Texte 2020


28. Dezember

Zwischentöne


»Badner Madln« liebt man von Paris bis Missouri

Das kommende Neujahrsprogramm erinnert an die Tradition der kaiserlich-königlichen Militärmusik, die gern völlig falsch bewertet wird.

Riccardo Muti ist etwas gelungen, was schon der eine oder andere Neujahrsdirigent sich gewünscht hat: Auf seinen Wunsch nahmen die Philharmoniker Karl Komzaks Walzer »Badner Madln« ins Programm auf. Bis dato galt das Stück nicht als »papabile».

Wobei aus der Geringschätzung für die einstmals extrem populäre Komposition die in unseren Tagen ein wenig verrutschte Perspektive auf die kaiserlich-königliche Militärmusik abzulesen ist. Dabei waren einige der wichtigsten Komponisten der Wiener Musik im Übergang von der sogenannten goldenen zur silbernen Ära Militärkapellmeister; Carl Michael Ziehrer ebenso wie Franz Lehar.

Die Vorstellung, diese Männer hätten damals Blasorchester befehligt, führte zur irritierenden historischen Falschmeldung, die Uraufführung unseres geliebten »Donauwalzers« wäre dereinst im Dianabad-Saal von der Blasmusik begleitet worden.

Natürlich verfügte auch die bei dieser Gelegenheit aufspielende Infanteriekapelle (Nr. 42, König von Hannover) über ein solides Fundament an Streichinstrumenten. Wie die »Kapellen« von Ziehrer, Lehar oder eben auch Karl Komzak.

Wobei zu beachten ist, daß es gleich drei Komponisten dieses Namens gab: Vater, Sohn und Enkel Komzak hörten auf den Vornamen Karl, oder besser: Karel, wie wohl noch Antonin Dvorak den Kapellmeister jenes Ensembles genannt haben dürfte, in dem er seine ersten Sporen als Bratschist verdiente.

Aus der Kapelle von Komzak senior (1823-1893) ging später das Orchester des Prager Interimstheaters hervor, dessen Dirigentenstab aus Komzaks Händen bald niemand Geringerer als Friedrich Smetana übernehmen sollte.

Komzaks Sohn, Karl II. (1850- 1905), wurde seinerseits ein glänzender Orchestererzieher und schaffte es, die Kapelle des 84er-Regiments auf ein solches Qualitätsniveau zu bringen, daß sie anlässlich der Weltaußtellung in Paris den Preis der »besten Militärkapelle« errang.

Auch bei der Weltaußtellung in St. Louis in den USA (1904) war Komzak dann dabei. Da war er längst Leiter des von ihm reorganisierten Badener Kurorchesters. Man jubelte ihm zu wie zuvor Johann Strauß!

Auch der Enkel (1878-1923) hat komponiert, nachdem sein Vater bei dem Versuch, auf einen abfahrenden Zug aufzuspringen, gestorben war. Doch verdiente Karl III. sein Geld vor allem als Geflügelzüchter.

Des Vaters »Badner Madln« aber haben die Wiener Philharmoniker unter Hans Knappertsbusch die vielleicht saftigste, herzhafteste ihrer Walzer-Aufnahmen gewidmet. Deren Auftakte muß gehört haben, wer am Neujahrstag mitreden möchte!


24. Dezember






Ein Ton kann uns erlösen


Die tröstliche Komponente, die besinnliche Musik für die Hörer bereithält, klingt nicht nur in Weihnachtskantaten an. Sensible Geister wie Thomas Mann erlauschen sie sogar in den kleinsten Nuancen mancher klassischer Meisterwerke.

Es hat immer auch etwas mit dem Nachhausekommen zu tun, mit einer Heimkehr, dem Sichvergraben ins Uruntergründige. Tristan singt davon, wenn er in flagranti ertappt Isolde zur letzten Fahrt ins »Wunderreich der Nacht« bittet. Ins »dunkel nächt'ge Land, daraus die Mutter mich entsandt».

Dorthin schaukeln sie uns ja zurück, wenn sie uns in den Schlaf singen. Mit der Kraft, der unausweichlichen Sogwirkung der Wiegenlieder. Aber nicht allen ist gegeben, den Zauber zu üben. Wir hören das Jahr für Jahr am Beginn der Kantate Nr. 2 von Bachs »Weihnachtsoratorium». Da singen die Engel ihren »süßen Gesang». Aber die Hirten, die es ihnen mit ihren Schalmeien und Dudelsäcken gleichtun wollen, scheitern kläglich. Die Szene ist von entzückender Plastizität: Hier der himmlisch ruhevolle Streicherklang, da die täppischen Bläserakkorde. Immer wieder setzen die Engel an, aber die Hirten bringen nichts Feinsinniges zustande.

Kaum ein bildender Künstler konnte diese »Verkündigung über den Hirten«, das Staunen des Menschen über die Offenbarung des Wunders so sinnfällig werden lassen, wie Bach das mit seiner Musik gelang. In der höheren Harmonie gehen sie dann ja doch alle miteinander auf, Engelschöre wie Schäferlieder.

Beethovens letzte Klaviersonate. Diese »Heimkehr« kann uns Musik vermitteln, nicht nur durch ungetrübte Konsonanz, auch durch melodische Nuancen, die beinahe Vollkommenes »erlösen« können. Thomas Mann läßt es in seinem »Doktor Faustus« beschreiben, wie Beethoven am Ende seiner letzten Klaviersonate aus einem langen, ätherischen, unwirklichen Schwebezustand durch einen einzigen hinzugefügten Melodieton ins Unendliche gelangt.

»Dieses hinzukommende cis ist die rührendste, tröstlichste, wehmütig versöhnlichste Handlung von der Welt. Es ist ein schmerzlich liebevolles Streichen über das Haar, über die Wange». Eine Art Wiegenlied, wieder einmal.

»Gibt es kein Hinüber?«, fragt Ariadne, »sind wir schon da?« Ahnungen der Geborgenheit klingen manchmal herüber in unsere Welt, »für den, der heimlich lauschet.«

Johannes Brahms hat diese Gedichtzeile von Schlegel gern zitiert, weil er den »leisen Ton«, der da zu vernehmen sein soll, selbst immer wieder zu bannen versucht hat, etwa im wunderbaren Es-Dur-Intermezzo aus seinen späten Klavierstücken (op. 117/1).

Den magischen »Ton« hat er schon in der Musik seines großen Vorbilds Robert Schumann »heimlich« erlauscht: »Wie aus der Ferne«, heißt es in dessen »Davidsbündlertänzen«, wo in die G-Dur- und C-Dur-Umgebung mit all ihrem vorschriftsmäßigen »guten Humor« mit einem Mal eine weltentrückte H-Dur-Musik hereinklingt, unhörbar fast, aber berührend innig.

Man muß Wilhelm Kempff das spielen gehört haben, um zu begreifen, wie wir in sehnsuchtsvoller Ahnung eine Erinnerung wiederfinden können, die an unsere Wiegenlieder, ans »Streichen übers Haar».

Ins »nächt'ge Land». Sogar die Moderne geleitete uns hie und da zurück ins wohlige Dunkel. Alban Bergs Violinkonzert etwa spannt einen weiten Bogen aus kindlich-spielerischer Traumverlorenheit über das kurze, tändelnde Menschenleben der charmanten Alma-Mahler-Tochter Manon, die zuletzt gnädig aus den grausamen Qualen ihrer Todeskrankheit erlöst wird. Berg macht das mit dem Eintritt eines Bach-Chorals begreiflich, dessen tröstliches Aufleuchten (»Es ist genug, Herr, wenn es dir gefällt, so spanne mich doch aus») zu einem der schönsten Augenblicke der Musikgeschichte wurde.

Aus tiefsten Kontrabass-Tiefen heraus steigt dann die Zwölftonreihe - ausgerechnet! - in die lichtesten Höhen des Violinsolos, und wir finden aus existenziellen Abgründen zur Verklärung, zu einem wunderbar ausregistrierten B-Dur-Akkord. Heim.


23. Dezember



Trondheim gibt uns eine anregende Musikstunde


Wiener Klassik. Wenn ein Meister für einen dilettierenden König komponiert, heißt das noch nicht, daß er weniger gute Musik schreibt.

Diese CD, schon einige Zeit im Handel, darf nicht unter dem Radar von Musikfreunden, die an der Wiener Klassik interessiert sind, bleiben. Viel zu wenig beschäftigt man sich mit der Frage, wie die Kunst Haydns, Mozarts und in der Folge jene des Jahresregenten Beethovens eingebunden ist in die Zeitläufte der Musikgeschichte. Daß Beethoven, wie Graf Waldstein das so schön ausgedrückt hat, »Mozarts Geist aus Haydns Händen empfangen« konnte, geschah ja nicht im luftleeren Raum.

Zu den Wegbereitern jenes Vokabulars, das wir heute hörend mühelos dem »klassischen Stil« zuweisen, gehörten die Meister der Mannheimer Hofkapelle. Von Johann Stamitz und seinen Söhnen kennt man immerhin die Namen. Selten aber hört man ihre Musik. Die Flötistin Ana de la Vega und der Oboist Ramon Ortega Quero haben mit den schwungvoll und dank eines profunden Bass-Fundaments auch klangsatt musizierenden Trondheim Soloists eine CD aufgenommen, die zwei Konzerte von Carl Stamitz (1745-1801) mit zweien der »Lirenkonzerte« von Joseph Haydn kombinieren.

Haydns musikalische Dialektik

Das ist so amüsant wie lehrreich. Denn Stamitz' Musik plaudert schon anregend in jener Sprache, die sein Vater entscheidend mitgeprägt hat: Wir schlendern auf halbem Weg, haben den Tonfall des barocken »Concertare« noch im Ohr, ahnen aber schon die Möglichkeiten, die uns die musikalische Dialektik bald bieten wird.

Und Haydn nutzt sie dann mit virtuoser Hand. Umso bewundernswerter, als er sein Können in einen leichtgängigen, wenn auch keineswegs leichtgewichtigen Divertimento-Stil verpackt. Die Concerti für die »Lira Organizzata« entstanden für den König von Neapel, dessen Lieblingsinstrument diese noble Drehorgel-Variante war, und mußten sich den beschränkten Möglichkeiten des Instrumentariums anpassen; und wohl auch den manuellen Fertigkeiten des musizierenden Monarchen.

Das war ja stets die Stärke dieses Meisters: Er serviert hintergründigste Pointen mit Unschuldsmiene. Immerhin entstanden diese Werke in seiner Reifezeit, und das eine oder andere wird der Kenner seiner Londoner Symphonien auch wiedererkennen, denn Haydn hat es, kaum verändert, in größer angelegte Werke übernommen.

Die Originalfassungen klingen bei den beiden exzellenten Solisten so munter wie beschwingt und werden herzhaft ausgespielt. De la Vegas dunkel-schöner, warmer Flötenton kontrastiert zum silbrigen Oboenklang, findet mit ihm aber auch immer wieder zu vollkommen harmonischen Parallelführungen. Die Trondheimer Solisten, geführt von Geir Inge Lotsberg, sind freundliche Partner der Solisten, lauschen aufmerksam, sorgen für die nötige Unterstützung, setzen aber, wo es nötig ist, auch energische Antriebskräfte frei. Klassisch!


21. Dezember


Zwischentöne

Die kaiserlichen Zensoren bringen uns noch 2020 um Pointen


Selbst ein Dichter wie Hugo von Hofmannsthal zielte hie und da auf die Region unter der Gürtellinie, was Richard Strauss sich gern gefallen ließ.
Opernkenner werden sich vermutlich gefragt haben, ob man an der Staatsoper im Zuge einer musikalischen Neueinstudierung der altgewohnten - gottlob nicht ausrangierten - Schenk-Inszenierung des »Rosenkavaliers« endlich auch einige der Kürzungen eliminieren würde, die seit Jahr und Tag in dieser Partitur gemacht werden.

Vor allem die sogenannte »Mägdeerzählung« des Ochs auf Lerchenau im ersten Aufzug hat die Aufführungspraxis auf ein Minimum zusammengestutzt. Das hatte ursprünglich mit der kaiserlichen Zensur zu tun - in Deutschland wie in Österreich. Der Baron schwärmt in dieser Szene nämlich vom Leben auf den lerchenauischen Gütern und den Mägden, die sich dort tummeln: »Und überall singt was und schupft sich in den Hüten und melkt was und mäht was und planscht und plätschert was im Bach und in der Pferdeschwemm«, heißt es in Hofmannsthals Text, den Strauss mit allen erdenklichen akustischen Assoziationen zu den handgreiflichen Beschreibungen in Musik gesetzt hat.

Überdies preist Ochs auch, »wie sich das mischen tut«, nämlich »das junge, runde böhmische Völkel schwer und süß, mit denen im Wald mit denen im Stall, dem deutschen Schlag, scharf und herb wie ein Retzer Wein». Ein solcher »kleiner Grenzverkehr« war für die Zensoren untragbar. Daher brachte man nicht einen, sondern gleich zwei Striche in dieser Szene an und zerstörte damit nicht nur den, zugegeben, unter die Gürtellinie zielenden Witz der Dichtung, sondern auch das Formgefüge der Musik. Aus einem großen Monolog, dem eine kurze Coda folgt, in der auch die Marschallin und Octavian mitsingen, ist ein großes Terzett mit einem kurzen Vorspiel geworden, das Ochs allein gestaltet.

Wie das wirklich klingen sollte, hört man im Übrigen nicht einmal auf den sogenannten Gesamtaufnahmen, die sich beinah alle an die übliche Strichfassung halten. Unter den raren Ausnahmen sind die Wiener Einspielungen Georg Soltis und Erich Kleibers, dessen Sohn Carlos sich hier - und das ist einer der wenigen Fälle! - einmal nicht an seinem genialischen Vater orientiert und in seinen legendären Aufführungen in München und Wien die Kürzungen übernommen hat.

Wer nachhören möchte: Bei Erich Kleiber in der grandiosen, in ihrer Gesamtheit bis heute nicht übertroffenen Studioproduktion mit Ludwig Weber und bei der im Netz verschiedentlich greifbaren Aufnahme mit Georg Hann aus München unter Clemens Krauss wird die ganze Erzählung gesungen; überdies in beiden Fällen zu meisterlicher, feinst schattierter und ironisch »kommentierender« Orchesterbegleitung.

Unser Podcast »Musiksalon« (diepresse.com/musiksalon) bietet einen Vergleich der Versionen.


18. Dezember



So satt und prächtig darf Barock klingen


CD-Edition. Sämtliche Aufnahmen, die der Dirigent, Cembalist und Organist Karl Richter für die Deutsche Grammophon gemacht hat, sind auf 100 Silberscheiben gesammelt erhältlich und lassen uns stilistische Grundfragen erörtern.

»Weitsprung von der Orgelbank«, titelte eine Münchner Zeitung, als das Bayerische Staatsorchester unter Karl Richter einst Bruckners Achte musizierte. Dieser Dirigent war eindeutig registriert: Deutschlands führender Kritiker, Joachim Kaiser, schrieb: »Wer Bach sagt, spricht auch von Karl Richter.«

Karl Richter war auch hierzulande der Mann für die Barockmusik. Erinnert man sich noch, daß er bei Konzerten mit den Symphonikern und Philharmonikern auch Schubert oder Mendelssohn dirigiert hat?

Geistliche Musik mußte jedenfalls dabei sein, wenn man diesem Künstler gestattete, sich jenseits des Barock-Geheges zu bewegen. In aller Regel war Karl Richter aber verlässlich auf dem Musikvereins-Podium zu finden, wenn es alljährlich galt, in der österlichen Zeit Bachs »Passionen« aufzuführen, wenn die h-Moll-Messe oder Händels »Messias« auf dem Programm standen.

Erst die Landnahme der sogenannten Originalklang-Bewegung hat die Erinnerung an Richter verblassen lassen. »So geht das heute nicht mehr«, hört man oft, wenn die Rede auf Richters Aufnahmen kommt.

Da möchte man nun widersprechen, wenn man die Richter-Edition durchnimmt, die von der Deutschen Grammophon gerade in den Handel gebracht wurde. 97 CDs, dazu BluRay-Audio-Discs, die das gesamte von Richter eingespielte geistliche Chorwerk Bachs in HD-Auflösung enthalten, darunter einen ganzen Jahrgang der Kirchenkantaten, mit zum Teil mehreren Werken für jeden Sonn- und Feiertag.

Der Barock-Karajan

Man beginnt Joachim Kaisers Diktum zu verstehen. Die Plattenfirma hatte Richter zu einer Art Barock-Karajan aufgebaut und ihm ermöglicht, Musik mit seinem Münchner Bachchor und dem dazugehörigen Orchester aufzunehmen, in dem Instrumentalisten wie Flötist Aurele Nicolet und Trompeter Maurice Andre brillierten. Exquisite Solisten wie Edith Mathis, Peter Schreier oder Dietrich Fischer-Dieskau sangen. Das lenkte das Interesse einer breiten Hörerschaft auf ein Repertoire, das im Konzertleben keine Chance auf Beachtung hatte.

Richters Ruhm führte ihn um den Erdball: In Russland und in Japan war er es, der die ersten ungekürzten Aufführungen von Werken wie Bachs »Matthäuspassion« leitete, die er übrigens zweimal im Studio realisiert hat, einmal, 1958, mit Irmgard Seefried, Herta Töpper und Ernst Haefliger als Evangelisten. Ein zweites Mal dann mit Mathis und Schreier, wobei Fischer-Dieskau, der 1958 noch die Bass-Arien gesungen hatte, von Kieth Engen die Partie des Christus übernahm, während die Arien von Matti Salminen gesungen wurden.

Das war 1979, und der Leser liest richtig: Der mächtige finnische Bass, der bald als König Marke und Hunding die Wagner-Welt erobern sollte, sang Bach. Im üppig registrierten Klangbild der Richter'schen Interpretationen war das für einen Mann, der seine Stimme beherrschte, ohne Weiteres möglich. Klangsinnlichkeit und Kraft kreidete die folgende, auf Purismus gestimmte Generation Richter freilich bald heftig an.

