Sonate B-Dur op. 106

1817/18

  • Allegro
  • Scherzo. Assai vivace
  • Adagio sostenuto. Appassionato e con molto sentimento
  • Largo – Allegro risoluto


  • «Da haben Sie eine Sonate, die den Pianisten zu schaffen machen wird, die man in fünfzig Jahren spielen wird,» schrieb Beethoven an seinen Verleger Artaria, als er ihm die 1817/18 komponierte B-Dur-Sonate zur Drucklegung übersandte. Sie erschien als «Grosse Sonate für das Hammer-Klavier. Seiner Kais. König. Hoheit und Eminenz, dem Durchlauchtigsten Hochwürdigsten Herrn Herrn Erzherzog Rudolph von Österreich Cardinal und Erzbischoff von Olmütz . . . in tiefster Ehrfurcht gewidmet von Ludwig van Beethoven. Op. 106.» im September 1819.

    Die Erwähnung des neuen Hammerklaviers im Titel trug dem Werk seinen Spitznamen «Hammerklavier-Sonate» ein, der bis heute besondere Größe, Ansprüche und Ausdehnung der Komposition suggeriert. Tatsächlich wäre eine Ausführung auf den zerbrechlicheren Instrumenten älterer Provenienz nicht mehr möglich gewesen. Wenn Beethoven eine «Symphonie für Klavier» geschrieben hat, dann diese. Friedrich Nietzsche sprach gar vom «ungenügenden Klavierauszug einer Symphonie».

    Jedenfalls: Enorm geweitete Strukturen, gigantische Anforderung an die klanglichen Dimensionen des Klaviers.

    I

    Schon die Einleitungsfanfare sprengt den bei Solosonaten üblichen, intimen Maßstab. Wie in vielen Werken davor, geht Beethoven auch hier vom Dualismus zweier gegensätzlicher Motive aus, die er gleich zu Anfang gegeneinander setzt. Der Fanfare folgt eine weit gespannte, sehr gesangliche Kantilene. Danach entfaltet sich das Hauptthema in einer wahrhaft ins Symphonische gehenden Ausführlichkeit, mündet aber wieder in die modulatorisch veränderten Fanfarenklänge. Das pastorale G-Dur-Seitenthema - wir könnten es als ganz und gar besänftigtes Echo der Eingangsfanfare hören! -wird sogleich durchführungsartig abgehandelt und weit ausschwingend ausgesponnen. Eine akkordisch schwebende Schlußgruppe («dolce ed espressivo» vorzutragen) löst sich über einen Triller in Fortissimoanklänge an das Hauptthema auf. Diese tragen uns, plötzlich in geheimnisvolles Pianissimo getaucht, in die gigantische Durchführung, deren erster Abschnitt fugiert eine Variante des Fanfarenmotivs bearbeitet. Die kraftvollen Rhythmen des Sonatenbeginns kehren zurück und werden, nach einem kurzen Intermezzo der schwebenden Akkordbildungen, ebenfalls kontrapunktisch durchgeführt. So wird modulierend die Reprise errcicht^die .c7nta3bile"e'legato» "diesmal die antithetische Gesangs^linje au^führkh verarbeitet.'So'flutet die D"rchführu^n^h;n,dje, Reprise"herein."ve7schränkt sich mit dieser und ermöglicht, ( die Entwicklung des Hauptthemas nicht in B- sondern in GesDur abgewickelt wird. Dafür wendet sich das Seitenthema - erinnert es mit seinem unbegleiteten Auftakt diesmal nicht noch stärker an die Eingangsfanfare? - nach B-Dur. In der Coda kontrastieren forcierte mit flüsternden Varianten des Fanfarenmotivs in abrupter Folge.

    II

    Ein hurtig und prägnant rhythmisiert dahinhuschendes «Assai vivace» steht als Scherzo an zweiter Stelle. Ausschließlich aus Dreiklangszerlegungen, in weichen Legatobögen zwischen bmoll und Des-Dur schwebend, besteht der Trio-Teil. Ein kurzer Presto-Abschnitt, formuliert darauf ein geradezu zynisches Staccato-Satyrspiel, indem er dasselbe Material ins Karikierende wendet. Auch das Scherzo bleibt nach seiner Rückkehr von soleher Behandlung nicht verschont, es rennt sich zuletzt in einer fast ratlosen Gegenüberstellung des Grundtons B mit dem «artfremden» H fest, das sich erst durch eine wilde Geste in gestoßenen Oktaven abschütteln läßt. Eine Erinnerung an das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Grundtönen, das schon im Stirnsatz zuweilen zu bemerken war? Verschmitzt grüßt jedenfalls zuletzt noch einmal das Scherzo-Thema.

