswert: Franz Liszt, Hector Berlioz, Charles Gounod, Cesar Franck und Friedrich von Flotow holten sich bei ihm den letzten Schliff in Sachen »Kontrapunkt und Fuge«. Reicha hatte in Bonn auch Mathematik studiert und sich stets einen Sinn für komplizierte geistige Verbindungen von Ton- und Rechenkunst behalten, die er auch als Theoretiker pflegte, um - wie er es formulierte - die Komponisten
von den sclavischen Fesselen zu befreien, die ihm die Unwissenheit der meisten gesetzgeber für den Gebrauch der Harmonie angelegt haben.
Ihm ging es - bei gründlicher Beherrschung der Satztechnik - um den Aufbruch in neue harmonische Regionen, was seine Lehre faszinierend für junge Komponisten machte, aber unter Traditionalisten auch Skeptiker auf den Plan rief.

Auch formal suchte Reicha immer wieder nach ungewöhnlichen architektonischen Prinzipien. Eines seiner originellsten Werke ist das Quatuor Scientifique, ein Streichquartett, dessen gewohnte vier Sätze durch etliche Fugen-Abschnitte angereichert werden. Dazu eine ausführliche Introduktion - insgesamt kommt das Werk auf 13 Sätze.

Kompositionslehre

Beethovens Schüler Carl Czerny übersetzte Reichas mehrbändige Kompositionslehre (darunter auch ein Leitfaden für Opernkomponisten) ins Deutsche. Unter den zahlreichen Kompositionen Reichas finden sich auch originelle Stücke, die seine didaktischen Ausführungen praktisch erläutern. Mit der Besinnung auf den sogenannten Originalklang setzte Anfang des XXI. Jahrhunderts auch das Interesse für Reicha wieder an. Der Pianist Ivan Ilic ging daran, die Klavierwerke des Komponisten aufzunehmen und förderte dabei unter anderem Kuriositäten wie eine Fantasie zutage, die zur Illustration harmonischer Verwandtschaften in kühnen modulationen durch sämtliche Tonarten mäandert.

Für harmonische Extravaganzen war Reicha zu seiner Zeit auch berühmt. Ilics CD enthält auch eine zuvor unveröffentlichte große Klaviersonate in C-Dur, die an Geläufigkeits-Schaustellung nichts zu wünschen übrig läßt und das verschlungene Passagenwerk gehörig mit überraschenden modulatorischen Wendungen spickt, was zu amüsanten akustischen Vexierspielen für den Hörer führt.

Ebenso unveröffentlicht blieb die originelle Sonate in F-Dur, die - ein absolutes Unikum - mit einer Variationenfolge über den Priestermarsch aus Mozarts Zauberflöte beginnt, während das folgende Menuett ganz deutlich auch in seiner kontrapunktischen Faktur an Haydn anknüpft, den Reicha in seiner Wiener Jahren kennen lernen durfte. Typisch harmonisch weit ausgreifend dann das Capriccio, mit dem die Sonate schließt.

Der Sensationsfund

Die Tagebücher, die 2021 in Paris zufällig aufgefunden wurden, enthalten Skizzen und persönliche Aufzeichnungen Reichas aus der Pariser Zeit und wurden den Musikwissenschaftlern der Mährischen Landesbibliothek in Brünn zur Auswertung übergeben. Diese suchten auch nach einer Erklärung, woher das Konvolut stammen könnte:
Vermutlich waren es entfernte Verwandte Reichas, die in Paris leben und keine Ahnung hatten, was sie da in Händen hielten...


Von der zur selben Zeit entstandenen großen Messe in B aus der Feder des Wiener Hoforganisten Voříšek, also - wie die Symphonie - aus der spätesten Lebensphase des Komponisten stammend, gibt es eine Aufnahme aus Prag unter Paul Freeman.




↑DA CAPO