Sie vergaß dabei, daß schon Richters Aufführungsstil gegenüber der romantischen Barockdeutung der Zeit Wilhelm Furtwänglers oder Otto Klemperers eine stilistische Revolution bedeutet hatte. Und wer wollte sagen, wo die viel beschworene, aber nie zu entdeckende Wahrheit tatsächlich verborgen liegt?

Wahrhaftig, ehrlich, tief empfunden waren Richters Interpretationen immer. Und wer das Wort »barock« mit der optischen Prachtentfaltung der Kunst jener Epoche verbindet, wird in der vorliegenden Edition gewiß mehr musikalische Entsprechungen finden als in den derzeit kanonisierten Ergebnissen der Aufführungspraxis.

Also? Puristen sollten die Finger von diesen Aufnahmen lassen. Musikfreunde, die sich ein offenes Ohr für alle möglichen Zugänge zu den bedeutendsten Partituren bewahrt haben, werden hingegen ihre Freude haben. Richter gelang ja etwa mit seiner Einspielung des »Weihnachtsoratoriums« ein Gegenstück zur berühmten Karajan-Aufnahme der Beethoven'schen »Missa solemnis« zur selben Zeit: Ein so edles Solistenensemble, mit Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Fritz Wunderlich und Franz Crass, hat sich vermutlich nie wieder im Studio versammelt.

Glanzvoll realisiert Richter selbstverständlich auch die Concerti - von Bach oder Händel, dessen »Messias« auch in zwei strahlenden, in den intimen Momenten innigen Wiedergaben zu hören ist.

Die Lust am Klang tobt sich aus

Daß Händels »Giulio Cesare« oder der »Samson« unter diesem Dirigenten erstmals in ungekürzter Form zur Diskussion gestellt worden ist, sei angemerkt. Es gehört zum Gesamtbild wie die Aufnahmen des Solisten Richter, der ja zu Zeiten im Wiener Musikverein regelmäßig ein breites Publikum für Orgel-Abende zu begeistern wußte! In diesen Fällen konnte er die Lust am großen, rauschhaften Klang auch an romantischer Literatur ausleben, ja austoben: Bei Franz Liszts und Max Regers Präludien, Fantasien und Fugen »über den Namen BACH« ist sich dann vermutlich auch der skeptischste Stilkritiker sicher, daß diese Musik so und nicht anders gemeint sein mußte.


16. Dezember



So schön brutal kann nur die Oper sein


Staatsoper. Soweit sich das via Livestream beurteilen ließ, zeigte die musikalisch grandiose Erstaufführung von Hans Werner Henzes Mishima-Vertonung »Das verratene Meer« alles, was im Textbuch steht - und sogar noch ein bisschen mehr.

Man wird uns jetzt allseits wieder vorrechnen, wie spät Wien mit einer solchen Premiere dran ist. Und doch: Es braucht Weile, Hans Werner Henzes schillernde Orchestereffekte, mit denen er wilde, leidenschaftlich erregte oder poetisch zarte Stimmungen beschwört, wirklich vollendet zum Klingen zu bringen, sodaß auch die erotisierende Klangkulisse für jene Szene entstehen kann, in der ein Halbwüchsiger seine Mutter, eine wohlhabende verwitwete Boutique-Besitzerin, beim Liebesspiel beobachtet.

Um die daraus resultierenden Verwirrungen des Zöglings Noboru geht es im »verratenen Meer« ebenso wie um seine Stellung in der Fünferbande von Dreizehnjährigen, in der er es gerade einmal zur »Nummer drei« gebracht hat.

Von »Nummer eins«, Erik Van Heyningen, zynisch-überlegen gegängelt, machen sich diese jungen Wilden - vom Countertenor Kangmin Justin Kim über Stefan Astakhov bis zum Bass Martin Häßler - ihre Gesetze selbst. Und üben an einer jungen Katze ihre »Halsgerichtsbarkeit». Damit endet der erste Teil der Oper, der »Sommer».

Der »Schwächling« muß sterben

Im »Winter« weiß man dann schon, wie mit dem neuen Bräutigam von Noborus Mutter zu verfahren ist, der seiner neuen Geliebten zuliebe den ehrenvollen Beruf eines Hochsee-Offiziers an den Nagel gehängt hat.

Für den Schiffe-Fanatiker Noboru hat dieser Mann nicht nur »die See verraten». Er hat sich auch als Schwächling entlarvt, indem er auf die Entdeckung seiner voyeuristischen nächtlichen Aktivitäten mit jovialer Verzeihungsgeste reagierte. Nach einer Tracht Prügel hätte Noboru ihn vielleicht respektiert. So aber fühlt er sich nicht ernst genommen. Das Absingen altmodischer Seemannslieder ist den Jugendlichen dann zu viel. Der »Verräter« muß sterben.

Das gehört zu den Brutalitäten der Romanvorlage Yukio Mishimas, die von den narkotischen Effekten der Musik Henzes zum veritablen Melodrama weichgespült werden könnten. Zumal Henze Gut und Böse so wenig scheidet wie Mishima.

Doch anders als bei der Erstbegegnung mit den illustrativen Zwischenspielen im philharmonischen Konzert von 1995 nähert sich das Wiener Orchester unter Simone Youngs Leitung dieser Musik heute mit einer Sicherheit, wie es sonst Richard Strauss spielt: ohne Furcht vor hoher Komplexität und vor allem im Wissen um das, was zwischen den Zeilen gemeint ist.

Auch die neue Sängergeneration geht - bei filmreifer Optik - völlig unverkrampft mit den heiklen Aufgaben um, die ihnen vom Sprechgesang bis zur blühenden Belcanto-Kantilene alles abverlangen.

Bo Skovhus gibt dem stolzen, inwendig aber unsicheren und mit dem Leben hadernden »Zweiten Offizier« optisch wie vokal Profil, spinnt schlichtes Seemannsgarn und gibt im Schlafzimmer das »wilde Tier«, von dem der Halbwüchsige Noboru dann leuchtenden Auges berichten kann: Josh Lovell läßt bei dieser Gelegenheit eine herrliche lyrische Tenorstimme hören, die auch ideal mit dem weichen, ausdrucksvollen Sopran seiner Mutter harmoniert.

Vera-Lotte Boeckers singt Frau Fusako Kuroda so vollendet, daß man in gewisser Hinsicht davon berichten darf, am vergangenen Montag habe in Wien die eigentliche Uraufführung des »verratenen Meers« stattgefunden: In Berlin damals war die Hauptdarstellerin heiser, durfte auf ärztliches Anraten nur ihre Rolle spielen und wurde akustisch von einer Kollegin synchronisiert, die aus Noten von der Seitenbühne sang.

Da erklangen dann zwangsläufig des Öfteren nur Näherungswerte von dem, was Henze notiert hat. Vera-Lotte Boecker singt alles. Und sie singt es mit Hingabe. In ihrem großen Monolog in der vorletzten Szene, »Ein Kleid aus Blüten werde ich tragen«, gibt sie sich zu verführerisch schönen Melodiebögen der herrlichen Illusion von einem besseren Leben hin, ein paar halsbrecherische Koloraturen inklusive, die dem Komponisten erst für die japanischsprachige Zweitversion seines Werks eingefallen sind.

Das Stück ist auch zu sehen!

Wien läßt nun eine Mischfassung hören, bietet sozusagen das Beste aus beiden »verratenen Meeren». Und, ehe ich es vergesse, Wien zeigt das Stück auch, denn das Regie-Duo Jossi Wieler & Sergio Morabito läßt alles geschehen, was im Libretto steht, fügt während der illustrativen Zwischenspiele noch Erklärendes hinzu. Das ist sinnvoll, wenn etwa die Jugendbande ihre »Nummer drei« bis in die Träume verfolgt, wirkt jedoch etwas übereifrig, wo der Hörer auch ohne Bebilderung ahnen könnte, was beispielsweise jene leidenschaftlichen Klänge bedeuten, die ertönen, sobald es in Hans-Ulrich Treichels Libretto heißt: »Ryuji und Fusako schlafen ineinander verschlungen ein.«

Hugo von Hofmannsthal merkt in solchen Fällen an: »Ein Baldachin senkt sich von oben langsam über beide.« In Götz Friedrichs Berliner Uraufführungsproduktion des »Verratenen Meers« drehten sich dezent die Versatzstücke von Hans Hoffers eindrucksvollem Riesenbetonsilo und gaben den Blick auf die folgende Szene frei.

In Wien sieht man jetzt ununterbrochen alles. Aber, zugegeben, Anna Viebrocks notorische Lust an hässlichen Hinterhofsilhouetten hat in diesem Fall Methode. Die Lichtregie imaginiert die nötigen Stimmungsumschwünge und die Kostüme sind realistisch von der Uniform bis zum Kimono. Also: »Das verratene Meer«, ganz und gar.


15. Dezember



Anna Netrebko bewahrt ihre Ruhe im Sturm


Staatsoper. Am Abend vor der Premiere einer aufwendigen Erstaufführung streamte das Haus am Ring auch noch Puccinis »Tosca« - mit der Diva als Diva.

Die Netrebko als Tosca - das war im Vorjahr, als es noch eine regelrechte Eröffnung der Saison in Mailand gab, ein international viel beachtetes Rollendebüt am 7. Dezember an der Scala. Ein Jahr danach wollte man die Primadonnissima unserer Tage als Diva in der Rolle der Diva auch an der Wiener Staatsoper vorstellen. Das vermochte das wütende Virus nur teilweise zu verhindern: Publikum war nicht zugelassen. Aber Fernsehkameras und der Streaming-Dienst des Hauses. Also konnte am Sonntagabend die Welt zuschauen.

Zuhören auch, gewiss, aber das war nur die zweite, nicht ganz so attraktive Seite dieser Opernmedaille, die sich die Staatsopernführung verdient hat. Sobald die Netrebko ins Scheinwerferlicht tritt, weiß die Welt davon. Sie weiß nun also auch: Der Wiener Opernbetrieb läßt sich nicht unterkriegen: Hier wird weiter geprobt und gespielt. Sobald auch Publikum wieder ins Haus darf, wird es sein, als wäre nichts geschehen.

An zwei aufeinanderfolgenden Tagen streamt man vom Opernring aus spektakuläre Produktionen. Für Montagabend war die aufwendige Erstaufführung von Hans Werner Henzes »Das verratene Meer« angekündigt. 24 Stunden vorher also »Tosca« mit der begehrtesten Sängerin unserer Zeit.

Das Orchester als Star

Wien bleibt Wien. Das ist in Opernfragen alles andere als die von Karl Kraus sogenannte gefährliche Drohung. Denn hier spielt ein Orchester, das auch in Krisenzeiten nicht aus der Übung kommt und seinen Puccini so in- und auswendig kennt, daß die einzelnen Instrumentalsolisten sich auch im Fall der undiszipliniertesten Auslegung rhythmischer Detailfragen durch den einen oder anderen Sänger sogleich der Vokallinie anzuschmiegen wissen. Und das, ohne dabei die dramatisch scharf zeichnende Gangart des Dirigenten Bertrand de Billy außer Acht zu lassen. Das ganze Drama fand diesmal jedenfalls philharmonisch statt.

De Billy liest aus der »Tosca»-Partitur Puccinis alle minutiösen Schilderungen szenischer Details heraus, jene, die den Komponisten als Meister des Verismo zeigen, der nötigenfalls auch einmal brutal vorgeht - frei nach Nietzsche: wie man mit dem Hammer musiziert.

Ein Meister aber auch, der in einen breit ausgelegten, melodischen Klangteppich noch Pointen hineinwebt, die de Billy alle hörbar macht. Mögen sie komödiantisch sein, wie in der Eingangsszene mit dem Mesner, den Wolfgang Bankl unaufdringlich, daher umso effektvoller zu einer echten, der einzigen Buffo-Figur des Stücks macht. Mögen sie auch die zahllosen ätzenden, schmerzenden Nadelstiche illustrieren, die diesen spannendsten aller Hauptabendkrimis durchziehen. Dank de Billys interpretatorischer Insistenz konnte das Orchester - wie so oft in Wien - zum Star des Abends werden; zumindest zum ebenbürtigen Widerpart der Primadonna, die auf der Szene herrschte, und zwar unumschränkt,

Stimmschönheit als Nebensache

Da war schon auch der Scarpia, den Wolfgang Koch filmreif darzustellen wußte, dessen stimmliche Ausformung der Partie aber gewiß nicht verriet, daß Puccini hier letztendlich doch ein modernes Musikdrama auf dem Humus der italienischen Operntradition wachsen ließ. Ein wenig mochte man an die früheren Gastspiele von Sängern wie Theo Adam danken: Wotan im Palazzo Farnese wirkte damals schon rechtschaffen furchterregend. Angesichts von Mord und Totschlag sollten Stilfragen ja vermutlich nicht gestellt werden.

Daß man, Stil hin oder her, schon Tenöre gehört hat, die dem Cavaradossi eine schönere Stimme geliehen haben als Yusif Eyvazov, läßt sich hingegen nicht verschweigen. Andererseits wird man nicht viele Sänger finden, denen die hohen Töne so wenig Mühe machen: Das »Vittoria« hat im Mittelakt den napoleonischen Triumphen zwar bestimmt schon edelmetallischere Denkmäler gesetzt, so sicher hat sie freilich kaum einer aufzustellen gewusst. Den behutsamen Liebeserklärungen an Tosca, namentlich den »dolci mani« kurz vor dem schrecklichen Finale wünschte man dennoch zärtlich getönte Pianissimi - da nähme man zur höheren Ehre der dramaturgischen Wahrhaftigkeit wohl das eine oder andere weniger souveräne hohe B in Kauf.

Wie auch immer: Anna Netrebko war die Tosca. Und da sind wir alle dabei, staunend, wie stets bei dieser Künstlerin, das Wachsen und Werden eines Rollenporträts zu bewundern. Schon an der Scala nötigte die makellose Beherrschung in allen vokalen Lebenslagen Respekt ab: Die Tiefe, wenn auch oft kräftig betont, klingt satt und fundiert. Vor allem aber: Die Stimme behält bis zum hohen C ihren samtweichen, volltönenden Charakter. Daß sich der Wiener Orchesterklang und Netrebkos Sopran im »Vissi d'arte« aufs Herrlichste mischen würden, war vorherzusehen. Daß die Netrebko während der heftigsten Aufwallungen gegen Scarpia ihren offenbar durch nichts zu irritierenden Wohlklang bewahren kann, darf als kleines Wunder gelten: Wer da gefürchtet hatte, die Ausflüge ins dramatische Repertoire könnten der Jahrhundertstimme etwas anhaben, darf sich getrost zurücklehnen und genießen, als ginge es um »La Boheme».

Keine Stilfragen im Ausnahmezustand

Und wer jetzt nicht ganz ungerechterweise anmerken möchte, daß Puccini nicht immer gleich Puccini ist, sei darauf verwiesen, daß auch die Netrebko noch ein paar Mal von der Engelsburg springen wird - möglicherweise nach Erschießung anderer Tenöre und unter Berücksichtigung von Fragen wie jener nach den ausdrucksmäßig geschärfteren, pikanteren, rücksichtsloseren Tönen, die man in »Tosca« hören dürfte, und die diesmal vor allem das Orchester anschlug. Aber wir hatten ja beschlossen, im Angesicht des Ausnahmezustands keine Stilfragen zu stellen. Die Staatsoper hat »Tosca« mit Anna Netrebko in die Welt geschickt. Das soll ihr heutzutage einer nachmachen!


14. Dezember



Zwischentöne


Nach Toscas Todessprung stirbt ein verräterischer Seemann


Zwei Livestreams hintereinander beweisen, daß an der Wiener Staatsoper auch in Zeiten des scheinbaren Stillstands hart gearbeitet wird.

Am Abend nach »Tosca« mit Anna Netrebko streamt die Staatsoper erneut aus dem zuschauerlosen Haus: Diesmal jedoch eine Premiere in jeder Bedeutung des Wortes: Chefdramaturg Sergio Morabito stellt sich an der Seite seines Partners Jossi Wieler als Regisseur vor und zeigt Hans Werner Henzes »Das verratene Meer».

Diese Oper war in Wien noch nie zu sehen, obwohl sie zu den wirkungsvollsten Musikdramen der jüngeren Musikgeschichte zählt. Uraufgeführt 1990 in Berlin, kam das Werk in einer Neufassung vor Jahren bei den Salzburger Festspielen konzertant heraus - in japanischer Sprache. Das war Henze wichtig, denn sein Werk basierte auf dem Roman »Gogo No Eiko« von Yukio Mishima.

Kurios genug, hat sich doch der Autor dem Problem der Vereinsamung und Brutalisierung der Großstadtjugend von einem ganz anderen politisch-weltanschaulichen Standpunkt her genähert als Henze, der einstige Rudi-Dutschke-Sympathisant.

Herausgekommen ist bei dieser künstlerischen Melange ein schlagkräftiges Stück über einen jungen Burschen, der zunächst vom Liebhaber seiner verwitweten Mutter fasziniert ist, aber unter dem Einfluß seiner Jugendbande zu dessen erbittertem Gegner wird: Die Jungen beten das Meer als ihren Gott an - und der neue Stiefvater hat das Meer verraten, weil er der Mutter zuliebe seinen Seemannsberuf aufgab.

In zwei atemberaubenden theatralischen Crescendi beschreiben Henze und sein Librettist Hans-Ulrich Treichel die seelischen Konflikte, die zunächst (Teil I, »Sommer») in der Schlachtung einer Katze, dann aber (Teil II, »Winter») in der rituellen »Opferung« des Seemanns durch die Jugendbande gipfeln.

Die in ausführlichen, farbigen Orchester-Intermezzi ausgemalte Handlung beschreibt auch die sexuellen Probleme des adoleszenten Antihelden. Höchste Zeit für ein solch effektsicher komponiertes Werk in Wien?

