Sonate e-Moll op. 90

1814

  • Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck.
  • Nicht zu geschwind und sehr singbar vorgetragen


  • Beethovens Adlatus und erster Biograph Anton Schindler weiß zu berichten:
    Der feine Sinn des Grafen Lichnowsky, dem diese Sonate gewidmet ist, ließ ihn bei näherer Bekanntschaft mit dem Werke besondere Intentionen darin vermuten. Auf seine Anfrage diesfalls erwiderte der Autor, er habe ihm seine Liebesgeschichte in Musik setzen wollen und wünsche er Ueberschriften, so möge er über den ersten Satz schreiben: Kampf zwischen Kopf und Herz, und über den zweiten: Conversation mit der Geliebten. - Graf Lichnowsky hatte sich nach dem Tode seiner ersten Gemahlin in eine sehr geschätzte Opernsängerin verliebt, seine Agnaten protestirten jedoch gegen eine eheliche Verbindung. Erst nach mehrjährigem Kampfe gelang es ihm 1816, alle Hindernisse zu besiegen.
    In jüngster Zeit ist die sonst bei «geheimen Programmen» skeptische Musikforschung geneigt, diese Geschichte zu glauben, finden sich doch in dem Werk erstaunlich viele Topoi, die auf eine »Liebesmusik« hindeuten könnten. Was Lichnowskys Beziehung zur Zuckerbäckerstochter Josefa Stummer betrifft, die als Sängerin - unter anderem als Zerlina in Mozarts «Don Giovanni» - im Wiener Musikleben Karriere machte: Das war Grund für den Wiener Tratsch und Klatsch. Und zwar, anders als Schindler es darstellt, noch zu Lebzeiten der Gräfin! Josefa Stummer hatte im Juni 1814 eine uneheliche Tochter zur Welt gebracht, die später tatsächlich als Tochter des Grafen legitimiert wurde. Das war jedoch erst 1825,acht Jahre nach dem Tod von Lichnowskys erster Frau und fünf Jahre nachdem der Graf seine Geliebte - heimlich in Graz - geehelicht hatte.

    Als Beethoven aus Baden Lichnowsky im September 1814 die Widmung der neuen Sonate - als Dank für bereits erwiesene Gönnerschaft - avisierte, war die betrogene Gräfin noch am Leben und die Geburt der unehelichen Tochter im tratschsüchtigen Wien gerade Stadtgespräch. Wenn Schindlers Angaben stimmen, dann könnte Beethoven in diesem Fall einen liebevollen Beweis der Zuneigung zu seinem Widmungsträger komponiert haben und ein Stück kleine Sittengeschichte zum Weltkulturerbe gemacht haben. Ob die weitgehenden Spekulationen der jüngeren Musikhistorie zutreffen, denen zufolge die imitatorischen Partien am Ende des Durchführungsteils im Kopfssatz sogar als musikalische Schilderung der Geburt der unehelichen Tochter gedeutet werden könnten, darf dahingestellt bleiben. Faktum ist, daß Beethovens Musik auch diesmal wieder seinem heroischen Image widerspricht und geradezu zärtliche, jedenfalls immer poetische Züge annimmt.

    Schon die Vortragsbezeichnungen lassen auf Gefühlstiefe schließen: «Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck» ist der erste Satz vorzutragen, der Kampf zwischen Kopf und Herz, wie Schindler ihn nannte. Das punktierte, mehrfach wiederholt und zur aufstrebenden Melodie gesteigerte Anfangsthema wäre demnach der räsonierenden «Kopfwelt» zuzurechnen. Das lyrisch-liedhafte G-Dur-Thematik, die antwortet, repräsentiert dann das Herz. Sehnsuchtsvolle Seufzer und eine aus der Tiefe aufsteigende Oktav-Aufwallung führen zur Entfesselung der zuvor zurückgehaltenen Emotionen. Die Musik gewinnt mit den abstürzenden Läufen an Dynamik, entfaltet sich über repetierenden Akkorden kraftvoll, bis - piano, über schwebenden Sechzehntelfigurationen - die Seufzermotive sich zu einem expressiven Abgesang in h-moll verdichten. Die Durchführung schlägt Kapital aus der nahen Verwandtschaft, ja rhythmischen Identität von Kopfmotiv und Seufzermotiv, bestreitet mit der Synthese beider weitausgreifende Modulationen, die nach chromatischen Staccatogängen in Zitate des lyrisehen «Herz»-Motives übergehen. Dieses nimmt durch Weitung der Intervalle immer leidenschaftlichere Züge an, bis die eng ineinander verschlungenen Imitationen kurzer Motiv-Teile zu einem der subtilsten Übergänge der Musikgeschichte führen: Dank Beethovens Variantentechnik verwandelt sich eine scheinbar athematische Figur sukzessive, zuletzt durch rhythmische Umdeutung, in das Hauptmotiv! Wir haben unversehens die Reprise erreicht, die regelrecht abläuft. Die sehnsuchtsvollen Seufzer beschließen den Satz.

    Der zweite Satz ist nun gewiß ohne Übertreibung als Liebeslied zu deuten. «Sehr singbar vorzutragen», weisen die Melodiebögen mehr als einmal auf Schubert voraus. Terzen- und Sextenparallelen geben dem Satz romantisches Gepräge. Zwar bleibt die Klangwelt nicht frei von schmerzlichen Eintrübungen, aber der warm und weich strömende Gesang vermag sich immer wieder durchzusetzen, «bald schmeichelnd und liebkosend, bald melancholisch», wie Schindler schreibt. Jedenfalls endet die Sonate in vollendeter Harmonie.

    ↑DA CAPO