    III

    Was folgt, haben Exegeten schon einmal als «das Allerheiligste des Tempels Beethovenscher Kunst» genannt. Von Hugo Riemann stammt diese Bezeichnung für das Adagio sostenuto, dessen Vortragsbezeichnung den Zusatz «Appassionato e con molto sentimento» trägt, womit von vornherein der hohe emotionale Gehalt der Musik dokumentiert ist. In fis-Moll erklingt einer der erhaben-andächtigen Gesänge des späten Beethoven, eines Menschen, der zur Zeit der Arbeit an diesem Werk schrieb: «Was mich angeht, so bin ich oft in Verzweiflung und möchte mein Leben endigen... Gott erbarme sich meiner, ich betrachte mich so gut wie verloren.» Verlorenheit spricht aus dem Adagio der «Hammerklavier»-Sonate zwar gewiß nicht, aber jene Abgeklärtheit, die scheinbar alle Grenzen von Zeit und Raum außer Kraft zu setzen vermag und endlose musikalische Atemzüge vor den Hörern ausbreitet.

    Da sind kostbaren Momente des Innehaltens wie jene, die in der vollen Blütephase der Adagio-Melodie durch eine plötzliche harmonische Rückung aus der fis-Moll-Welt nach G-Dur rückt, neues Licht, neue Luft für einige Augenblicke. Dann wechselt die Musik wieder auf ihre Bahn. Immer wieder finden sich in diesem transzendenten Satz Stellen, die suggerieren, wir verlören meditativ, oder mitgerissen von einer ergreifenden Steigerungswelle den natürlichen Fortgang der unendlichen Melodie aus den Augen. Immer wieder aber knüpft die Musik mit schlafwandlerischer Sicherheit dann wieder an den verloren geglaubten Entwicklungsprozeß an. In Wahrheit laufen die Geschehnisse in zwei großen Wellen vor uns ab, die einzelnen Abschnitte kehren verwandelt wieder, durch unzählige Auszierungen, Einschübe und Umschichtungen verändert - und doch in ihrer Dynamik nicht auf ein imaginäres Ziel gerichtet, selbstgenügsam, von einer höheren Einheit und Ruhe kündend. Auch durch die stärksten Veränderungen hindurch erleichtern dem Hörer manch charakteristische Versatzstücke die Orientierung: die schon erwähnte harmonische Rückung, die seltsam aus dem Taktgefüge verschobene dreizählige Begleitfigur am Beginn des zweiten großen Steigerungsbogens, die im Baß und im Diskant fallenden Quarten der D-Dur-Gegenmelodie, die bei ihrer Wiederholung einheitsstiftend (oder auch: einer regelrechten Reprise entsprechend) nach Fis-Dur gerückt ist. Was bleibt aber, ist die Empfindung des unendlichen Strömens, in deren übergeordnetem Gesetz auch die ausdrucksstärkste AufWallung harmonisch aufgeht.

    Übergang

    Aus der Trance findet die Musik ~ wohl auch der Interpret und das Publikum - nur schwer in die «Realität» zurück. Diesen Zustand komponiert Beethoven aus. Ein rezitativisches Largo eröffnet den letzten Teil der Sonate. Da ist es, als probierte der Pianist zunächst einmal lediglich sein Klavier, schlägt den Ton F in allen Oktaven an, präludiert ein wenig, singt dann ein beredtes Rezitativ, versucht einen furiosen Satzbeginn, verfällt erneut in Grübelei und tastet sich dann über einige imnner rascher wiederholte Akkorde an das eigentliche Finale heran.

    IV

    Mit einem kühnen Lauf erreicht er dann das Fugenthema, das aus einem Triller und einer darauf folgenden, schier endlosen Kette von Sechzehntelnoten. Der Triller ermöglicht dem Hörer dann auch ein wenig die Strukturen des wilden kontrapunktischen Gewebes zu durchhören. Denn Beethovens Konstruktion ist von atemberaubendem Schwung. Die Fugendurchführungen werden zu schwindelerregenden Anhäufungen von surrenden Figurationen, in denen sich die Triller wie Inseln ausunehmen. Ihre Verdichtung läßt jeweils auf intensivere, enger geführte kontrapunktktische Arbeit schließen; Beethoven wendet alle Möglichkeiten, die ihm der schulmäßige Kontrapunkt für eine Fuge bereithält, dreht das Thema um, vergrößert es, tut all das allerdings nach seinem Gusto, einem höheren Gesetz als dem der Formenlehre folgend. Schließlich geht es hier darum, dem introvertierten Geist des Adagios ein nach außen gewandtes, brillantes Pendant zu verschaffen, dem es aber dennoch nicht an Tiefgang gebricht. Nur die Zwischenspiele bieten dem Ohr des Hörers Auflockerung, Terzenparallelen zunächst, dann eine kurze kantable Melodielinie.

    Das Fugengewebe droht in seiner Intensität dann irgendwann außer Kontrolle zu geraten, scheint über heftigen Triller-Ballungen zum Einsturz zu kommen. In großer Verhaltenheit setzt in getragenen Vierteltönen ein neues Fugenthema an, wird zunächst behutsam durchgeführt, bald aber wieder überwuchert und vom Elan seines Vorgängers, der doch das Schlußwort hat. Noch einmal drohen sich die Triller-Aggromerationen zu verselbständigen - eine der harmonisch kühnsten Passagen der klassischen Klavierliteratur! - aber der zuletzt klar gefestigte Grundton der Sonate bleibt machtvoll bestätigt.

    ↑DA CAPO