Henze hatte an der Staatsoper stets einen schweren Stand. Die erste Wiener Premiere galt zwar immerhin Rudolf Nurejews Produktion des »Tancredi«, der aber nach sechs Wochen vom Spielplan verschwand.

Der von Ingeborg Bachmann gedichtete, von Federico Pallavicini, dem Meister der legendären Demel-Schaufenster, märchenhaft ausgestattete »Junge Lord« überlebte nur neun Monate und »Orpheus«, verrätselt von Ruth Berghaus, verschwand wie die Kinderoper »Pollicino« nach elf Vorstellungen in der Versenkung.

Aber »Das Meer« wird hoffentlich nicht nur vor leerem Haus »verraten». Zur Vorbereitung auf Stream (Montag, 19 Uhr) und Ö1-Sendung (Dienstag, 19.30): ein Henze-Porträt unter www.diepresse.com/musiksalon.


11. Dezember



Mindestens Zwei-Drittel-Festspiele in Salzburg


Sommer 2021. Präsidentin Helga Rabl-Stadler und Intendant Markus Hinterhäuser haben ein ehrgeiziges Programm präsentiert. Finanzchef Lukas Crepaz hofft, daß zumindest ein Großteil davon tatsächlich über die Bühne gehen kann.

Eine »Begeisterungsgemeinschaft« hätten Künstler und Administration der Salzburger Festspiele im außergewöhnlichen Sommer 2020 gebildet, meinte Intendant Markus Hinterhäuser bei der Präsentation des Salzburger Programms 2021: Ab Ende Juli sollen über 209.000 Karten für ein gewohnt reichhaltiges Programm aufgelegt werden, die man, so Finanzchef Lukas Crepaz, vermutlich in zwei Stufen anbieten wird: Zunächst kommen zwei Drittel der Tickets für die 186 Veranstaltungen in den Verkauf. Der Rest kann freigegeben werden, falls die Entwicklung der Pandemie dies zulässt.

Die Festspiele konnten 2020 ein deutliches Zeichen setzen und dank eines ausgeklügelten, später weltweit übernommenen Sicherheitskonzepts immerhin eine reduzierte Fassung ihrer geplanten Jubiläumssaison realisieren. Was im vergangenen Sommer nicht stattfinden konnte, soll 2021 nachgeholt werden. Wobei die erfolgreichen Produktionen von »Elektra« (dirigiert von Franz Welser-Möst) und »Cosi fan tutte« wiederholt werden. Also soll es im Sommer die angekündigte »Tosca« mit Anna Netrebko ebenso geben wie zur Eröffnung den »Don Giovanni«, inszeniert von Romeo Castellucci, dirigiert von Teodor Currentzis. Realisiert werden sollen auch Jan Lauwers' Inszenierung von Luigi Nonos »Intolleranza 1960« sowie als Übernahme von Cecilia Bartolis Pfingstfestspielen Händels »Il Trionfo del Tempo e del Disinganno«, inszeniert von Robert Carsen.

Konzertant plant man Morton Feldmans »Neither« und Berlioz' »Fausts Verdammnis« mit Elina Garanca. Schauspielchefin Bettina Hering avisiert »Richard The Kid & The King«, eine Shakespeare-Collage von Karin Henkel, und Schillers »Maria Stuart« auf der Perner-Insel sowie Hofmannsthals »Bergwerk zu Falun« (Regie: Jossi Wieler) im Landestheater. Die Theaterproduktionen werden begleitet von Lesungen. So wird parallel zu Martin Kusejs Inszenierung von Schillers »Maria Stuart« (mit Birgit Minichmayr in der Titelrolle und Bibiane Beglau als Elisabeth) Hanna Schygulla Stefan Zweigs Biographie »Maria Stuart« ihre Stimme leihen.

Was im Musiktheater angesichts des gebotenen »klugen Pragmatismus im Zeichen der Krise«, wie es Hinterhäuser nannte, nicht ermöglicht werden kann (»Boris Godunow« und »Zauberflöte« müssen warten), soll das Konzertprogramm Florian Wiegands wettmachen. Er sieht Ergänzungen zur szenischen Feldman-Produktion ebenso vor wie eine Reihe von Bach-Konzerten unter dem Motto »himmelwärts»: Thomas Zehetmair, Andras Schiff, Daniil Trifonov (»Kunst der Fuge») sind mit von der Partie, ebenso Anne Teresa de Keersmaekers »Rosas« mit einer vertanzten Version der Cello-Suiten (»Mitten wir im Leben sind») zu Live-Darbietungen von Jean Guihen Queyras.

Wieder aufnehmen wird man auch die seit 2012 etablierte Eröffnungsreihe »Ouverture spirituelle«, die zur Erinnerung an den Gründungsgedanken der Festspiele von 1920 Konzerte unter dem Motto »Pax - Friede« bieten wird. Unter anderem wird John Eliot Gardiner im Gedenken an den vor 50 Jahren verstorbenen Bernhard Paumgartner erstmals die Camerata dirigieren.

Im Konzertprogramm gibt es zur Feier des 95. Geburtstags von Friedrich Cerha dessen bahnbrechenden Zyklus »Spiegel». Stammgäste wie Igor Levit, Grigory Sokolow oder Sängerstars wie Juan Diego Florez kommen mit Soloprogrammen. In der Kammermusik locken größer und ungewöhnlich besetzte Werke bis hin zu Schönbergs »Pierrot lunaire».

Jugend- und Schulprogramme

Die Dirigentin Joanna Mallwitz, die im Vorjahr mit »Cosi fan tutte« in Salzburg ihren internationalen Durchbruch schaffte, stellt sich für ein Projekt zur Verfügung, das Klassik zur schwierigen Zielgruppe der um die Zwanzigjährigen bringen soll: Die Festspiele, so Präsidentin Rabl-Stadler, würden auch 2021 wieder aufs Land und in die Schule gehen, um ihre »regionale Verwurzelung zu zeigen». Die Reihe »Recherche« widmet sich in Lesungen und Diskussionen aus Anlass des Festspiel-Jubiläums den Manifesten und der Frage, was von wirkungsmächtigen Schriften zwischen dem kommunistischen und dem futuristischen Manifest bis in unsere Zeit noch nachklingt.


10. Dezember



Raphaela Gromes bereitet uns erneut Entdeckerfreuden


Cellokonzerte. Nicht nur Schumanns berühmtes Werk, sondern auch Raritäten von Julius Klengel und Richard Strauss schwelgen in Romantik.

Die Cellistin Raphaela Gromes und ihr Klavierpartner Julian Riem sind immer für Überraschungen gut. Jede ihrer CD-Neuerscheinungen birgt Schatzfunde. Nach spritzigen »Rossiniana« und einer märchenhaften Offenbach-CD, die angelegentlich daran erinnerte, daß der Operetten-Meister als Cellist seine Karriere begonnen hat, sorgte die Aufnahme der Cellosonate von Richard Strauss für Schlagzeilen, weil die CD nicht nur die wohlbekannte Version des kammermusikalischen Frühwerks aus der Feder des Opernmeisters enthielt, sondern auch eine noch früher entstandene Version, die über weite Strecken völlig andere Musik enthält.

Richard Strauss ist auch auf der jüngsten CD von Raphaela Gromes vertreten, und zwar eine auch geeichten Straussianern gewiß unbekannte »Romanze« für Cello und Orchester. Sie dient als willkommenes, entspannendes Zwischenspiel das von einem bisher völlig unbekannten Konzert von Julius Klengel zu Schumanns Opus 129 überleitet: Dieses, eines der wenigen echten Repertoirestücke für Solocellisten, läßt alle Stärken von Raphaela Gromes hören: Auf dem Klangbett, das Nicholas Carter mit dem Berliner Rundfunkorchester fein aufbereitet, schwebt der Klang des Soloinstruments wie die Stimme einer Operndiva.

Gromes läßt ihr Cello wirklich singen, bewahrt das dunkel-satte Timbre bruchlos bis in allerhöchste Höhen, verfügt aber auch über Kraftreserven, im geeigneten Moment zu attackieren, um in dramatischen Augenblicken gegen das Orchester bestehen zu können - die Noblesse verliert der Klang dabei auch im Moment der äußersten Anspannung nie.

Nun muß man die Musikfreunde von der Qualität des Schumann-Konzertes nicht überzeugen; hingegen wird bei Hören des Dritten Cellokonzert von Klengel des Staunens kein Ende sein.

Freilich, Kenner wissen, daß Julius Klengel einer der bedeutendsten Cellovirtuosen der Spätromantik war und daß er auch komponiert hat. Allerdings ist bemerkenswert, daß dieses vierteilige Konzert, dessen halsbrecherische Solo-Kadenz einen eigenen Satz beansprucht, so voll ist von herrlichen Melodien, daß man ohne zu zögern von einer bedeutsamen Entdeckung sprechen darf: So viele Werke dieser Größenordnung haben Cellisten ja nicht zu Verfügung! Gromes ist mit spürbarer Lust (und im originellen Intermezzos auch mit Humor) bei der Sache. Die Latte für Kollegen, die sich daran versuchen möchten, liegt hoch.

Und die Entdeckerfreuden der Hörer werden noch durch Zugaben belohnt, die Gromes mit Julian Riem aufgenommen hat, wobei die Romanze von Clara Schumann nicht einmal eine Bearbeitung ist, sondern tatsächlich in dieser Form als Mittelsatz des Klavierkonzerts Nr. 1 zu finden ist. Noch ein bisschen Romantik zum Schwelgen.

Zum Nachhören: www.diepresse.com/musiksalon


9. Dezember



Auf den Trümmern der Opernregie


Mailänder Scala. Die erste Spielzeit des neuen Intendanten Dominique Meyer sollte mit »Lucia di Lammermoor« beginnen. Daraus wurde ein Arienabend - aber ein besonderer.

Es war ein multimediales Spektakel, mit dem sich Mailands Teatro alla Scala in der Musikwelt zurückgemeldet hat: Wer da gemeint hatte, die wichtigste Bühne im Mutterland des Musiktheaters würde sich inmitten des Corona-Pandämoniums damit begnügen, einige prominente Sänger Arien singen zu lassen, wurde eines Besseren belehrt.

Davide Livermores hatte das Stardefilee zum postmodernen Gesamtkunstwerk gestaltet. Eine Art postmoderne Neudefinition eines Pasticcios.

In Zeiten wie diesen, in denen fortschrittliche Regisseure die Stücke zertrümmern, die sie zu inszenieren vorgeben, nahm sich diese aus der Not geborene Scala-Inaugurazione als eine Art optisch-akustische Summe diesbezüglicher Zeitgeistigkeiten aus. Die politischen Belehrungen, die Schauspieler zwischendurch vortrugen, hätte man gern entbehrt.

Allerdings hatte bis dato ausgerechnet am 7. Dezember in Mailand, dem traditionsgemäß teuersten Opernabend der Saison mit seinem Juwelengepränge, noch kaum jemand explizit darauf hingewiesen, daß Oper nicht nur für die Reichen und Schönen da ist. Auf der Bühne leiden ja oft genug auch die Armen und Kranken, versicherten uns die Drehbuchschreiber.

Das ist nicht ganz falsch. Und außerdem bekam man ja gleich auch noch den ultimativen Kommentar zum herrschenden Regie-Unwesen mitgeliefert: Statt ein Werk zu dekomponieren, komponierte man aus Fragmenten ein neues.

Die Frage, warum König Philipp und Prinzessin Eboli nicht im Escorial leiden, sondern in der Transsibirischen Eisenbahn, die sich bei einer Neuinszenierung von Verdis »Don Carlos« zweifellos gestellt hätte, kam in diesem zusammenhanglosen Zusammenhang gar nicht erst auf: Einsamkeit, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, aber auch die Entschlußkraft, sich aus solcher Malaise am eigenen Schopf herauszuziehen - was Verdi komponierte, bleibt wahr, sobald eine Sängerin wie Elina Garanca es verkündet.

Armani in der »Transsibirischen»

Selbst wenn man sie in ein rosa Kleid steckt, das weniger ihr als dem Farbton der Tischlampe im Speisewagen angemessen scheint. Immerhin haben Designer, die ihre Kreationen nahe der Scala in der Via Montenapoleone feilbieten, die Künstler ausstaffiert.

Wie das Inszenierungsrepertoire eines Opernhauses im wirklichen Musikleben balancierte diese Show optisch zwischen Kitsch und großer Kunst. Letztere in Form musikalischer Glanzleistungen von Interpreten wie Benjamin Bernheim, Piotr Beczala, Carlos Alvarez oder Ludovic Tezier in einmal stimmigem, dann wieder völlig verquerem Ambiente, immer aber voll echter Emotion. Hatte der Zuschauer einmal genug gestaunt, konnte er angesichts des konsequenten ästhetischen Verwirrspiels, das hier getrieben wurde, ein Zitat aus Wagners »Meistersingern« ins Gegenteil verkehren: »Konnt ein Unsinn sinniger sein?»

Apropos: Andreas Schager und Camilla Nylund malten den Liebesfrühling des Wälsungenpaares zu den Klängen des ersten »Walküren»-Finales mit hinreißend aufblühenden Stimmfarben, Lisette Oropesa und Juan Diego Florez konterten mit perfekt modellierten Belcanto-Kantilenen. Stimmt, dachte man, die beiden wären an diesem Abend, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, in »Lucia di Lammermoor« auf der Bühne der Scala gestanden.

Neo-Intendant Dominique Meyer konnte angelegentlich auch daran erinnern, daß er zum Ausklang seiner Wiener Ära eigentlich einen neuen »Maskenball« geplant hätte: George Petean und Eleonora Buratto gestalteten die Konfrontation Amelias mit ihrem betrogenen Ehemann bewegend. Anders als im Ballett, das mit effektvollen Auftritten eingebunden war - von denen Roberto Bolles Ringen mit einer Laserstrahl-Skulptur das beeindruckendste Bild bot -, siegt in der Oper ja doch stets die Musik, wenn die rechten Interpreten zur Verfügung stehen.

Sie waren (beinahe vollzählig) gekommen, um diesen außergewöhnlichen Abend mitzugestalten. Selbst Placido Domingo gab sich mit der Arie des Gerard aus Giordanos »Andre Chenier« noch einmal als jugendlicher Revoluzzer, worauf ihm Sonya Yoncheva tief empfunden antwortete. Marianne Crebassas Carmen, Marina Rebekkas Butterfly beeindruckten nicht minder.

Roberto Alagna sang Cavaradossis Sternenarie einmal nicht auf, sondern im Angesicht der Engelsburg. Und mit Rossinis »Wilhelm Tell»-Finale ging alles geradezu visionär zu Ende - endlich schien da auch Riccardo Chaillys kapellmeisterisches Dauerlegato wirklich am Platz. Ein ganz normaler Arienabend war das also wirklich nicht. Ob man ihn mochte oder nicht: Man wird sich seiner erinnern.


7. Dezember



Zwischentöne


Vielleicht besser als eine neue Regie: Stars in Designerroben


Soll man in den Ersatzvorhaben dieser spielfreien Theatersaison etwas Gutes finden? Mailand entgeht heuer dem Holzhammer der Bühnenbildner.

Der 7. Dezember, der gehörte im großen Konzert des internationalen Musiklebens traditionsgemäß der Mailänder Scala. Am Tag des Stadtheiligen Ambrosius eröffnete stets die neue Saison. Gespielt hat man im Haus auch im Herbst, aber dem Abend der feierlichen Inaugurazione war die fashionable Premiere vorbehalten.

Heuer wird daraus natürlich nichts. Denn die Corona-Maßnahmen machen es einem Haus, das seit Jahr und Tag dem Stagionebetrieb huldigt, völlig unmöglich, in der geplanten Zeit mit dem jeweils für die Produktion neu zu engagierenden Ensemble eine neue Inszenierung einzustudieren.

Die Wiener Staatsoper konnte inzwischen ihr ehrgeiziges Projekt der Erstaufführung des »Verratenen Meers« von Hans Werner Henze vorantreiben und wird zum vorgesehenen Termin damit fertig werden. Vor Publikum kann sie nicht gezeigt werden, aber das hauseigene Streaming-Team wird es möglich machen, daß auch diese wichtige Produktion nicht nur in Ö1 gesendet, sondern im Netz auch angeschaut werden kann.

Der ORF, der in dieser Notzeit mit der Staatsoper reibungsloser kooperiert als gewohnt, zeigt immerhin einige Star-Abende in seinen Programmen: Es würde zwar vielleicht auch zum Kulturauftrag einer öffentlich-rechtlichen Anstalt gehören, mitzuhelfen, eine der bedeutendsten Opern der jüngeren Vergangenheit für eine professionelle Videodokumentation aufzubereiten. Aber »Tosca« mit Anna Netrebko ist ja erfreulich, auch wenn die Welt sie jüngst schon einmal sehen konnte - aus der Mailänder Scala.

Wichtig ist, daß in Wien auch ohne Publikum weiter an Opernproduktionen gearbeitet wird. Für die »Moral der Truppe« ebenso wie für die Außenwirkung.

Um die ist man verständlicherweise auch in Mailand bedacht. Und weil dort heuer nicht in neuen Kulissen Donizettis Lucia di Lammermoor wahnsinnig werden darf, gibt man die stattdessen geplante Eröffnungsgala in Kostüm und Maske.

Und die Kostüme steuern große Modehäuser bei. Kann sein, daß es Interessenten, die sich einen ganzen »Don Carlos« nicht im TV anschauen würden, doch reizt, wenn Elina Garanca in eine Robe von Valentino gehüllt, mit Ebolis »O don fatale« über den Fluch der Schönheit räsoniert.

Dazu in echten Scala-Kostümen Camilla Nylund und - als Gast aus Wien - Andreas Schager im »Walküren»-Duett. Von der geplanten »Lucia« bleibt immerhin eine Arie, gesungen von Lisette Oropesa, gekleidet von Armani. Jonas Kaufmann hat zwar wieder abgesagt. Für ihn springt aber Piotr Beczala ein und singt »Nessun dorma« im Dolce-&-Gabbana-Smoking - auch nicht schlecht.

