Sigismund Neukomm
Portrait (E. Kietz/Lith.: Ch. Meder)
Wiener Jahre
Als 19-jähriger ging Sigismund Neukomm nach Wien, wo er über Vermittlung von Komponisten-Bruder Michael zum Studenten Joseph Haydns werden konnte. Der Altmeister der Wiener Klassik war - eben in der Arbeit an seiner Schöpfung - zunächst wenig erfreut über den neuen Schüler, schätzte den jungen Kollegen aber bald sehr und band ihn auch als Assistenten in seine Arbeit an den Schottischen Liedern ein.Aber Neukomm pflegte in der kaiserlichen Metropole nicht nur seine musikalischen Studien. In seinen Erinnerungen schreibt er:
Mein Vater hatte mich gewöhnt, niemals eine Minute Zeit zu verlieren, ich fand dadurch Zeit für andere Studien, welche mir in der Folge sehr nützlich wurden und ohne welche der Musiker niemals den Gipfel seiner Kunst erreicht. Ich fügte zu diesen Studien zu meinem Vergnügen, aber mit meiner ganzen Energie, jene der Naturgeschichte und der Medizin, ohne meine Hauptstudien in irgend etwas zu vernachlässigen
Als Gesangslehrer wurde Neukomm, um seinen Unterhalt zu verdienen, zum Ausbildner von Sängern wie Anna Milder, Beethovens erster Fidelio-Leonore. Zeitgenosse Griesinger würdigt die Verdienste des Lehrers mit denen der nachmals so prominenten Schülerin:
Ihre Stimme tönt, was selten der Fall ist, wie das reinste Metall und sie gibt, da ihr Lehrer Neukomm aus der Haydn-Schule ist, lange, kräftige Noten ohne Schnörkel und überladene Verzierungen.Die Beziehung zur Schülerin hielt Neukomm lange aufrecht, holte sie immer wieder als Interpretin seiner eigenen Werke.
St. Petersburg
Haydn stand mit Empfehlungen Pate bei den ersten Auslands-Engagements seines Zöglings: In Rußland wurde Neukomm zum Mitglied der philharmonischen Gesellschaft, St. Petersburg und wirkte als Kapellmeister am Deutschen Theater, das anders als die italienische und die französische Compagnie in der Stadt wegen seines schwachen Orchesters keine rühmliche Reputation genoß. Neukomms Arbeit aber trug allseits beachtete Früchte und erreichte einen Höhepunkt mit der Uraufführung seiner aus Anlaß der Körnung von Zar Alexander komponierten heorischen Oper Alexander am Indus im September 1804.Komponist der Restauration
Ab 1810 war Paris der Lebensmittelpunkt des Komponisten, Dirigenten und Kritikers. Der feierliche Einzug von König Ludwig XVIII. in Paris nach Napoleons Sturz wurde von Musik aus Neukomms Feder begleitet, der dann bis zum Jahr 1830 als Kapellmeister Talleyrands amtierte und in dessen Gefolge 1814 zum Wiener Kongreß reiste. Hier brachte er unterstützt von Antonio Salieri in der Stephanskirche anläßlich der Feierlichkeiten zum Gedenken an die Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. mit einem Chor von 300 Sängern sein Requiem zur Aufführung. Ausgezeichnet mit dem Orden der Ehrenlegion, nannte er sich danach stets nur noch »Ritter von Neukomm«.
Auf weiten Reisen um die halbe Welt machte er sich als Dirigent von Werken Mozarts und Haydns verdient. Für Aufführungen von Mozarts fragmentarische, Requiem verfaßte er stilsicher das Respnsorium Libera me, das es zu einer beachtlichen Aufführungstradition brachte.
Als Komponist - und nicht zuletzt als virtuoser Organist und Improvisator - machte Neukomm Furore. Der Werkkatalog umfaßt an die 2000 Einträge! Anläßlich eines Gastspiels beim Birmingham Festival nannte man ihn
for some months the most popular person in England.Immerhin hatte ihm nach der Aufführung seines Oratoriums über die Zehn Gebote - Das Gesetz des alten Bundes in Edinburgh Walter Scott persönlich ein Exemplar seines neuesten Romans mit eigenhändiger Widmung überreicht, was für Schlagzeilen sorgte! Auch die Orgel-Improvisationen erregten damals Aufsehen, was sich in Rezensenten-Hymnen auch auf dem Festland niederschlug. Die Allgemeine musikalische Zeitung berichtete über Neukomms Gastspiel:
Sein extemporierendes Spiel ist vortrefflich, bald tief und ausdrucksvoll, alle geheimen Quellen der Harmonie aufschließend - bald erhaben und majestätisch, bald heftig rauschend wie ein Sturmwind, bald die Zuhörer durch Töne der bezauberndsten Milde überraschend.1842 resümierten die »Sonntagsblätter«:
Schwerlich hat je ein Komponist ein äußerlich bewegteres Leben geführt als Neukomm; wie wenig er sich aber durch diese Unstätheit innerlich zerstreuen ließ, zeigt die ungewöhnlich große Zahl seiner Werke, und der Fleiß, mit welchem dieselben ausgearbeitete sind.
Titelblatt der Druckausgabe der »Phantasie« op. 27
Den Romantikern galt Neukomm als hoffnungslos rückwärtsgewandter Klassizist. Womit sie geflissentlich übersahen, daß dieser Komponist im Hinblick auf die Entwicklung der symphonischen Form in Richtung der modernen »Tondichtung« nicht nur mit seiner viersätzigen Symphonie Heroique op. 19 (1818), sondern vor allem mit seinen einsätzigen, formal höchst originellen Orchester-Fantasien noch zu Beethovens schöpferischen Hochzeiten (!) einen stilbildenden Beitrag geleistet hat, den die spätere Forschung bis dato kaum wahrgenommen hat.
Die Zeitgenossen reagierten ebenso überrascht wie neugierig: Die von Neukomm angeregte Aufführung von Joseph Haydns erstem, kaum bekannten Oratorium Il ritorno di Tobia noch zu Lebzeiten des Meisters, 1808, in Wien wurde von Neukomms erster Orchesterfantasie einbegleitet. Dazu hieß es in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung«:
Einen neuen und sehr würdigen Weg zur Bereicherung und Weiterausbildung der Instrumentalmusik hat ein noch junger Künstler von ausgezeichnetem Talent und ausgebreiteten Kenntnissen, Herr Kapellmeister Neukomm aus St. Petersburg, eingeschlagen, in dem er große Phantasien für das vollstimmige Orchester geschreiben hat, deren erste soeben erschienen und hier mit großem Beifall aufgenommen worden ist.Nicht von ungefähr meinte Neukomm in seinen späten Jahren, angesprochen auf den jungen Heißsporn Hector Berlioz:
Lassen Sie den Mann so alt werden, wie z. B. ich geworden, und er wird der Welt noch Bedeutenderes sagen, als je ein geistig beschränkter Nachahmer des Alten oder Mittelalterlichen ihnen verkündet.
Neukomms »Orchesterfantasien«
- Phantasie op. 9 (1809)
- Phantasie op. 11 (um 1810)
- Phantasie op. 27 (1821)
- Dramatische Phantasie über Passagen aus Miltons Paradise Lost