Sonate c-Moll op. 111
1821/22
Nur einmal zuvor hat Beethoven eine ähnlich strukturierte Einleitung für eines seiner großen Klavierwerke geschrieben: Die «Pathetique», ebenfalls in c-moll komponiert, eröffnet er mit den nämlichen Rhythmen der alten, barocken französischen Ouvertürenform. Aber welch ein Unterschied: Wo im Opus 13 auch im Melodischen und Harmonischen die Vorbilder von Händel oder Bach zu fühlen sind, herrscht am Beginn der letzten Klaviersonate grell dissonierende Ausdruckskunst, ein Pathos von ganz anderer, neuer und anarchischer Art. Das schroff abstürzende Eröffnungsmotiv wird von einer Kadenz beantwartet, die von Ferne an jene im Kopfmotiv der «Appassionata» erinnert. Die Kontraste sind gesetzt, werden durch Wiederholung intensiviert. Die doppelt punktierten, also scharfkantigen Rhythmen übernehmen die Führung, reduzieren die Dynamik auf ein geheimnisvolles Pianissimo, aus rumorenden Bässen fährt ein Auftakt in die Höhe. Allegro con brio ed appassionato, der Hauptteil des Satzes beginnt mit dem dreimaligen Anlauf des Themas, das sich, endlich fortgesponnen, in rasante Sechzehntelläufe verliert. Die Bewegung bleibt jedoch nicht konstant, wird zuweilen reduziert, um feinsinnigeren Ausformungen der Motive Raum zu geben und sie dann einer kontrapunktischen Behandlung zu unterziehen, die beinahe den Verdichtungsgrad einer strengen Fugenexposition erreicht. Beethoven treibt sämtliche Parameter der Kompositionstechnik in extreme Bereiche voran. Wie er klaren, geistvollen Kontrapunkt unverbunden neben einstimmig ablaufende Ausdrucksgebärden setzt, läßt er Jetzt auch grelle Einzeltöne im äußersten Höhen- und Tiefenregister des Klaviers aufeinanderprallen. Ein Seitenthema löst sich aus diesem Spannungsfeld. Zweimal erklingt seine mild abfallende As-Dur-Melodie, das zweite Mal reich verziert und in ein Adagio-Tempo zurückgenommen. Schon bricht die stürmische c-motl-Gestik wieder los, zuerst im Baß, dann im Diskant meldet sich das scharfkantige Hauptthema zurück, ein karger, oktavierter Sechzehntellauf beendet die Exposition. Die knappe Durchführung beginnt als KontrastWirkung dazu wieder wie eine Fuge, jagt danach viermal den Hauptthemenkopf durch die Tonarten und erreicht nach 22 Takten schon die Reprise. Diese reichert die Themenwiederkehr allerdings an, führt den ersten Abschnitt durch neue Sequenzbildungen in eine Erregung von geradezu hysterischem Ausmaß, als sänge die Musik sich über ihre Grenzen hinaus. Sie bietet aber im Gegenzug dafür auch dem lyrischen Seitenthema mehr Ausdehnungsmöglichkeit, erweitert es pianissimo um etliche Varianten, eine davon ganz hervorstechend im Baß, die andere, gleich danach, abgezirkelt ausgeziert in der Oberstimme. Erst'dann kehren die c-moll-Motive zurück, stürmen dem Schluß zu, der nach schroffen Akkorden in mildem Licht, piano, plötzlich nach C-Dur moduliert und still verklingt.
Die Tonart der Arietta ist also bereits erreicht, bevor sie eintritt. Ein ruhiges, besonnenes, anmutig singendes Liedthema aus zwei regelmäßig geformten Achttaktern, die jeweils wiederholt werden. «Unschuldig» hat Thomas Mann dieses Lied genannt und «nicht geboren» für die «Abenteuer und Schicksale», zu denen Beethoven es ausersehen hat. Vier Variationen schließen sich an, mit Triolen in der Unterstimme, rhythmischen wie harmonischen Verschiebungen angereichert die erste, im zart rhythmisierten Modus die zweite. Variation Nr. 3 hat man despektierlich den «ersten Boogie» der Musikgeschichte genannt. Tatsachlich verwandelt Beethoven das Thema hier in einen wilden, ausgelassenen Tanz, der einem Orgelpunkt weicht (vierte Variation) über dem sich tastend geheimnisvoll akkordisch die erste Themenhälfte zu konstituieren versucht, während sich die andere, Lagenwechsel, in der Höhe rieselnd und subtil über sanften Staccato-Tonrepetitionen entfaltet. Das Spiel wiederholt sich für den zweiten Abschnitt des Themas, die Musik löst sich in eine wie absichtslos präludierende Ktangkaskade und eine Trillerkette auf. Die Folge der strengen Variationen der Ariette ist beendet, durchführungsartig wird die Motivfolge zersplittert, moduliert nach Es-Dur, wo für einige Takte der Anschein erweckt wird, der melodische Faden würde auf der neuen harmonischen Ebene wieder aufgenommen. Doch kehrt die Ariette bald, umflutet von bewegten Nebenstimmen, in ihrer ursprünglichen Tonart wieder. Diesmal wird sie am Ende hymnisch geweitet und zum grandiosen Höhepunkt gesteigert. Aus dem simplen Lied ist ein Dithyrambus geworden. Ein Triller auf der Dominante G überwölbt dann eine schlichte letzte Wiederkehr des ersten Achttakters - und danach endlich, ganz am Ende der dramatisch-schönen Entwicklung findet der Kopf des Themas seine natürliche Antwort: Die schlichte, echohaft verdoppelte Schlußkadenz der Sonate wirkt wie die Lösung, die während des ganzen, hochkomplizierten Suchvorgangs der Variationen nicht auch nur andeutungsweise gefunden werden konnte. Thomas Mann hat dem Faktum, daß dem Thema kurz vor Schluß eine kleine chromatische Anreicherung beigegeben ist, daß der Tonschritt c-d zu c-cis-d erweitert wird, eine poetisehe Abhandlung gewidmet, hat dieses Faktum darin als «die tröstlichste, wehmütig versöhnlichste Handlung der Welt» bezeichnet. Die so ganz unprätentiöse, so einfache Kadenz, die sich anschließt, alles vorher gesagte, alle «Abenteuer und Schicksale» relativierend, ist dieser Handlung die notwendige Conclusio.