4. Dezember

An den Wurzeln von Europas Kultur


Erstmals in Buchform: Wagners »Parsifal»-Autograph. Er gibt spannende Einblicke in den Entstehungsprozess des Meisterwerks.

Wagner erzählte einst bildhaft von einem Erweckungserlebnis an einem milden Karfreitag, als ihm wie in einer Erleuchtung sein »Parsifal»-Drama vor Augen stand, das er dann in einem genialen Wurf sogleich umfassend skizzierte. Ein schöpferisches Urerlebnis, das später in der Musik des berühmten »Karfreitagszaubers« seine künstlerische Erfüllung finden sollte.

Nichts davon sei wahr, gestand der Dichter-Komponist später seiner Cosima, die Geschichte sei »eigentlich an den Haaren herbeigezogen».Es sei gar kein Karfreitag gewesen, »nur eine hübsche Stimmung in der Natur, von welcher ich mir sagte: So müsste es sein am Karfreitag.«

Langsamer Prozess. Tatsächlich ist der »Parsifal«, wie manch anderes Wagner'sches Musikdrama, in einem Jahrzehnte umspannenden, langsamen Reifeprozess entstanden, in dessen Spätphase erst der endgültige Textentwurf entstand-und ganz zuletzt die nun als Faksimile vorliegende Partiturreinschrift. Man muß zurückblenden ins Jahr 1845, zu Wagners Kuraufenthalt in Marienbad, der entscheidend werden sollte für seine Laufbahn. Für die Reise nach Marienbad hatte sich Wagner mit Lektüre eingedeckt, die er gründlich zu durchforsten gedachte. Vollendet war gerade der »Tannhäuser«, in dem der Minnesänger Wolfram von Eschenbach leibhaftig auf der Bühne erscheint. Das »Parzival»-Epos des echten Wolfram befand sich nun ebenso im Gepäck des Kurgastes wie deutsche Sagen und eine umfassende Literaturgeschichte. Wagner verschlang diese Lektüre und zog daraus Stoff für kühne Bühnenvisionen. Nimmt man den »Tristan« aus, dann sind in Wahrheit sämtliche großen Bayreuther Festspiel-Stücke nach »Tannhäuser« anlässlich dieses Kuraufenthaltes gezeugt worden: Die Skizzen zu »Siegfrieds« Tod wuchsen sich in den folgenden Jahrzehnten zum »Ring des Nibelungen« aus, ein Entwurf zu den »Meistersingern von Nürnberg«, der zunächst völlig unbeachtet liegen blieb, erblühte Anfang der 1860er-Jahre zu Wagners längstem Musikdrama-und zu seiner einzigen »Komödie». Vor allem aber zeitigte die Wolfram-Lektüre ein spontanes Ergebnis: Eine Nebenhandlung in diesem Versepos verwandelte Wagner in seinen »Lohengrin». Und dieser Lohengrin berichtet gegen Ende des Werks von seinem »Vater Parzival«,dem Gralskönig. Und der sollte dreißig Jahre später-als »Parsifal»-zum Helden von Wagners allerletztem Werk werden, zu jenem »Bühnenweihfestspiel«, das ausschließlich für Aufführungen im Bayreuther Festspielhaus bestimmt war.

Der Fall ins Bodenlose. Über diese Sperrverfügung Wagners hat sich die Welt mit Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfrist, 1912, natürlich hinweggesetzt. Sehr zum Ärger sensiblerer Geister, die eine Entweihung des »Bühnenweihfestspiels« befürchteten. Richard Strauss tobte: »Der deutsche Spießbürger wird am Sonntagnachmittag, zwischen Mittagessen und Abendschoppen, statt fortwährend in den Kintopp und in Operetten zu gehen, auch für fünfzig Pfennig den, Parsifal' hören.«

Das war gewiß nicht im Sinne des Erfinders. Wagner hat in sein Spätwerk tiefste philosophische Gedanken verwoben und führt sein Publikum bei langsamem Grundtempo stetig und unausweichlich einer Katharsis zu, die zu den Reinigungsprozessen der antiken Tragödien ein im tiefsten Sinne »modernes« Gegenstück bildet. Nirgendwo sonst in der europäischen Kulturgeschichte wird der zentrale Punkt des gerade in jüngster Zeit viel beschworenen, aber wohl kaum hinterfragten »christlichen Abendlandes« so unverhüllt thematisiert: In der Kuß-Szene des zweiten Aufzugs, wenn Parsifal sich den Umarmungen der verführerischen Kundry entzieht, bekennt diese ihre Erbschuld. Sie war auf Golgotha, als Christus ans Kreuz genagelt wurde: »Ich sah ihn, ihn und... lachte!»Die Singstimme stürzt vom hohen H zwei Oktaven hinab zum cis-ins Bodenlose.

Wo ungefähr auf dieser Verfallskurve befinden wir uns heute? Ließe sich das Verlachen des Heilsgedankens als zentrales Thema des heutigen kulturellen Selbstverständnisses zumindest in Europa definieren? »Da traf mich sein Blick...« Was dieser Blick bedeutete, hören wir aus der Musik, die Wagner dieser »Beichte« Kundrys folgen lässt, die vielleicht trostlosesten, einsamsten Klänge, die je komponiert worden sind. Kundry ist in der »Gottesfinsternis«,die Hölderlin so wortgewaltig beschworen hatte und die hier zu klingen begann, zu endlosen Irrfahrten »von Welt zu Welt« verurteilt, um »ihm wieder zu begegnen».

Wagners Partiturhandschrift ist in diesem Moment der äußersten Erregung kalligrafisch so vollkommen, so ebenmäßig wie durchwegs, auch dort, wo der wahre »Karfreitagszauber« Licht ins Dunkel bringt und Erlösung verheißt.

Wer des Notenlesens kundig ist und einem der Meisterwerke unserer Kulturgeschichte begegnen will, dem bietet die Reproduktion von Wagners Handschrift das ideale Material zu meditativer Versenkung. Überdies liest sich der ausführliche Bericht zu Werk und Handschrift, der dieser Ausgabe-nebst einer Replik der Urschrift des »Parsifal»-Vorspiels-beigefügt ist, flüssig und informativ als Protokoll einer wohlüberlegten, im Falle der Erstellung des Manuskripts sogar strategischen Handwerkerarbeit. Dem Seinen gibt's der Herr im Karfreitagstraum. Oder sonst an einem schönen Tag in der Natur. Der Rest ist Transpiration.

Tipp

»RICHARD WAGNER: PARSIFAL. AUTO-GRAPH».Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth. Kommentar: Ulrich Konrad. Bärenreiter Facsimile. 2020,360 +XX Seiten.


SPEKTAKULÄR. Ein Faksimile der Original-»Parsifal»-Partitur ist seit Kurzem in Buchform zu haben.

URAUFFÜH-RUNG. Hermann Levi (links) dirigierte den ersten »Parsifal« in Bayreuth.

1. Dezember



Alfred Dorfer mag Mozart, und das sieht man


Oper via ORF III. Aus dem Theater an der Wien übertrug man am Sonntagabend Mozarts »Figaro« in einer Inszenierung von Alfred Dorfer. Da hätte sich früher tout Vienne getroffen, um dabei zu sein. Jetzt lautete die Frage via SMS: »Wie war's?»

Wie war's? So lautete die Frage, die gestern Abend per SMS und Mail noch vielfach gestellt wurde. Daß Alfred Dorfer seine erste Operninszenierung via ORF III präsentieren mußte, das wußte ganz Österreich. Bezeichnend. Kein Mensch hat in den vergangenen Jahrzehnten gleich nach Fallen des Vorhangs dringend wissen wollen, wie der »Presse»-Kritiker irgendeine Opernproduktion fand, wenn eine besonders glänzende Sängerbesetzung auf der Bühne stand oder ein berühmter Maestro den Dirigentenstab schwang.

Aber diesmal ging es um Alfred Dorfers »Figaro». Dabei, und das ist das Schönste daran, es war gar nicht »Dorfers Figaro»!

Es war, von einigen wenigen allzu drastisch gezeichneten Momenten vielleicht abgesehen, Mozarts »Figaro«, den der berühmte Kabarettist keineswegs, wie vielleicht von manchen erwartet, kabarettistisch, sondern recht behutsam aus Lorenzo da Pontes Textvorlage heraus auf die Bühne im Theater an der Wien gebracht hat.

Oper, kein Kabarett

Schon im Vorfeld hat Dorfer gemeint, diesem Stück müsse man nichts aufpfropfen, da schlummere genügend komödiantisches Potenzial in Text und Musik, das nur genutzt sein will. Es stimmt: Wer versucht, dieses Potenzial auszuschöpfen, wird ohnehin nicht fertig, möchte er noch seine eigenen Gedanken dazu inszenieren, muß er allzu viel verdrehen oder ganz weglassen.

Opernfreunde können davon mehrere Arien singen und werden am Sonntagabend erfreut gewesen sein, wie wenig selbstverliebt Dorfer ans Werk gegangen ist. Er liebt, scheint's, eher Mozarts Musik und den frei nach Beaumarchais von Da Ponte perfekt geschnürten Intrigenknoten, dessen wiederholte Verwirr- und Versteckspiele das junge Ensemble diesmal in amüsant-hintergründiges, manchmal sogar wirklich anrührendes Theater verwandelt.

Daß die Handlung aus dem Ancien regime in die Gegenwart versetzt wurde, störte angesichts der allgemeingültigen Emotionen, die hier besungen werden, weniger, als daß das Bühnenbild von seltener Trostlosigkeit ist, sodaß man gar nicht ausreichend Zeit findet, die Menschen nach ihren seelischen Nöten und Konflikten zu befragen, weil man sie ob ihrer beklagenswerten Wohnsituation schon bedauern muß. Selbst die Poesie des Garten-Akts, von der sich in der Regel die Explosion der aufgestauten Energien so wirkungsvoll abhebt, hat man wegrationalisiert: Das Finale spielt in einer Straßenbahnremise.

Kein Wunder, daß die sensible Gräfin Cristina Pasaroius, die verzeiht, aber ihre Demütigung doch nicht ertragen kann, zuletzt wütend abgeht. Das ist einer der wenigen Ausreißer, die sich Alfred Dorfer kommentierend gegenüber dem Libretto leistet.

Der Rest ist mehrheitlich von Da Ponte und wird von den großteils sehr jungen Sängern, angeführt von der quirligen Giulia Semenzato als Susanna und dem vor allem wirkungsvoll zähneknirschenden Figaro Robert Gleadows, lustvoll ausgespielt. Florian Boesch steht inmitten als grandios gezeichneter, verklemmter, daher besonders auf seine Machtposition bedachter Graf Almaviva, dessen Traum, als Regisseur die Marionetten zu führen, hie und da aufblitzt.

Die Pointen sitzen, die Intrigen hat Dorfer mit seinem von der Kabarettbühne bekannten Sinn für Timing besser geknüpft als manch professioneller Opernregisseur, sagen wir, bei den Salzburger Festspielen.

Wiener Mozart-Stil anno 2020

Dort durfte der Concentus musicus, wie diesmal an der Wien, ja auch schon Mozart-Opern begleiten. Das war noch zu Nikolaus Harnoncourts Zeiten und sorgte für Diskussionen. Was das Ensemble diesmal - über die, zugegeben, nicht sonderlich einfühlsame ORF-Tonregie - hören ließ, war nicht wirklich diskutabel: So unbehauen, nur auf rohe Akzentsetzung bedacht, wünscht man sich Mozart in Wien nicht. Dazu muß man nicht einmal die Jahrzehnte an Aufbauarbeit in Rechnung stellen, die in Sachen subtil ausbalancierter, beredter, feingliedriger Mozart-Interpretation seit Erich Kleiber im Studio und Josef Krips am Staatsopern-Pult in dieser Stadt nach 1945 geleistet wurde.

Freilich, Stefan Gottfried erweist sich am Hammerklavier als guter Musiker, der angesichts der virusbedingt nötigen Kürzungen improvisatorisch bruchlos von einer Tonart in die andere gelangt. Aber als Partner der Darsteller agiert er zu klobig, als daß Orchester und Stimmen mehrheitlich wirklich synchron blieben. Das wäre doch vermutlich auch unter Beachtung aller Originalklang-Ästhetik wünschenswert; ebenso wie manch behutsam-liebevolle Führung und Unterstützung der Sänger bei heiklen Passagen wie den Koloraturen der Grafen-Arie oder den von Patricia Nolz stilbewusst, aber nicht ganz stimmig ausgezierten Melodien der Cherubin-Canzonetta.

Apropos: Die Frage, ob ein schauspielerisch glänzendes Ensemble auch höhere Ansprüche an Phrasierung und farbliche Feinabstimmung erfüllen sollte, als bei dieser Übertragung hörbar wurden, hätte ich mir selbst vielleicht gestellt. Freunde und Leser wollten aber wissen, wie »Dorfers Figaro« war. Also Schwamm drüber: Der war gut.


30. November



Zwischentöne


Wieder keine Dame am ersten Pult der Symphoniker


Wiens Konzertorchester hatte im Vorjahr Schlagzeilen gemacht und eine Konzertmeisterin aus Berlin engagiert. Sie wurde wieder abgewählt.

Die Freude im Vorjahr war groß: Die Wiener Symphoniker hatten eine Dame an ihr erstes Pult gebeten: Sophie Heinrich, Mitglied des Orchesters der Komischen Oper Berlin, hatte sich um die Konzertmeisterstelle beworben und das Probespiel gewonnen. Sie begann bei den Bregenzer Festspielen ihr Probejahr. Dann kam Corona und man war sich im Klaren darüber, daß es extrem unfair wäre, die nötige Abstimmung, die nach Ablauf des Probejahrs eine probeweise Bestellung in eine endgültige verwandelt, nach Wochen und Monaten abzuhalten, in denen keine Konzerte stattfinden konnten.

Also entschied man, sechs Monate anzuhängen. Die sind nun verstrichen. Die Musikergemeinschaft hat abgestimmt - und die Kollegin nicht bestätigt. Das heißt: Wieder keine Frau am führenden Pult des großen Wiener Konzertorchesters. So ähnlich wird es nun allseits heißen.

Ganz abgesehen von der Tatsache, daß in solchen Fragen nach wie vor Wagners »Meistersinger»-Prinzip gelten muss: »Hier gilt's der Kunst«, der Sachverhalt ist in diesem Fall mehr als kompliziert und verwirrend.

Sophie Heinrichs Probephase fiel in die Zeit des Chefdirigentenwechsels. Als sie ausgewählt wurde, saß zwar noch Philippe Jordan in der Jury, machte aber fairerweise von seinem Stimmrecht keinen Gebrauch. Sein Nachfolger, Andres Orozco-Estrada durfte sich noch nicht äußern. Er hat aber im Oktober dieses Jahres, in einer Phase, als zumindest Konzerte vor reduziertem Auditorium möglich waren, mit Sophie Heinrich am ersten Pult Richard Strauss' »Heldenleben« aufgeführt - und für CD eingespielt.

Ausgerechnet! Der Zufall wollte es, daß dieses Werk eines der gefürchtetsten, schwierigsten Konzertmeister-Soli der Musikgeschichte enthält - und daß es eines der wenigen Soli war, die Sophie Heinrich in diesem verkappten Probejahr überhaupt zu spielen bekam; abgesehen von einem kurzen Solo in Massenets »Don Quichotte« anlässlich ihrer allerersten Dienste im Verband der Symphoniker bei den Bregenzer Festspielen 2019.

Nun bot das »Heldenleben« der Geigerin Gelegenheit für einen geradezu theatralischen Auftritt - »Presse»-Kritiker Walter Gürtelschmied nannte ihn »fulminant« - »schön Spielen« ist in diesem Fall kaum gefragt.

Überdies kommt es bei einer Konzertmeisterin noch auf ganz andere Qualitäten an, die weniger in Richtung Publikum als ins Orchester hinein wirken. Die haben sich in den gestörten Spielzeiten nicht wirklich evaluieren lassen. Vielleicht wäre die Abstimmung nach einer »ganz normalen« Saison anders ausgegangen.

So aber wollte sich das Musiker-Kollektiv offenbar nicht auf Jahrzehnte festlegen. Das ist für die Betroffene hart. Unredlich ist es wohl nicht.


28. November



Mehrmals Staatsoper live im TV


Kooperation. Das Haus am Ring arbeitet mit dem ORF zusammen, um neue Produktionen und Abende mit Superstars wie Netrebko und Beczaa einem breiten Publikum zu zeigen.

Fünf Aufführungen der Wiener Staatsoper werden im Dezember vom ORF live übertragen. Die Sender ORF 2, ORF III, Ö1 und die Streaming-Plattform Fidelio widmen sich einem breiten Repertoire-Querschnitt. Angesichts der Coronakrise haben sich Staatsoperndirektor Bogdan Roscic und ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz auf eine weitreichende Kooperation geeinigt.

Derzeit muß die Staatsoper zwar noch davon ausgehen, daß der Vorhang über dem ursprünglich geplanten Programm am 7. Dezember wieder hochgehen kann. Darauf sei man vorbereitet, erklärte Roscic, man habe aber in den vergangenen Wochen an einem »Plan B« gearbeitet, von dem es derzeit als wahrscheinlich gelten kann, daß er in die Tat umgesetzt werden muss: Sollte man weiterhin nicht vor Publikum spielen dürfen, werden zumindest fünf Abende vor leerem Haus, aber in Kostüm und Maske, wie geplant stattfinden.

