Fidelio
Hört er Fidelio-Aufnahmen unter Dirigenten wie Bruno Walter oder Karl Böhm, überkommt den Musikfreund die Ahnung, die Originalklangbewegung könnte unserem Opernleben längst den Todesstoß versetzt haben.
zum Stück
Politische Umstände haben den Erfolg von Beethovens Oper verzögert. Die Uraufführung im Theater an der Wien, 1805, erlebten vorrangig Offiziere der napoleonischen Truppen, die kurz zuvor die Stadt erobert hatten. Die Einheimischen hatten andere Sorgen.
Erst in der Kongresszeit war die Zeit reif. Der Komponist hatte etliche Veränderungen an seinem Werk vorgenommen. In der endgültigen Version von 1814 ging Fidelio dann über die Bühnen der Welt.
Die Urfassung
Was der Komponist ursprünglich wollte, lässt sich auf Einspielungen der Urfassung nachhören. Ausführlicher wird die Geschichte da erzählt, bei zunächst stärkerer Betonung des Singspieltons.
Vor einigen Jahren entstand in Wien mit dem RSO eine Gesamtaufnahme mit Camilla Nylund, Kurt Streit und Peter Rose unter Bertrand de Billy. Dank des kraftvollen Zugriffs des Dirigenten kommen dabei die symphonischen Elemente ebenso adäquat zum Klingen wie die pointierten Akzente des Opernbeginns.
Paradigmenwechsel
Das ist angesichts einer Aufnahme aus dem 21. Jahrhundert gar nicht so selbstverständlich, denn unter dem Eindruck der Originalklangrevolution hat sich der Blick auf Beethoven gehörig verändert. Wie viel dabei verloren gegangen ist, erfährt der Musikfreund erst, wenn er seiner Erinnerung auf die Sprünge hilft - oder, falls er dafür zu jung ist, indem er historische Aufnahmen zurate zieht. Da kommt er aus dem Staunen nicht heraus.
Die "großen Alten"
Gewiß, unter Dirigenten wie Otto Klemperer oder Wilhelm Furtwängler hat der erwähnte Singspielton von Marzellines Arie oder der sogenannten Goldarie des Rocco - die Herbert von Karajan (wie Beethoven selbst in der zweiten Version von 1806) gestrichen hat, um rascher "zur Sache" zu kommen - keine rechte Chance.
Das große Drama, das sich nach der ersten Verwandlung entwickelt, entfaltet hingegen unter dem Zugriff der "großen Alten" unter den Dirigenten seine ganze Gewalt.
Das ist nicht nur eine Frage des "Tonfalls". Stutzig wird man vielleicht, wenn man einen der beiden New Yorker Live-Mitschnitte unter Bruno Walters Leitung hört, der zu Beginn "leichtergewichtig" zu agieren scheint als die Kollegen, unter dessen Führung aber in der Leonoren-Arie (mit Aplomb gesungen von Kirsten Flagstad) oder in den Szenen im Kerkerbild ungeahnte Energien und Emotionen frei werden.
Das ist jene Spontaneität, jener Mut zur großen Geste, ohne den Beethovens Musik amputiert erscheint. Heute fehlen diese Eigenschaften oft auch Dirigenten, die sich den extremen Auswüchsen der Originalklangmode widersetzen. Die Luft scheint raus zu sein.
Karl Böhm: Großes Finale
Bei Karl Böhm war sie noch drin. Wer die Leonoren-Ouverture vor dem Schlußbild unter seiner Führung gehört hat, vergisst sie nicht. Die Wirkung stellt sich übrigens auch beim Anhören einer der Mitschnitte ein, die sich von "Fidelio"-Aufführungen unter Böhm erhalten haben.
Seither ist diese Musik kaum wieder so mitreißend musiziert worden.
Was sonst unbedingt gehört haben muss, wer mitreden möchte?
Die Leonoren-Arie mit Birgit Nilsson unter Erich Kleiber, dessen Kölner Aufnahme insgesamt fulminant ist. Dieselbe Nummer, gesungen von Christa Ludwig unter Klemperer. Pizarros Rachearie mit Paul Schöffler (am besten unter Walter, 1951). Und (trotz mangelhafter Artikulation): den Beginn des zweiten Akts mit Jon Vickers, der herzzerreißenden Klagelaut und erlösende Vision vereint wie kaum ein Zweiter.