Die Goldberg-Variationen
Mythologie
Anläßlich seines Aufenthalts in Dresden im November 1741 muiszierte Bachz für den russischen Gesandten am sächsischen Hof, den Grafen Hermann Karl von Keyserlingk. Der Graf war von fragiler Gesundheit und litt an Schlaflosigkeit. Um aufgeheitert zu werden während der qualvollen Nächte, erbat er sich Musik und bestellte beim ThomaskantorKlavierstücke ... die so sanften und munteren Charakters wären, dass er dadurch in seinen schlaflosen Nächten etwas aufgeheitert werden könnteBachs Schüler Johann Gottlieb Goldberg, ein Protegé des Grafen, war als Interpret ausersehen. Das Ergebnis dieses Ansinnens waren die heute nach dem Cembalisten benannten Goldberg-Variationen, die ihre Wirkung beim Auftraggeber nicht verfehlten. Der Graf war dermaßen begeistert, daß er dem Komponisten einen mit 100 Louisdor gefüllten goldenen Becher überreichen ließ, eine wahrhaft fürstliche Entlohnung. Bach-Biograph Forkel meint:
Bach ist vielleicht nie für eine seiner Kompositionen so belohnt worden, wie für diese.
Die Wahrheit
Vielleicht war all das eine Erfindung. Jedenfalls wäre Goldberg ein sehr frühreifer Instrumentalist gewesen, wenn die Geschichte stimmen sollte. Zur Zeit der Drucklegung der Goldbergvariationen war er erst 14 Jahre alt. Überdies enthält der Erstdruck, Nürnberg 1742, kein Wort über eine Widmung, was nicht nur im Fall der enormen Summe von 100 Louisdor kaum glaubhaft wäre, wenn Keyserlingk wirklich der Auftraggeber war.Daß die Goldbergvariationen eines der bedeutendsten Variationswerk der abendländischen Musikgeschichte darstellen, ist hingegen ein Faktum. Beethovens Diabelli-Variationen dürfen einen ähnlichen Rang beanspruchen, danach muß der Musikfreund bereits behutsam vorgehen beim Zusammenstellen seiner privaten Rangordnung.
Gedacht war das Werk von Bach, wie es auf dem Titelblatt heißt, als:
Clavier Übung bestehend in einer Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clamdmbal mit 2 ManualenDas Wort Clavierübung hat Bach von seinem Vorgänger als Thomaskantor in Leipzig übernommen: Doch was für Johann Kuhnau passend scheinen mochte, klingt für eines der originellsten und facettenreichsten Werke (nicht nur) des Hochbarock wie groteske Tiefstapelei. Freilich bieten die Variatioen auch reichlich Gelegenheit zum Klavierüben, darüber hinaus aber bieten sie ein Hör- und Studiervergnügen außerordentlichen Zuschnitts, architektonisch raffiniert, aber gleichzeitig übersichtlich gebaut, abwechslugnsreich in den Stimmungen und - wenn man möchte - geistreicher Denksport: Man versuche einmal, den Stimmenverlauf in den Kanons - also jeder dritter Variation - während der Aufführung zu verfolgen und nicht aus der Hörkurve zu kippen . . .
Die Aria - also das Variationsthema - findet sich bereits im zweiten der Notenbücher für Anna Magdalena Bach, eine reich verzierte, aber schlichte Melodie mit schlichter Begleitung. Das eigentliche Thema des folgenden Variationszyklus liegt aber in der Unterstimme: Genau genommen, stellen die Goldbergvariationen eine gigantische Passcaglia über einen gleichbleibenden Baß dar.
In diesem Sinne hat sich später einmal Johannes Brahms geäußert: Bei variationen, meinte er, bedeute ihm beinahe ausschließlich der Baß etwas.
Die Variationen, die nun folgen, 32 an der Zahl, kosten alle Möglichkeiten der Tanz- und Unterhaltungsmusik jener Zeit aus, Wir finden Passepieds und Sarabanden, Fugen, Toccaten, und als deutlich gliederndes Element genau in der Mitte des Werks sogar eine französische Ouvertüre, wie am Beginn der großen Orchestersuiten Bachs. Den Abschluß bildet - der Fugen und kontapunktischen Kunststücke hat man zuvor genug erlebt! - ein Quodlibet, in dem Bach zwei Gassenhauer einarbeitet, ehe ganz am Ende die schlichte Arie Wiederkehrt und den Zyklus ruhig ausklingen läßt, wie er begonnen hatte.Weitere gliedernde Maßnahme des 80-minütigen Vergnmügens: Jede dritte Variation ist - apropos kontrapunktische Kunst - ein Kanon. Und zwar ansteigend: Kanon in der prim, Kanon in der Sekund, etc. bis zur Variation Nr. 27, die ein Kanon in der None ist - an Stell des Dezim-Kanons steht das besagte Quodlibet, das die simple Schlager-Melodik einem kontrapunktischen Kunststück höherer Ordnung zuführt.
Die meisten Kanons läßt Bach mit der vorangehenden Variation durch eine quirlige Toccata einbegleiten. Für einen besonderen Ruhepunkt im meist heiter bewegten Geschehen sorgt die Variation Nr. 25, ein melancholisch schöner Adagio-Gesang in g-Moll. Den Grundton G behält Bach aber während der gesamten großen Reise unverrückt bei.