Perspektiven: Japan und das Jahr 2023

Diese wird der ORF übertragen. Man will damit ein Zeichen setzen: In Wien will man nicht, wie fast überall anders, mit Konzerten vorliebnehmen, sondern tatsächlich Oper spielen. Oberste Priorität hat dabei für die Staatsoper das »Beschützen« der geplanten Neuproduktionen, wie der Direktor es nennt. An diesen Produktionen hat man auch während der Theaterschließung hinter den Kulissen weiter gearbeitet. Sie müssen bis zur Spielreife gedeihen, denn sie werden in der Regel für Aufführungen in den kommenden Spielzeiten gebraucht. Man arbeite derzeit gerade an der Planung für die Spielzeit 2023/24, betonte Roscic. Diese Linie sei auch in den kommenden Wochen und Monaten zu verfolgen, denn es stehen Premieren von essenziellen Versatzstücken des Repertoire-Kanons an, darunter Verdis »Traviata« und Bizets »Carmen«, »und die brauchen wir in den kommenden Jahren immer wieder».

Während der vergangenen Wochen habe man trotz einiger Coronafälle, die alle keine Weiterverbreitung des Virus im Hause zur Folge gehabt hätten, unter anderem an der ersten Premiere, einer Arbeit des neuen Ballettdirektors Martin Schläpfer, gearbeitet. Sie kommt im Verein mit einer für die Wiener Truppe neuen Arbeit Hans van Manens heraus. Diesem Abend, »Mahler, Live«, gilt die erste der ORF-Übertragungen, aufgezeichnet wird er am 4. 12., auf ORF 2 ausgestrahlt am 8. 12. Es folgen am 10. 12. Massenets »Werther« mit dem Hausdebüt Piotr Beczaas und am 13. 12. Puccinis »Tosca« mit dem Hausdebüt Anna Netrebkos in der Titelpartie. Beide Künstler waren einverstanden, eventuell auch ohne Publikum aufzutreten, um diese Übertragungen zu ermöglichen. Am 18. 12. aufgezeichnet und am 27. 12. in ORF III gesendet wird eine Neueinstudierung von Otto Schenks längst klassischer Inszenierung des »Rosenkavaliers«, dirigiert vom neuen Musikdirektor, Philippe Jordan, mit Günther Groissböck, der erstmals in Wien als Ochs auf Lerchenau zu erleben sein wird.

Ein Zyklus »Klassiker der Moderne»

Diese Einstudierung dient der Vorbereitung des für Herbst 2021 geplanten Japan-Gastspiels der Staatsoper. Aufgezeichnet wird auch die erste Wiener Produktion von Hans Werner Henzes Veroperung von Mishimas »Das verratene Meer« unter Simone Young. Die erste Inszenierung des Teams Jossi Wieler und Sergio Morabito, des neuen Chefdramaturgen der Staatsoper, ist Teil eines auf fünf Jahre ausgelegten Zyklus mit Wien-Premieren von Klassikern der Moderne. Sie wird aber vorerst nicht im Fernsehen gezeigt, was Wrabetz damit erklärt, daß der ORF sich auf Produktionen konzentrieren wolle, »bei denen die Begeisterung schon von vornherein eine große ist». Zu hören ist die Oper am 15. 12. auf Ö1.

Oberstes Ziel der Kulturpolitik sollte es aus künstlerischen wie aus finanziellen Erwägungen sein, einen geregelten Spielbetrieb in Häusern wie der Staatsoper wieder aufzunehmen, gaben sich Roscic und Wrabetz einig und verwiesen auf das ausgeklügelte Sicherheitskonzept, das am Anfang dieser Spielzeit einen regulären Spielbetrieb auch mit groß besetzten Werken wie Verdis »Don Carlos« ohne Zwischenfälle ermöglicht hat. Es wären, überlegte Roscic, Schnelltests für das Publikum denkbar. Sicher ist: Die Offensive mit den Liveübertragungen findet statt, auch wenn bis dahin wieder vor Publikum gespielt werden kann.


26. November



Musik gegen den kulturellen Brexit


Barbirolli-Edition. Warner hat sämtliche Aufnahmen des großen Dirigenten auf 109 CDs herausgebracht, Sony hat um New Yorker Einspielungen ergänzt: eine Offenbarung.

Oscar Wilde legt einer seiner Bühnenfiguren den Satz in den Mund: »Jetzt habe ich endlich begriffen, warum England zu Europa gehört. Wenn England nicht dazugehörte, wäre ja Europa schon Asien.« Also aus asiatischer Sicht: Auf den großen Musiker John Barbirolli mußte uns eine spektakuläre Edition aufmerksam machen, die sämtliche HMV-Aufnahmen dokumentiert. Sony legte zum Gedenken an den 50. Todestag des Maestros noch die New Yorker Aufnahmen dazu.

Die editorische Großtat rückt einiges zurecht. Unsereins hat einst vielleicht darüber diskutiert, ob man Beethoven lieber von Böhm, Karajan oder Bernstein dirigiert hören möchte. Plattensammler wissen natürlich auch um die Qualitäten von Toscanini, Furtwängler oder Bruno Walter.

Aber Barbirolli? Was für eine Ignoranz, möchte man jetzt sagen. Sie liegt wohl schon im zuvor gewählten Vergleich. Müssen Beethovens neun Symphonien das Rückgrat jeder Dirigenten-Diskographie bilden? Zwar verfügte Barbirolli über ein ungemein breites Repertoire, doch im Mittelpunkt seiner fast vierzigjährigen Aufnahme-Tätigkeit standen weder die Wiener Klassik, noch die großen deutschen Romantiker - die einzige Ausnahme bilden die vier Brahms-Symphonien, die Barbirolli mit den Wiener Philharmoniker - ja, wirklich! - eingespielt hat.

Und sonst? Viel Elgar und Delius, viel Sibelius. Für manchen Musikfreund mag schon das ein Anreiz sein. Diese Edition weitet mit Sicherheit den Repertoire-Horizont der meisten privaten Diskotheken.

Überdies öffnet sie Klangwelten ungeahnten Ausmaßes. Kein Dirigent hat beispielsweise bei einem Werk wie Gustav Mahlers Neunter Symphonie das Stimmengewebe so bis auf den Grund durchforstet wie Barbirolli. Mahler erträumt sich ja hier über weiten Strecken so etwas wie göttliches Chaos. Und die Berliner Philharmoniker (lange vor Karajans Landnahme in diesem Revier) realisieren jede einzelne Phrase mit einer an vegetative Prozesse erinnernden Unmittelbarkeit, jeder für sich, doch in höchster, scheinbar planloser Harmonie.

Barbirolli verliert nie die Übersicht, agiert aber immer wie ein Maler, der mit Lust Farben auf seiner Leinwand aufträgt. Über Jahrzehnte hat er mit seinem Halle-Orchester in Manchester, aber stets auch mit anderen Orchestern seinen unverwechselbaren, sinnlichen Klang geformt. Der redet zum Hörer. Unausweichlich. Apropos Beethoven: Es genügt, die ersten beiden Akkorde der »Eroica« unter Barbirollis Leitung zu hören, um zu begreifen, was »con brio« heißt. Es ist keine Frage des Tempos.

Verdis Sturm saust uns um die Ohren

Es genügt auch, die ersten fünf Minuten des »Otello« zu hören, um zu wissen, daß Verdi hier kein gigantisches Klangdickicht komponiert hat, sondern eine Versammlung von nervös-erregten Individuen schildert, denen der Sturm um die Ohren saust. Dazu muß man nicht ununterbrochen Fortissimo spielen. Man kann auch Musik machen.

Das hat Barbirolli sein Leben lang getan. Apropos »Otello»: Vater und Großvater des Dirigenten saßen im Orchester anlässlich der Mailänder Uraufführung und berichteten von Verdis zahlreichen Änderungswünschen. Die von seinen Zeitgenossen hat Barbirolli selbst eingeholt. Und bei Haydn, Schubert oder Tschaikowsky hat er offenbar instinktiv gewusst, wie man ihre Musik lebendig und beredt zum Klingen bringt.


23. November



Jetzt wissen wir endlich, was Beethoven wirklich wert ist


Erkenntnisse: Chopin mochte lieber Herren als Damen und der »Fidelio»-Komponist war über die Qualität der Wiener Musiker empört.

ZWISCHENTÖNE
So eine Ausgangssperre weitet den Horizont. Manch einer durchforstet jetzt ausländische Medien und findet etwa in einem britischen Musikblog den Hinweis auf eine schweizerische Radioanstalt, in der ein Redakteur verkündete, Beweise dafür gefunden zu haben, daß Frederic Chopin homosexuell war.

Angesichts der Gespaltenheit unserer Welt überlegt man bei Faktenkorrekturen dieses Kalibers gleich, was eine solche Nachricht für das Kulturbewusstsein in Chopins polnischer Heimat bedeuten mag. Heutzutage!

Und wie viele Menschen andererseits die Botschaft so freudig weiterverbreiten werden wie der Schweizer Redakteur und der englische Blogger.

Mir tun die Musikfreundinnen - die ohne Binnen-I - leid, die sich jetzt vielleicht gezwungen sehen, ihre Vorstellungen davon zurechtzurücken, was in so einer Klavier-Nocturne alles vor sich geht, in fis-Moll, in F-Dur oder, noch schlimmer, in H-Dur.

Das dürften aber letztendlich Kleinigkeiten sein gegen die Erkenntnis, daß Ludwig van Beethoven, ausgerechnet er, der Strenge, einen Sänger seiner »Fidelio»-Besetzung geduzt hat. Einen Bariton noch dazu.

Das wissen wir auch seit vergangenem Wochenende. Julia Ronge, die Kuratorin des Beethoven-Hauses Bonn, weiß es natürlich schon länger, aber wir haben jetzt erst erfahren, daß dieser Brief schon 2003 an unbekannt versteigert worden und dann verschwunden ist. Und daß unbekannt jetzt diese großzügige Schenkung gemacht hat.

Damit darf die Welt nachlesen, was der Komponist anno 1806 an Friedrich Sebastian Mayer geschrieben hat, der sein erster Pizarro im Theater an der Wien und offenbar sein Vertrauter gewesen ist.

Mayer, so schreibt Beethoven, möge doch bitte Herrn Kapellmeister Seyfried überreden, die zweite Aufführung des »Fidelio« zu dirigieren, denn als Komponist wolle er sich von einer Loge aus selbst überzeugen, wie sehr die Wiener Musiker sein Werk verhunzten. Aus der Nähe, also vom Dirigentenpult aus, hätte sich das alles schauerlich angehört und sollte geprobt und wieder geprobt werden.

Ein solches Bekenntnis verrät doch allerhand über die künstlerischen Umstände jener Epoche. Der Brief ist also ein wertvolles Geschenk!

Wie viel genau er wert ist, wissen wir auch seit voriger Woche. Da hat eine Dame in New York einen anderen Beethoven-Brief ersteigert - für 275.000 Dollar. Ohne Lockdown wäre uns das vielleicht entgangen, hätten wir uns doch bestimmt darum gekümmert, wer im Musikverein gerade Beethoven-Sonaten spielt; oder gar Chopin-Nocturnes . . .


23. November




Lieben Musiker ihre Dirigenten?


Im Falle von Christian Thielemann und den Philharmonikern beantworten die Orchestermitglieder diese Frage zumindest musikalisch mit einem unüberhörbaren Ja.

Nein, Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Sonst wäre bereits auf den Tag genau vor 33 Jahren an der Wiener Staatsoper - auch der damalige 22. November war ein Sonntag - der Dirigent bei seinem Erscheinen im Orchestergraben mit freundlichen Blicken vonseiten der Musiker begrüßt worden: Er hatte drei Tage zuvor schon einmal dirigiert.

Doch auch diese, seine zweite Aufführung der kleinen »Cosi fan tutte»-Serie unter Christian Thielemann sollte wie eine ganz normale Repertoireaufführung über die Bühne gehen; den jungen Mann am Pult beachtete man, so weit es für den Zusammenhalt des Ganzen unbedingt nötig war. Mozart-Dienst nach Vorschrift, sozusagen.

Das ist an der Wiener Oper in aller Regel nicht das Schlechteste, was dem Publikum passieren kann. Aber zur Legendenbildung reicht es nicht aus. Thielemann, damals gerade 28, hatte einige Monate zuvor mit Verdis »Traviata« debütiert und dann zweimal »Figaros Hochzeit« dirigiert.

1989 kam er für »Cosi« wieder. Aber keiner der Orchestermusiker wäre auf die Idee gekommen, in der Direktion vorstellig zu werden, um darauf aufmerksam zu machen, daß es keine schlechte Idee wäre, diesen Künstler konsequent immer wieder einzuladen.

Was die Staatsoper betrifft, dauerte die folgende Pause fast eineinhalb Jahrzehnte. Als Thielemann 2003 die Premiere von »Tristan und Isolde« dirigierte, wurde er vom Publikum bereits mit Bravorufen empfangen, als er am Pult erschien. Die Philharmoniker hatten ihn bei Begegnungen auf dem Konzertpodium seit dem Jahr 2000 schätzen - nein, jetzt wirklich: lieben gelernt.

Vor allem mit Musik von Richard Strauss hatte er Saiten in den Musikern zum Schwingen gebracht, die lang stumm geblieben waren. Thielemann trat zu einem Zeitpunkt ins philharmonische Leben, als offenkundig geworden war, wie viel mit den prägenden Maestri der Siebziger- und Achtzigerjahre dahingegangen war: Mit Karl Böhm, Herbert von Karajan und Leonard Bernstein hatte das Orchester seine Galionsfiguren verloren. Da war mehr in Verlust gegangen als hohe Schallplatten-Verkaufszahlen.

Viel war immer davon die Rede, daß die Wiener Philharmoniker das einzige bedeutende Orchester der Welt ohne Chefdirigenten seien. Da ist aber nur so lang etwas dran, als einige wichtige Könner, die gleichzeitig auch Kenner der großen Spieltradition sein müssen, das Jahr über immer wieder zur Verfügung stehen.

Wer das Wiener Musikleben der Siebzigerjahre erlebt hat, weiß, daß einer der drei Genannten meist in der Nähe war. Böhm, Karajan und Bernstein machten ihre Aufnahmen mit den Philharmonikern, selbst wenn sie nur selten oder gar nicht an der Staatsoper aktiv waren.

Sinn für Wiener Tradition. Es hat sich später auch gezeigt, daß es wenig Sinn hat, einen berühmten Namen für die Wiener Staatsoper zu engagieren, wenn der nicht mit besagtem kapellmeisterischen Sinn für die Wiener Tradition ausgestattet ist: Seiji Ozawa war und ist ein wunderbarer Animator am Pult - auch am Pult der Wiener Philharmoniker. Ein guter Musikdirektor für die Staatsoper und damit heimlicher Chefdirigent der Philharmoniker war er nicht.

So wenig man das diesem brillanten Taktstock-Virtuosen zum Vorwurf machen durfte, so glückhaft war zu empfinden, daß mit Christian Thielemann plötzlich ein Kapellmeister gefunden war, der sich bereits das nötige Repertoire erarbeitet hatte, um handwerklich mühelos die heikelsten Partituren zu bewältigen, der aber auch genau wußte, wie viel ihm ein Traditionsorchester wie die Wiener Philharmoniker noch beibringen konnte, wenn er es kundig führte und im entscheidenden Moment vor allem - zuhörte!

Dirigenten und Störenfriede. »Spielen lassen«, hieß das bei Böhm und Karajan. Das sagt sich leicht, bedarf aber des intuitiven Wissens um den Zeitpunkt, an dem dieser bestbezahlte Zuhörer im Saal wieder zum Zeichengeber werden muß.

Es geht da um Nuancen, die - oft nur mit einem Blick - gesteuert werden müssen. Viel wichtiger jene Momente, in denen der Dirigent wissen muß, daß er nur stört, wenn er eingreift.

Für Kenner diesbezüglich aufschlußreich war der Vergleich der beiden jüngsten Einstudierungen der »Frau ohne Schatten»: Wie viel Strauss-Glück hatte der berühmte Giuseppe Sinopoli anlässlich der Premiere 1999 durch Überbetreuung zerstört, zerdirigiert. Wie viel ist zuletzt unter Christian Thielemann aufgeblüht, wie es seit Karl Böhm nicht mehr aufgeblüht war.

Ein guter Dirigent? Wer wirklich einer ist, entscheidet sich oft in Zehntelsekunden. In jenem ersten Übergang in Strauss' »Heldenleben«, in dem die Musik vom heroischen Es-Dur-Beginn sich nach atemberaubendem freien akustischen Fall plötzlich - und pianissimo - in H-Dur wiederfindet. Das muß man geschehen lassen; Thielemann ließ es geschehen - und das Orchester war wie verwandelt: Endlich war da einer, der begriff, was so lang gefehlt hatte.

Seither ist Thielemann spürbar der deklarierte Lieblingsdirigent vieler Philharmoniker, vieler Wiener Musikfreunde und jedenfalls der Mann, der dieses Orchester konsequent wieder auf ein Spielniveau zu führen wußte, das verloren schien.

Daß die Musiker ihn ausgewählt haben, um erstmals in der Orchestergeschichte mit ein und demselben Dirigenten alle Symphonien Anton Bruckners aufzunehmen, war wohl die längst fällige, die offizielle Liebeserklärung. Die aktuelle Krise wird hoffentlich nicht verhindern können, daß der Zyklus dieser Tage mit der Aufnahme der Dritten Symphonie fortgesetzt werden kann.

Das Publikum wird sich schweren Herzens, aber doch wohl auch via Livestream begeistern lassen . . .


20. November



Gleich nach der Premiere kamen die Nazis


Operetten-Revival. Mit Jaromir Weinbergers »Frühlingsstürmen« wurde in Berlin die letzte Erfolgsoperette der Weimarer Republik auf DVD gebannt.

Das ist eine der spannendsten DVD-Neuerscheinungen: Barrie Kosky hat in seiner Komischen Oper Berlin im Frühjahr 2020 die Operette »Frühlingsstürme« von Jaromir Weinberger herausgebracht (bei Naxos), ein effektvolles Stück aus der Werkstatt eines Meisters, der vor 1933 nicht nur im leichten Genre erfolgreich war.

Diesmal geht es nicht um Koskys gewohnt bunt-bewegte Regie. Es geht zur Abwechslung einmal wirklich ums Werk. Und um den Komponisten. Vielleicht erinnern sich Musikfreunde an Weinbergers »Schwanda, der Dudelsackpfeifer«, der einst auf dem Programm der Volksoper stand. Das ist vier Jahrzehnte her und war der Versuch, ein Werk wiederzubeleben, das vor 1933 im deutschen Sprachraum, aber auch darüber hinaus eine der meistgespielten zeitgenössischen Opern war.

Polyphonie für den Operettentenor

Weinberger, aus Prag gebürtig, hatte unter anderem bei Max Reger studiert, der ihm seine Leidenschaft für raffinierte Kontrapunktik vererbte. Weinbergers Satzkunst war eminent: Selbst wenn er böhmische Volkstänze und Volkslieder verwendete, bettete er sie in komplexe Harmonien und umrankte die Melodien mit wuchernden Nebenstimmen. Doch traf er nicht nur im Fall der großen Oper den rechten Ton - wie bei seinem »Wallenstein«, der mit Roman Trekel in der Titelpartie 2012 im Wiener Konzerthaus konzertant Eindruck machte. Sondern auch bei der böhmischen Märchenoper »Schwanda« und bei einer Operette vom Format der »Frühlingsstürme« empfand das Publikum die Musik als erfreulich eingängig.

Immerhin standen bei der Uraufführung der »Frühlingsstürme« Ende Jänner 1933 Jarmila Novotna und Richard Tauber auf der Bühne des Berliner Admiralspalasts. Und Weinbergers Musik bediente sowohl die wirbelnden Ansprüche des damals beliebten Genres Revue-Operette als auch jene der singenden Publikumslieblinge, die nach Einschmeichelndem verlangten.

Der Tenor bekam von ihm eine nostalgisch-schöne Auftrittsmelodie, im Finale auch das notorische »Tauber-Lied« zum Abschied von seiner Geliebten. Franz Lehar stand nicht nur dafür Pate. Wie sein »Land des Lächelns« spielen die »Frühlingsstürme« in Fernost, und die Diva läßt den Geliebten, diesfalls einen japanischer Offizier, nach kurzem, trügerischem Glück zu schlechter Letzt allein zurück.

Weinberger gelangen für die im russisch-japanischen Krieg 1904/05 angesiedelte Handlung Nummern von ganz eigenem Reiz, wie die erfreulich dezent nach aktuellem Geschmacksdiktat adaptierte Wiederbelebung des Stücks in der Komischen Oper bewiesen hat. Daß die Produktion wegen der Coronakrise abgesetzt werden und die geplante Neuinszenierung des »Schwanda« unterbleiben mußte, weckt unliebsame Assoziationen - waren doch wenige Wochen nach der Premiere anno 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gekommen, die heftigen »Frühlingsstürme« verweht und der Komponist auf der Flucht. Alles war damals vom finsteren Zeitgeist überschattet: Jarmila Novotna sang nur die allerersten Vorstellungen. Danach probte sie mit Max Reinhardt für dessen letzte Berliner Theaterpremiere. Vor allem aber war sie den Veranstaltern nicht mehr recht geheuer, weil sie allzu deutlich gegen die künftigen Machthaber Stellung bezogen hatte.

Politisch verfeindetes Buffo-Paar

Die politischen Auseinandersetzungen zogen sich bis auf die Hinterbühne: Der Buffo-Tenor, Siegfried Arno, war Jude, seine Soubrette, Else Elster, begeisterte Parteigängerin Hitlers. Die beiden waren einander spinnefeind. Doch auf der Szene küssten sie sich leidenschaftlich - und galten beim Fallen des Vorhangs nach den »Frühlingsstürmen« als die glückseligen Gewinner.

Richard Tauber machte übrigens mit seiner Lebenspartnerin Mary Losseff kurz nach der Uraufführung noch Aufnahmen der vier schönsten Szenen aus Weinbergers Werk. Sie kamen nicht mehr in den Handel.

In der heutigen Ausgabe unserer täglichen Serie »Musiksalon« sind drei davon zu hören - eingebettet in ein Porträt des Komponisten Jaromir Weinberger, der im US-Exil erfolglos blieb und vereinsamt eines vermutlich selbst gewählten Todes starb.

Hören Sie mehr auf: diepresse.com/musiksalon


16. November



Zwischentöne


Welche Signale erwartet die Welt in diesen Zeiten aus Wien?


In Internetforen feiern viele Kommentatoren die Philharmoniker als Helden, weil sie der Krise zum Trotz gerade in Japan gastieren.

Unsere Philharmoniker machen Schlagzeilen, weil sie der weltweiten Krise trotzen und unter enormen Sicherheitsvorkehrungen Musik machen. Nicht in Wien. Aber in Japan. Die Beziehungen des Orchesters zum Fernen Osten haben ja Tradition. Und das japanische Publikum ist diszipliniert genug, um statt laut Bravo zu rufen Transparente mit Liebeserklärungen in die Höhe zu halten.

Die beiderseitige Anerkennung und konsequente Umgehung aller viralen Risken sorgen für Lob in den Internet-Foren, in denen sich nicht zuletzt auch Menschen zu Wort melden, die Orchester-Tourneen in Zeiten wie diesen als eine Art konzertanten Widerstand gegen die allgemeinen Restriktionsmaßnahmen werten.

Das kommentiert sich selbst. Nicht ganz vergessen werden soll über den kolportierten philharmonischen Triumphen in Tokio aber vielleicht die Frage nach der künstlerischen Sinnhaftigkeit einer solchen Reise.

Früher einmal feierte man die Philharmoniker bei solchen Gelegenheiten als kulturelle Botschafter Österreichs. Das war in Zeiten, in denen zum Beispiel Karl Böhm mit ihnen Mozart, Beethoven und Schubert auf dem Tournee-Programm hatte.

Diesmal reisen die Musiker mit Valery Gergiev und spielen zwar eine Beethoven-Ouvertüre und eine Strauss-Tondichtung, im wesentlichen aber Tschaikowsky, Strawinsky und Prokofieff.

Wienerische Klänge bleiben da auf die Zugaben beschränkt. Nun wird niemand annehmen, daß man irgendwo in der Welt nicht froh darüber sein könnte, wenn ein solches Orchester einmal ein Virtuosenstück wie den »Feuervogel« zum besten gibt. Das gehört selbstverständlich dazu.

Aber ein quasi rein russisches Programm - noch dazu unter Valery Gergiev, der nicht gerade für skrupulöse Probenarbeit berühmt ist? Hierzulande hat er kaum je eine wirklich durchgestaltete Interpretation hören lassen. Bestenfalls entstanden routinierte Zufallsprodukte dank der Kombination aus der Professionalität des Orchesters und der eigenen Routine.

Auf einer Reise wächst man freilich zusammen. Also wird schon alles in bester Ordnung sein und niemand danach fragen, was denn die Philharmoniker im allerbesten Fall mit einem prägenden Interpreten am Dirigentenpult zu leisten imstande wären.

Ein Licht wirft das nur darauf, daß dem Orchester wieder einmal die Galionsfiguren abhanden gekommen zu sein scheinen. Daß zum Jubiläumsjahr eine Aufnahme der Beethoven-Symphonien unter einem Dirigenten wie Andris Nelsons entstanden ist, der nicht unbedingt tiefschürfende Beethoven-Erfahrungen in die gemeinsame Arbeit mit einbringen konnte, sagt ja auch allerhand.

Bleibt die Hoffnung, daß - apropos Kompetenz-Harmonisierung - der Bruckner-Zyklus unter Christian Thielemann fortgesetzt werden kann. Anfang Dezember sollte es weitergehen. Wie man allen Widerständigkeiten zum Trotz Musik macht, wird jetzt ja immerhin in Japan geübt . . .


11. November



Noch schummelt sich Frau Direktor durch


Oper im Internet. Malmö streamt jede einzelne Aufführung seiner aktuellen »Falstaff»-Serie. Für Wiener Opernfreunde ist das von Belang, denn die Inszenierung stammt von Lotte de Beer, die ab 2022 die Geschicke der Volksoper leiten wird.

Auch das Kulturleben in aller Welt ist im Ausnahmezustand. Aber wie gehen die Veranstalter damit um? Streaming ist in aller Munde. Die Wiener Staatsoper überbrückt die Phase der Schließung durch die Ausstrahlung verfilmter Produktionen aus den vergangenen Spielzeiten. In Schweden gibt man Oper ganz einfach vor Kameras, als wäre ein Repertoirebetrieb im Internet die normalste Sache der Welt.

Malmö verkauft Tickets für eine Neuinszenierung von Verdis »Falstaff« - und spielt die Produktion jeden Abend, an dem sie angekündigt war, um sie zu streamen. Man ist live dabei, und wer die Vorstellung versäumt, kann nicht (wie etwa im Wiener Onlinebetrieb) einfach 24 Stunden lang darauf vertrauen, die Aufzeichnung »nachsehen« zu können. Der schwedische Weg heißt: ein Ticket für den nächsten Livestream zu erwerben (www.malmoopera.se).

Neugierige haben schon am vergangenen Wochenende den Blick in den hohen Opern-Norden gewagt. Immerhin stammt die »Falstaff»-Inszenierung von Lotte de Beer - und diese übernimmt als Nachfolgerin Robert Meyers bald die Leitung der Wiener Volksoper. Also will man wissen, was die Dame aus einer der feinsinnigsten musikalischen Komödien so macht.

Oper, »über die Bande« gespielt

Zwar, Lotte de Beer ist hierzulande kein unbeschriebenes Blatt, sie hat bei den Bregenzer Festspielen ebenso inszeniert wie im Theater an der Wien. Aber das war vor ihrer Kür zur Volksopern-Patronin. Da hat man vielleicht nicht so genau aufgepaßt, denn es ging ja nur um einzelne Vorstellungen.

In Erinnerung geblieben ist: De Beer spielt Theater gern, wie Billardspieler das nennen, über die Bande. Da sind meist nicht nur die offiziell von Librettos Gnaden handelnden Personen, sondern noch allerlei zusätzliche Akteure oder Puppen im Spiel (wie im Bregenzer »Mose in Egitto«, 2017), oder die Handlung wird auf verschiedenen Zeitebenen gespiegelt wie in der Wiener »Jungfrau von Orleans« im Vorjahr.

Den »Falstaff« läßt Lotte de Beer nun in der Gegenwart spielen; oder sagen wir besser: Sie läßt Sänger in Einheits-»Klamotten« des Jahres 2020 auftreten statt in Gewändern der Shakespeare-Zeit (oder der Ära König Heinrichs IV.). Tatsächlich tritt man auf und agiert. »Falstaff« spielt man hier nicht, nicht so, wie ihn Arrigo Boito klug aus mehreren Shakespeare-Stücken destilliert hat, und auch nicht irgendwie anders.

Die Bilder aus Malmö liefern anstelle eines Theaterstücks Fußnoten zur Frage, mit welchen technischen Mitteln man heute das altgewohnte Bühnenspiel verfremden und in neue Übermittlungsformen auflösen kann. Unentwegt huschen Helferlein über die Szene, um Sänger zu filmen oder ihnen bei neumodischen Schattenspielen beizustehen, die allerlei Dinge im Bild erscheinen lassen, ohne daß die Marionettenspieler sichtbar würden. So hilft man sich über Szenen, die schwer realisierbar sind: Sir John fällt nicht höchstselbst aus dem Fenster in den Fluss, sondern nur sein Wäschekorb in Miniaturgestalt aus dem Puppenhäuschen.

Und sogar anzügliche Momente werden für unsere Ära der neuen Prüderie ganz unverdächtig, wenn man sehen kann, daß Falstaff die listige Alice Ford nicht realiter unsittlich berührt, sondern meterweit von ihr entfernt ist, während die Filmregie zwei Bilder in eins zusammenfügt.

Ein Stück über Corona-Distanzregeln?

Das kann man, wenn man gut aufgelegt ist, auch als Kommentar zu den Corona-Distanzregeln sehen - eine Rubrik, unter die man vielleicht sogar die ganze Produktion reihen kann. Also fragen wir nicht weiter, ob Lotte de Beer Verdi inszenieren kann; vielleicht wird sie ja nach dem Ende der Krise Lust verspüren, das in Wien zu tun.

Musikalisch darf man immerhin die auch in Wien nicht mehr unbekannte Jacquelyn Wagner als Gewinn verbuchen, eine Alice mit schön geführtem, bis in die Höhe sicher platzierendem Sopran. Dann darf man sich freuen, daß das ehemalige Wiener Ensemblemitglied Orhan Yildiz es in Schweden bereits zum Mister Ford geschafft hat und neben dem sympathischen, aber etwas schwächlich tönenden Titelhelden von Misha Kiria glänzend besteht.

Schade, daß man kein besseres Liebespaar als Alexandra Flood und Sehoon Moon gefunden hat. Schöne Stimmen müssten stetiger, sauberer klingen, wollten sie als Entdeckungen gefeiert werden. Das Orchester unter Steven Sloane gibt Verdis fein verästeltem Geflecht immerhin jenes Brio, das einer echten Komödie angemessen wäre.


9. November



Zwischentöne


Im Moment ist die Oper vor allem ein Internetphänomen

Italiens Opernhäuser reagieren: Die Eröffnungspremiere der Mailänder Scala wird heuer zum Konzert-Streaming, andere produzieren fürs Netz.

Die neuerlichen Restriktionen, die in Italien notwendig geworden sind, zwingen nun die Mailänder Scala zur Absage der geplanten Eröffnungspremiere der kommenden Saison. Traditionsgemäß bringt das Haus am Tag des Stadtheiligen Ambrosius, dem 7. Dezember, eine Neuinszenierung heraus. Dominique Meyer hätte seine erste Spielzeit mit Donizettis »Lucia di Lammermoor« eröffnet. Lisette Oropesa, jüngst die Konstanze in der »Entführung aus dem Serail« an der Wiener Staatsoper, hätte die Titelpartie an der Seite von Juan Diego Florez gesungen.

Die Proben waren im Gange. Nun kann man für den traditionsreichen Termin leichten Herzens nur noch ein Opernkonzert ankündigen. Riccardo Chailly wird es leiten - und die RAI wird wie gewohnt übertragen.

Häuser der vom Virus besonders geplagten Region Emilia-Romagna haben sich indes zum Verbund zusammengeschlossen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, in der Zeit der allgemeinen Theaterschließungen dennoch Oper unters Volk zu bringen.

Den Anfang machte am gestrigen Sonntag Modena, wo Regisseur Stefano Monti unter Einbeziehung des Zuschauerraums eine filmtaugliche Version von Henry Purcells »Dido und Aeneas« herausgebracht hat, die live gestreamt wurde (heute noch abrufbar unter operastreaming.com).

In der Folge streamen nun weitere Häuser neue Produktionen. Kommenden Sonntag (15.30 Uhr) bietet das Teatro Municipale von Piacenza Georg Friedrich Händels »Aci, Galatea e Polifemo« unter Luca Guglielmi, inszeniert von Gianmaria Aliverta.

Am 24. November steht eine Aufführung von Verdis Requiem aus Piacenza auf dem Programm dieses virtuellen Opernhauses, am 29. Dezember folgt dann Puccinis »Madame Butterfly« aus Ferrara. Bis zum Ende der Saison - was auch immer in den verschiedenen Häusern bis dahin vor Publikum möglich sein wird oder nicht - haben noch Ravenna Monteverdis »Orfeo« (28. Februar), Reggio Emilia Rossinis »Barbier von Sevilla« (26. März) und Rimini Verdis Rarität »Aroldo« (16. April) parat. Zwei Tage später beschließt Piacenza die Reihe dann mit Donizettis »La Favorita».

Die Wiener Staatsoper läßt dieser Tage auf ihrer Streamingplattform einige Höhepunkt der Ära Dominique Meyers Revue passieren - und die geplante Neuinszenierung von Hans Werner Henzes »Das verratene Meer« weiterprobieren. Premiere soll am 13. Dezember sein. Hoffen wir's . . .


3. November



»Musiksalon»: Wilhelm Sinkovicz gibt täglich Hörtipps


Auch der monatliche »Musiksalon« der »Presse« im Wiener MuTh ist vom Lockdown betroffen - dafür gibt es ihn jetzt täglich online zum Anhören: Auf diepresse.com/musiksalon gibt Musikkritiker Wilhelm Sinkovicz Tag für Tag Einblicke, was auf dem Programm der Opern- und Konzertbühnen gestanden wäre, und empfiehlt ein Ersatzprogramm für zu Hause: neue CDs, Streaming-Perlen und die besten DVD-Produktionen von Opern und Konzerten. Die erste Ausgabe am heutigen Dienstag reflektiert das abgesagte Allerheiligen- und Allerseelenprogramm und bietet für alle, die sich »Eugen Onegin« heute statt in der Staatsoper im Wohnzimmer anhören möchten, einen Crashkurs zur Auffrischung: »Eugen Onegin« in drei Minuten, sozusagen.


2. November



Zwischentöne


Vor dem Shutdown oder »nach dem Krieg um halb sechs»?


Via Livestream vermittelten die Berliner Philharmoniker, was wirkliche Notsituationen sind und was es heißt, wenn Musiker nicht spielen.

Nach dem Krieg um halb sechs im Kelch - so verabredet sich Jaroslav Haseks »braver« Soldat Schwejk mit dem Kameraden. Pünktlich nach dem Krieg hatte die Musikgeschichte Vergangenheitsbewältigungsklänge zu liefern. Vor dem Shutdown konnten die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten einige davon zum Klingen bringen. Via Livestream war die Welt dabei. Sie vernahm zwei musikalische Kommentare auf die Ereignisse von 1945, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Richards Strauss mit seinen »Metamorphosen« angesichts zerbombter Opernhäuser den Untergang der europäischen Kultur besang und dabei Beethoven zitierte, verwirrte Dmitri Schostakowitsch den Triumphator Josef Stalin, indem er ihm das erwartete pathetische Klangmahnmal verweigerte: Seine Neunte hätte - vor allem nach der Siebenten, die eine tönende Durchhalteparole für die verzweifelten Menschen im belagerten Leningrad war, und der von der Schlacht um Stalingrad »inspirierten« Achten - eine sowjetische Freuden-Ode werden sollen.

Doch sie wurde eine nur zwischendurch sehr nachdenkliche, rundherum mehrheitlich spritzig-zynisch-hintergründige, klassizistisch geformte »Sinfonia«, die Kirill Petrenko mit derselben feinen Klinge musizieren ließ wie zuvor die Strauss-»Metamorphosen«, die er - anders als sein großer Vorgänger Karajan - nicht vom ganzen, üppigen Streicher-Corps der Berliner spielen lässt, sondern lediglich von den vom Komponisten vorgeschriebenen »23 Solostreichern».

Jeder einzelne von ihnen sorgt für subtil modellierten, dynamisch sorgfältig kontrollierten Schönklang - woraus sich ein verästeltes Klanggewebe ergibt, wie es auch hernach bei Schostakowitsch, um Bläser und Schlagwerk bereichert, nicht minder transparent und feingliedrig zum Ereignis wird. Kirill Petrenko scheint mit seinem Orchester wirklich in einer eigenen Liga zu spielen; dank »Digital Concert Hall« kann die Welt zuhören.

Auch - und gerade - wenn weltweit die Konzerthäuser zusperren müssen, ist dieses Angebot unschätzbar. Petrenkos Zugabe schien zeitgemäß: Er dirigierte John Cages »4 Minuten, 33 Sekunden« - und schaffte immerhin fast drei Minuten tatsächlicher Stille bei spürbarer Hochspannung im Saal: So kann das sein, wenn Musiker nicht spielen (dürfen).

Das geht unter die Haut, auch wenn man weiß: Nach dem Shutdown um halb acht geht's wieder weiter.


30. Oktober



Ein Wiener Dichter übertrug Verdis Italianita


Volksoper. Das Haus am Gürtel bricht demnächst eine Lanze für Franz Werfels Version der »Macht des Schicksals« und erinnert damit an dessen bahnbrechende Leistungen für die Renaissance der italienischen Oper im deutschen Sprachraum.

Ein »wirklich spannendes Projekt« nennt Volksopern-Dramaturg Christoph Wagner-Trenkwitz die Aufführung der »Macht des Schicksals«, die - in konzertanter Form - für 7. November geplant ist. Mit der Wiedergabe einer Verdi-Oper in deutscher Sprache knüpft das Haus endlich wieder bei einer seiner wichtigsten Aufgaben an - und blickt vor allem neugierig auf seine eigene Vergangenheit.

Wagner-Trenkwitz hat Marie-Theres Arnboms viel diskutiertes Buch »Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt« aufmerksam gelesen und dort erfahren, daß Franz Werfel Mitte der Zwanzigerjahre geplant hatte, seine deutschsprachige Übersetzung des Verdi-Librettos erstmals in der Volksoper zu präsentieren. Der damalige Direktor des Hauses, Fritz Stiedry, bald zur Emigration gezwungen und einer der führenden Dirigenten der New Yorker Metropolitan Opera, hatte sich für eine Produktion der »Macht des Schicksals« interessiert.

Was sich heute wie ein Routineplan ausnimmt, war damals eine bahnbrechende Idee. Für Verdi interessierte sich die Opernwelt nämlich in jenen Jahren nicht wirklich, von einigen, wenigen Dauerbrennern des Repertoires einmal abgesehen.

Es war tatsächlich der Schriftsteller Franz Werfel, der den Gesinnungswandel herbeiführen konnte. Und zwar mit seinem »Verdi - Roman der Oper«, der quasi als Opus 1 des neu gegründeten Zsolnay-Verlags 1924 in Wien erschien und sogleich zu einem Bestseller wurde.

Der Boden war damit aufbereitet, und Werfels Verdi-Faszination hielt an. Zunächst gab er eine Sammlung von Verdi-Briefen heraus. Dann begann er Textbücher von Verdi-Opern zu übersetzen, die im deutschen Sprachraum völlig in Vergessenheit geraten waren, »Simon Boccanegra« machte den Anfang, »Don Carlos« folgte.

Gerade damit hatte es seine besondere Bewandtnis: Immerhin wetterte Richard Strauss noch 1945 in einem sonst nach wie vor beherzigenswerten Konzept für ein sinnvoll gestaltetes Wiener Opernrepertoire, daß Opernversionen deutscher Klassiker - in welcher Sprache auch immer - »auf der deutschen Bühne« nichts verloren hätten.

Werfel sah das ganz anders und war dafür verantwortlich, daß »Don Carlos« in der szenischen Einrichtung des Regisseurs Lothar Wallerstein 1932 herauskam, musikalisch übrigens betreut von Clemens Krauss; ausgerechnet! Krauss war der Lieblingsdirigent von Richard Strauss!

Das war eine Produktion der Staatsoper. Mit Fritz Stiedry hatte Franz Werfel zuvor für die Volksoper einen ganzen Verdi-Zyklus geplant und sich die Übersetzungsrechte für die Textbücher gesichert: »Gelänge es nun, die Texte einigermaßen zu säubern und für die deutsche Bühne brauchbar zu machen (die ja immer besonders gute Texte verlangt hat), so wäre eine herrliche Musik gerettet«, gab sich Werfel in einem Gespräch für die Zeitschrift »Die Bühne« zuversichtlich. Er wollte »weniger das Wort des Textes als das Gefühl der Musik ins Deutsche übertragen».

Werfels auch dramaturgisch bearbeitete Version von »La forza del destino« sollte den Anfang machen. Der heute noch gebräuchliche deutsche Titel »Die Macht des Schicksals« geht auf Werfel zurück - und diente im Verdi-Roman bereits als Kapitelüberschrift.

Der Wiener Fritz Stiedry, einst Assistent Gustav Mahlers an der Hofoper, verließ aber seinen Volksopern-Posten schon nach einer Saison im Sommer 1925. So kam das Verdi-Projekt in Wien nicht zustande.

Nun gibt man die »Macht des Schicksals« immerhin konzertant, und Dramaturg Wagner-Trenkwitz freut sich, daß Franz Werfels ganz eigenständige Übersetzung nun endlich auch Wiener Opernfreunden bekannt wird: Dem Dichter sei es, so Wagner-Trenkwitz, tatsächlich gelungen, den Text aus Verdis Musik heraus zu formen, den Sinn des Originals zu treffen und dennoch literarischen Ansprüchen zu genügen. Hie und da verkehre Werfel den Sinn von Francesco Maria Piaves Text zwar geradezu in sein Gegenteil, aber immer mit dramaturgischer Methode, »um den Subtext des Singenden zu illustrieren oder die Spannung zu erhöhen».

Einige Passagen in Werfels Text nennt Wagner-Trenkwitz echte literarische »Gustostückerln«, etwa jene Passage, in der Fra Melitone sich darüber beklagt, daß er der Aussprache Pater Guardians mit Leonore nicht beiwohnen dürfe: »Wenn's delikat wird, zu gehen schad wird, dann entläßt man mich eilig. Ich zähl nicht zu den Heiligen, mich will man nicht beteiligen.«

Werfels Witz, Schillers Vorbild

Dergleichen Passagen verdanken wir Werfels Witz. Aber, so weist der Volksopern-Chefdramaturg nach, der Wiener Schriftsteller zollte auch Friedrich Schiller seinen Tribut, und zwar dort, wo sich schon die italienischen Autoren beim deutschen Dramatiker bedienten.

Wagner-Trenkwitz: »Der anklagende Monolog des Fra Melitone im dritten Akt der ,Forza del destino' ist dem achten Auftritt in Friedrich Schillers ,Wallensteins Lager' nachempfunden. Obwohl es sich bei Melitone um einen Franziskaner handelt, wird sein anklagender Monolog von Werfel (wie bei Schiller) als ,Kapuzinerpredigt' übertitelt. Im Wallenstein hebt der vorwurfsvolle Mönch so an: ,Heisa, juchheia! Dudeldumdei! Das geht ja hoch her. Bin auch dabei! Ist das eine Armee von Christen? Sind wir Türken? Sind wir Antibaptisten?' In Werfels ,Macht des Schicksals' wurde daraus, durchaus wiedererkennbar: ,Heißa! Stampft nur die ganze Welt zusammen. Immer, wo's lustig zugeht, bin ich vorhanden! Ist dies ein Volk von Christen? Nein! Ihr seid Türken! Anabaptisten!' - also auch ein Abend für die literarische Spurensuche.

»Die Macht des Schicksals»: 7., 14., 20. und 24. 11.


29. Oktober



Ab sofort feiern wir hier in Österreich jede Woche Neujahr


Streaming. Die Plattform »Fidelio« zeigt bis Silvester im Siebentage-Rhythmus Mitschnitte der philharmonischen Walzerkonzerte seit 2010.

In diesen Tagen, da der Spaßgesellschaft ihr längst realisierter immerwährender Fasching verleidet wird, kann es nicht schaden, wenn man uns zumindest in Aussicht stellt, daß Neujahr nicht nur am 1. Jänner zu feiern ist. Wer sich ein Dutzend DVDs zulegt, kann das Spielchen spielen, wann immer er will. Als Abonnent des Streaming-Dienstes »Fidelio« sitzt man nun aber Sonntag für Sonntag zur rechten Stunde in der fußfreien Reihe im Wiener Musikverein - und erlebt ein philharmonisches Neujahrskonzert. Bis zum 27. Dezember läuft Woche für Woche jeweils um 11 Uhr die Aufzeichnung der Neujahrskonzerte seit 2010.

Am 30. und 31. Dezember gibt es dann als Zugabe die Konzerte von 2018 und 2019 - dann ist man ebenfalls bei »Fidelio« live dabei, wenn Riccardo Muti wieder den Taktstock schwingt, um das Jahr 2021 einzubegleiten. Der Maestro tut das mittlerweile zum sechsten Mal. 1990 war er das erste Mal im erlauchten Kreis der Wiener Neujahrsbotschafter zugelassen.

Wir sind zuletzt von politisch korrekter Seite wiederholt daran erinnert worden, daß die Tradition der Walzer-Konzerte zum Jahreswechsel mitten im Zweiten Weltkrieg begann: Clemens Krauss war der erste, der nach entsprechenden Erfahrungen bei den Salzburger Festspielen die Werke der Strauß-Dynastie wieder zu philharmonischen Ehren brachte.

Man muß heutzutage angelegentlich daran erinnern, daß dieser Künstler in Yad Vashem in der Liste der »Gerechten unter den Völkern« erwähnt wird, ehe man zur musikalisch unabdingbaren Feststellung gelangen darf, daß seine Walzer-Aufnahmen gehört haben muß, wer sich Rechenschaft über den wahren Charakter eines wienerischen Dreivierteltakts geben möchte. Wer sich auf die Suche nach dem Livemitschnitt von Krauss' letztem Neujahrskonzert (1954) gemacht hat, kann auch den himmelweiten Unterschied zwischen einem erfreulichen Konzert-Ereignis und jenem Medien-Spektakel ermessen, wie es uns heute pünktlich um 11 Uhr jedes Neujahrstages geboten wird, bei dem sogar die sogenannten Zugaben im TV-Regiebuch stehen, während sie früher willig auch als echte »Encores« spontan während des Konzerts gewährt wurden.

Lockerungsübung für strenge Maestri

Daß die Dirigenten zu Neujahr jährlich wechseln, ist eine vergleichsweise junge Gepflogenheit - Lorin Maazel übernahm als designierter Staatsoperndirektor 1980 den Dirigentenstab (und später auch das eine oder andere Mal den Geigenbogen) vom langjährigen Neujahrs-Zelebranten Willi Boskovsky. Damit war die große Zeit eines philharmonischen Konzertmeisters zu Ende, und nach Maazels Abgang brach die Ära der Dirigier-Stars an.

Denkwürdige Vormittage unter Dirigenten wie Herbert von Karajan und Carlos Kleiber blieben im Gedächtnis. Was von der jüngeren Neujahrs-Vergangenheit erinnernswert bleiben könnte, läßt sich nun bis zum Stichtag Woche für Woche im Stream kontrollieren: Kommenden Sonntag erlebt man noch einmal den quirligen, ewig-jungen Franzosen Georges Pretre, danach so unterschiedliche Maestri wie Welser-Möst und Mariss Jansons (je zweimal), Daniel Barenboim, Zubin Mehta, Christian Thielemann oder Gustavo Dudamel - die Spannweite reicht also vom sprichwörtlichen »Musikdarsteller« bis zum gediegenen Kapellmeister; gut, um die eigene Erinnerung zu testen, bevor es ans Taxieren von Riccardo Mutis Leistung geht - der auch mit seinem bisher letzten Beitrag zur Sammlung (2018) in der Retrospektive zu erleben ist: »Locker wie zu Neujahr gibt sich Muti sonst kaum«, konnten wir damals feststellen. Voila.

27. Oktober



Zwischentöne


Aus der Werkstatt eines legendären Dirigentenausbildners


Auf elf CDs erschien zum Sparpreis eine Sammlung von Aufnahmen unter der Leitung Hans Swarowskys, bei dem Abbado, Mehta und Co. lernten.

Eine prägende Erscheinung im Musikleben der Sechziger- und Siebzigerjahre war Hans Swarowsky jedenfalls: Aus seiner Wiener Dirigentenklasse gingen zahllose Kapellmeister hervor, die mehr oder weniger große Karrieren machen konnten. Nicht nur Zubin Mehta und Claudio Abbado hielten (und halten) das Andenken ihres Lehrers hoch. Auch manche Vertreter der sogenannten Originalklang-Praxis haben Swarowsky viel zu verdanken.

Zwischen dieser Wahrnehmung und den Erinnerungen an den Dirigenten Swarowsky klafft ein bemerkenswerter Graben. Wer den beliebten Dirigentenausbildner erleben durfte, wenn er selbst am Pult der Symphoniker oder des Staatsopernorchesters stand, wunderte sich vielleicht: Die Aufführungen unter seiner Leitung klangen meist viel weniger inspiriert als jene, die seine berühmtesten Schüler zuwege brachten.

Da war, wie man später erfuhr, auch ein gerüttelt Maß an orchestraler Verweigerung im Spiel: Swarowsky forderte - offenbar zu früh - bereits Spielweisen ein, die Originalklang-Pioniere zunächst einmal mit Spezialensembles ausprobieren mußten, ehe die Traditionsorchester bereit waren, die neuen Manieren anzunehmen. Die Auftakte in Mozarts »Zauberflöte»-Ouvertüre konnten als gutes Illustrationsbeispiel dienen.

Wie auch immer: Charisma und Überzeugungskraft muß ein Dirigent jeweils immer selbst mitbringen. Beim Dirigierprofessor aber konnte er manches über die Hintergründe und die Strukturen der Werke lernen, die es zu interpretieren galt. Das zu verstehen und es umzusetzen, das sind zwei Paar Schuhe, von denen eines Lackschuhe sein können, gewiss.

Bei Hänssler ist jüngst eine CD-Box mit Aufnahmen erschienen, die Hans Swarowsky mit diversen Wiener, Prager und deutschen Orchestern gemacht hat, in der Zeit des Wiederaufbaus, als er einer der Hoffnungsträger der neuen Zeit war.

Da läßt sich die Sache mit der oben geschilderten passiven Musiker-Resistenz auch verifizieren: Was namentlich die Wiener Orchester Swarowsky entgegenbrachten, wenn er am Pult stand, war alles andere als ihr legendärer Schönklang. Hat man sich aber durch den wuchtigen Akkordpanzer der Haydn-Symphonie Nr. 70 auf CD Nr. 1 einmal »hindurchgehört«, bemerkt man, wie etwa die Bläserstimmen deutlicher herausgearbeitet werden als üblich. Es hat schon Methode, was hier zumindest versucht - hie und da auch erreicht wird.

Und wer hören will, wie das war, als der junge Friedrich Gulda zwei Mozart-Klavierkonzerte in improvisatorischem Geist musiziert hat, der wird überrascht sein, wie spontan, wie spritzig etwa das C-Dur-Konzert KV 467 hier klingt: Bei Swarowsky ist Gulda quasi vom ersten Takt an mit von der Partie - Dirigentenschüler Abbado hat dem Pianisten in der späteren, so viel gerühmten Aufnahme für die Deutsche Grammophon nicht annähernd so viel Freiheit gegönnt.

Freilich: Die Philharmoniker spielten für den Schüler anno 1974 viel klangschöner, viel kultivierter als das Orchester der Staatsoper elf Jahre zuvor für den Lehrer. Aber die Lebendigkeit, die Musizierfreude war dahin . . .


27. Oktober



Zwischentöne


Aus der Werkstatt eines legendären Dirigentenausbildners


Auf elf CDs erschien zum Sparpreis eine Sammlung von Aufnahmen unter der Leitung Hans Swarowskys, bei dem Abbado, Mehta und Co. lernten.

Eine prägende Erscheinung im Musikleben der Sechziger- und Siebzigerjahre war Hans Swarowsky jedenfalls: Aus seiner Wiener Dirigentenklasse gingen zahllose Kapellmeister hervor, die mehr oder weniger große Karrieren machen konnten. Nicht nur Zubin Mehta und Claudio Abbado hielten (und halten) das Andenken ihres Lehrers hoch. Auch manche Vertreter der sogenannten Originalklang-Praxis haben Swarowsky viel zu verdanken.

Zwischen dieser Wahrnehmung und den Erinnerungen an den Dirigenten Swarowsky klafft ein bemerkenswerter Graben. Wer den beliebten Dirigentenausbildner erleben durfte, wenn er selbst am Pult der Symphoniker oder des Staatsopernorchesters stand, wunderte sich vielleicht: Die Aufführungen unter seiner Leitung klangen meist viel weniger inspiriert als jene, die seine berühmtesten Schüler zuwege brachten.

Da war, wie man später erfuhr, auch ein gerüttelt Maß an orchestraler Verweigerung im Spiel: Swarowsky forderte - offenbar zu früh - bereits Spielweisen ein, die Originalklang-Pioniere zunächst einmal mit Spezialensembles ausprobieren mußten, ehe die Traditionsorchester bereit waren, die neuen Manieren anzunehmen. Die Auftakte in Mozarts »Zauberflöte»-Ouvertüre konnten als gutes Illustrationsbeispiel dienen.

Wie auch immer: Charisma und Überzeugungskraft muß ein Dirigent jeweils immer selbst mitbringen. Beim Dirigierprofessor aber konnte er manches über die Hintergründe und die Strukturen der Werke lernen, die es zu interpretieren galt. Das zu verstehen und es umzusetzen, das sind zwei Paar Schuhe, von denen eines Lackschuhe sein können, gewiss.

Bei Hänssler ist jüngst eine CD-Box mit Aufnahmen erschienen, die Hans Swarowsky mit diversen Wiener, Prager und deutschen Orchestern gemacht hat, in der Zeit des Wiederaufbaus, als er einer der Hoffnungsträger der neuen Zeit war.

Da läßt sich die Sache mit der oben geschilderten passiven Musiker-Resistenz auch verifizieren: Was namentlich die Wiener Orchester Swarowsky entgegenbrachten, wenn er am Pult stand, war alles andere als ihr legendärer Schönklang. Hat man sich aber durch den wuchtigen Akkordpanzer der Haydn-Symphonie Nr. 70 auf CD Nr. 1 einmal »hindurchgehört«, bemerkt man, wie etwa die Bläserstimmen deutlicher herausgearbeitet werden als üblich. Es hat schon Methode, was hier zumindest versucht - hie und da auch erreicht wird.

Und wer hören will, wie das war, als der junge Friedrich Gulda zwei Mozart-Klavierkonzerte in improvisatorischem Geist musiziert hat, der wird überrascht sein, wie spontan, wie spritzig etwa das C-Dur-Konzert KV 467 hier klingt: Bei Swarowsky ist Gulda quasi vom ersten Takt an mit von der Partie - Dirigentenschüler Abbado hat dem Pianisten in der späteren, so viel gerühmten Aufnahme für die Deutsche Grammophon nicht annähernd so viel Freiheit gegönnt.

Freilich: Die Philharmoniker spielten für den Schüler anno 1974 viel klangschöner, viel kultivierter als das Orchester der Staatsoper elf Jahre zuvor für den Lehrer. Aber die Lebendigkeit, die Musizierfreude war dahin . . .


23. Oktober



Das philharmonische Universum


Bruckner auf CD. Christian Thielemann ist der erste Dirigent, mit dem Wiens Meister-Orchester eine Gesamtaufnahme aller neun Symphonien in Angriff genommen hat.

Diese CD ist Teil des vielleicht wichtigsten Aufnahmeprojektes der amtierenden Generation der Wiener Philharmoniker. Man kann ja über alle möglichen musikalischen Vorlieben und Spezialisierungen diskutieren. Aber die Behauptung, dieses Orchester sei quasi das einzig echte Originalklang-Ensemble für die Musik Anton Bruckners, sollte unbestritten bleiben.

Nun konnte ja, wer mit wienerisch-philharmonischen Bruckner-Aufführungen unter Karl Böhm und Herbert von Karajan groß geworden war, in der jüngeren Vergangenheit nicht oft glücklich werden. Deshalb erinnere ich mich noch gut an die Aufführung der achten Symphonie, die Christian Thielemann im März 2. Juli im Musikverein dirigierte. Das war so etwas wie ein Wiedererweckungserlebnis. So selbstverständlich, so im tiefsten Wortsinn natürlich hatte diese Musik viele Jahre in diesem Saal nicht mehr geklungen.

Apropos Aufführungstradition: Es war, als wäre diese nie unterbrochen worden, nie gefährdet gewesen. Das viel zitierte, meist missverstandene Wort, der beste philharmonische Dirigent sei immer der, der das Orchester »einfach spielen« lasse, fand hier seine Bestätigung: Es ist erstaunlich, wie viel Musiziergeist sich quasi im genetischen Code eines bedeutenden Orchesters erhält und im rechten Moment sozusagen ganz von selbst wieder in Erscheinung tritt, wenn die Chemie zwischen den Musikern und dem Dirigenten stimmt.

Im Falle von Thielemann und den Philharmonikern stimmt sie. Umso mehr, als man sich seit diesem denkwürdigen Datum des Öfteren zu Bruckner-Sessionen zusammengefunden hat und die gemeinsamen Erfahrungen mit dieser Musik immer weiter vertiefen konnte.

Daß man vor einiger Zeit beschlossen hat, diese Begegnungen zu Audio- und Video-Aufnahmezwecken zu nutzen, scheint nur logisch. Bemerkenswert dabei: Thielemann ist der erste Dirigent, der mit diesem Orchester eine Bruckner-»Gesamtaufnahme« macht - und zwar in den gewohnten Spielfassungen ohne philologische Experimente (so interessant sie sein mögen).

Demnächst gibt man zu diesem Zweck die Dritte in der Uraufführungsversion von 1877 im Musikverein. Die Achte hat man in der auch von Karajan stets gewählten Mischfassung von Haas im Vorjahr mitgeschnitten. Sie ist nun auf CD erschienen, ein Bruckner-Hörerlebnis der eingangs geschilderten Art, in dem sich die gewaltigen Steigerungsbögen dieser Musik wie Naturereignisse aufschichten - und die Philharmoniker dabei mit einer Klangschönheit aufspielen, die sie nur alle heiligen Zeiten in solcher Fülle mobilisieren. Das ist von den geheimnisvoll schimmernden Pianissimi bis zu den dramatischen Entladungen von edelstem Timbre; und - man lausche den Oboen-Soli im ersten Satz! - bis in die Einzelstimmen hinein ungemein ausdrucksstark.

All das wirkt in keinem Moment »gemacht«, vom Dirigenten inszeniert. Da redet eine Musikergemeinschaft in ihrer Muttersprache und man versteht, warum der Komponist beim Versuch, seine Musik zu »beschreiben«, zu drastischen Formulierungen wie »Todesverkündigung« oder scheinbar naiv-pittoresken Bildern wie »Kosakenritt« gegriffen hat - dergleichen schwingt da in all der scheinbaren Unvereinbarkeit mit, geht aber auf in einem Pandämonium höherer Ordnung, das an Gustav Mahlers Diktum denken lässt, eine Symphonie zu komponieren, das hieße, »eine Welt aufzubauen».


19. Oktober



Zwischentöne


Igor Levit ist in seiner Generation schlicht der Beste


Ein Musikkritiker der »Süddeutschen Zeitung« kritisiert Igor Levit - und vermischt politische und ästhetische Kategorien.

Um den Pianisten Igor Levit ist ein Streit zwischen deutschen Musikkritikern entbrannt. Es spiegelt sich darin die ganze Hilflosigkeit, die das Metier befallen hat. Wenn die musikalischen Argumente ausgehen, redet man über politische Gesinnungen. Das fällt im Fall von Levit leicht. Er redet ja ununterbrochen über Politik. Tatsächlich hört sich aber alles auf, wenn eine musikalische Leistung unter dem Aspekt beurteilt wird, ob ein Künstler gegen die AfD ist.

Gewiß haben im Fall Igor Levits die einschlägigen Verlautbarungen des Pianisten geholfen, ihn auch bei Menschen im Gespräch zu halten, die mit Klassik wenig am Hut haben. Umgekehrt konnte Levit in den Zeiten des Shutdowns tagtäglich unglaubliche Quoten erreichen, wenn er via Twitter Livekonzerte gab. 52 verschiedene Konzerte en suite!

Am Ende des Tages wird deshalb die AfD keine Stimme weniger bekommen, aber vermutlich werden etliche Zaungäste dieser Livestreams plötzlich Beethoven für einen guten Mann halten. Damit ist einiges getan. Vermutlich deshalb hat Deutschlands Bundespräsident Steinmeier dem Künstler nun den Bundesverdienst-Orden verliehen. Die Musikkritiker Deutschlands streiten nun darüber, ob es sinnvoll ist, derlei kulturpolitische, sozialpolitische und rein politische Dinge mit Aussagen über das Künstlertum Levits zu vermischen. Vor allem, wenn in diesem Zusammenhang nahezu gar keine ästhetischen oder pianistisch-technischen Überlegungen mehr angestellt werden.

Viel ist immer von Subjektivität die Rede, wenn man Rezensenten am Zeug flicken möchte. Darüber werden die Kritiker selbst unvorsichtig und vergessen, daß sich gerade in musikalisch-kritischen Fragen vieles objektivieren lässt. Zum Beispiel, ob der eine oder der andere Pianist das Legato-Spiel beherrscht.

Wer nun behauptet, hier wäre Levits Achillesferse zu diagnostizieren, begibt sich auf gefährliches Terrain. Das Nämliche ließe sich ja auch von Glenn Gould behaupten, solang man etwa nur das eine oder andere der Präludien aus dessen Aufnahme von Bachs »Wohltemperiertem Klavier« als Beweismittel anführte.

Im Fall Igor Levits genügt es, sein neuestes CD-Album »Encounter« anzuhören, um nicht nur dieses dümmliche Argument zu entkräften. Das Album beweist auch, daß dieser Interpret imstande ist, ein heikles Programm intellektuell vollkommen zu durchdringen. Und das wiederum wirft ein Licht auf eine der bemerkenswertesten Feststellungen in diesem Kritiker-Streit: Levit spiele »in einer anderen Liga« als etwa ein Daniil Trifonov, hieß es in der »Süddeutschen».

Das stimmt natürlich, wenn auch im konträren Sinne: Levit ist in seiner Generation nämlich einfach der Beste.


16. Oktober

Kuriose Meisterwerke


Maddalena del Gobbo läßt im Musikverein die Viola da Gamba in all ihren Spielarten erklingen.

Otto Biba, langjähriger Direktor des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien-und damit Herr über eine der wertvollsten Musikaliensammlungen der Welt-,hat eine originelle Konzertreihe ins Leben gerufen: Unter dem Titel »Nun klingen sie wieder« präsentiert er Instrumente aus dem Archiv, die zum Teil seit Jahrhunderten nicht mehr zu hören waren.

Dabei konnten Musikfreunde bereits Kuriositäten entdecken. Etwa die zur Biedermeier-Zeit modische »Stockflöte«, die es dem Flaneur ermöglichte, irgendwo unter freiem Himmel seinen Spazierstock in eine Flöte zu verwandeln und zu musizieren.

Freilich beherbergen die Sammlungen auch wertvolle Instrumente aus dem Besitz großer Musiker und Komponisten. Die nächste Folge widmet sich der Viola da Gamba, also einer ganzen Instrumentenfamilie, die von der großväterlichen Bassgambe bis zum Sopran-»Baby« alle Register umfaßte und vor der Landnahme von Violinen und Violoncelli das weite musikalische Land unumschränkt beherrschte: Die Gambe war das allumfassende Streichinstrument-der Kontrabass ist in unserem Symphonieorchestern der letzte Überlebende der Spezies.

Damen vorbehalten. Mit Maddalena del Gobbo hat sich Otto Biba diesmal einer charmanten und versierten Instrumentalistin versichert, die im umfassendsten Sinne des Wortes alle Gamben-Spielarten beherrscht. Sie bringt Kollegen mit, Eva Münzberg (Pardessus de Viole), Christoph Urbanetz (Baryton), Florian Wieninger (Violone) und den Cembalisten Anton Holzapfel. Gemeinsam musiziert man Gambenmusik aus drei Jahrhunderten. Wobei mit der Violone die Vorform unseres Kontrabasses zu bestaunen ist. Die Pardessus de Viole wiederum ist die Gambe in der höchsten Lage: Der Sopran war im Frankreich des frühen 18. Jahrhunderts vornehmlich den Damen vorbehalten. Für das Baryton wiederum, mit dem die Instrumentenbauer des 18. Jahrhunderts einen Sonderweg beschritten, hat sich Maddalena del Gobbo schon einmal selbst eingesetzt, indem sie auf diesem Instrument eine ganze CD aufgenommen hat.

Geheimnisvolle Bordunsaiten. In der Musikgeschichtsschreibung hat das Baryton auf Grund der zahlreichen Werke überlebt, die kein Geringerer als Joseph Haydn komponiert hat. Und das kam so: Wie so oft hängt es an einer einzigen Persönlichkeit, in diesem Fall war Fürst Esterházy, der Dienstherr Haydns, der Promotor des raren Instruments. Haydn war seit den 1770er-Jahren der unermüdliche fürstliche Opernkapellmeister. Das wußte die ganze Welt. Doch vor dieser Ära machte man in Eisenstadt und Esterháza eher Kammermusik. Und diese Musik dominierte der Klang eines Instruments, von dem wir heute ohne den musikalischen Fürsten nicht einmal mehr den Namen kennen würden: Nikolaus, der Prachtliebende, spielte Baryton.

Optisch würden wir in unseren Tagen dieses Instrument am ehesten mit dem Cello vergleichen, klanglich am ehesten mit einer Bratsche. Doch schwingt im Klang des Barytons im wahrsten Sinn etwas Geheimnisvolles mit. Sogenannte Bordunsaiten, unterhalb der eigentlich gespielten Saiten angebracht, umgeben den Klang stets noch mit sanften Sphärenharmonien. Weitere Zusatzsaiten waren wie Gitarresaiten zum Zupfen gedacht. So umfaßte diese Hybridinstrument eine erstaunliche Klangpalette, während der harmonische Bereich ziemlich begrenzt war. Die mitklingenden Saiten konnten ja nicht umgestimmt werden, sodaß sich angenehme Effekte nur in bestimmten Tonarten ergaben. Daher stehen denn die meisten der Hunderten(!) Werke, die Joseph Haydn für das Baryton geschrieben hat, in immer denselben Tonarten. Wär' nicht Haydn gewesen, wenn ihm nicht trotz dieser Beschränkungen immer etwas Neues eingefallen wäre.

Man darf sich also durchaus auch in diesem kuriosen Klangumfeld auf kompositorische Meisterwerke freuen. Und auch einige Cembalo-Zwischenspiele, die Anton Holzapfel auf historischen Instrumenten der Musikvereinssammlung musizieren wird; auch diesbezüglich darf man sich auf Überraschungen gefaßt machen.

Tipp

16. Oktober

Die Sogwirkung einer Buberlbande


Wie aus zarten Knaben blutrünstige Mörder werden, zeigt Hans Werner Henzes Oper »Das verratene Meer».
Mit den Nachwehen der Achtundsechziger-Bewegung hatte sich der deutsche Komponist Hans Werner Henze völlig aus den Opernhäusern und Konzertsälen der Welt zurückgezogen. Er wollte »engagierte Musik« machen, ging eine Zeit lang nach Kuba und verfaßte, wenn schon, Opern nach Texten von Edward Bond mit sozialkritisch-revolutionärem Inhalt. Dabei war Henze in den späten Fünfziger-und frühen Sechzigerjahren zum Liebkind des Musik-Establishments geworden: Er war nach Italien gegangen, wo man freizügiger leben konnte in jenen Jahren. Er schrieb Musik zwischen Neutönerei und der Liebe zu zarten Melodien und schlichter Harmonik und positionierte sich damit zwischen allen Stühlen: Den Avantgardisten zu altmodisch, dem Publikum zu modern. Henze hielt den Zwiespalt nicht mehr aus und sonderte sich weiter ab-beziehungsweise warf sich in die Arme der engagierten Linken. Doch auch das hatte ein Ablaufdatum: Die Oper »Das verratene Meer« markierte so etwas wie die Rückkehr des Komponisten ins allgemeine Musikleben. Henze war sich seiner sicher geworden und schrieb einfach nur noch Stücke, auf die er Lust hatte-ohne Rücksicht auf ästhetische Doktrinen oder politische Wegweiser.

Bezeichnend dafür ist, daß die Vorlage zum »verratenen Meer« von einem ausdrücklich der japanischen »Rechten« zuzuordnenden, wenn auch äußerst populären Autor stammt: Yukio Mishima hat sich nach einem von ihm selbst mitorganisierten Putschversuch zur Wiedereinsetzung der absoluten Monarchie 1970 das Leben genommen.

Psychoanalyse als Inspiration. Sein Roman »Gogo No Eiko« wurde zur Grundlage von Henzes Oper, für deren Stil und Anlage der Komponist ausdrücklich Vorbilder nennt, die weit weg weisen von seiner jüngeren, engagierten Künstlervergangenheit: Ein Essay von Auden, »das Theater Racines und Corneilles« und, man höre und staune, »das post-wagnerische Musikdrama und die Psychoanalyse« seien, so Henze, »wesentliche Inspirationsquellen für diese im modernen Japan angesiedelte Liebestragödie« gewesen.

Es war Henze auch wichtig, darauf hinzuweisen, »daß das Stück keine Moral im westlichen Sinn hat. Es geschehen die Dinge schicksalhaft, d. h. wie durch Zufall, wie in der Natur. Wir dürfen nicht richten, dürfen keine christlich-westlichen Kriterien ansetzen. Es wird dargestellt, wie Menschen einander begegnen und was die Konsequenzen der Begegnungen sind.«

Mit entsprechendem »Abstand« hat man also bei einer Präsentation des Werks an der Wiener Staatsoper die Handlung zu dechiffrieren. Im Wesentlichen geht es um die rituellen, quasireligiösen Handlungen einer japanischen Jugendgruppe, die es sich zum Ziel macht, ihre Prinzipien gegen Eindringlinge von außen zu verteidigen, und die dabei vor dem Äußersten nicht zurückschreckt.

Der Verrat. Opfer der Aktion ist Ryuji, Offizier der japanischen Handelsmarine, der sich in die 33-jährige, ebenso schöne wie wohlhabende Witwe Fusako verliebt. Fusakos Sohn Noboru, Mitglied der Jugendbande, ist zunächst interessiert an seinem »Stiefvater«, doch als offenbar wird, daß der Offizier seinen Dienst quittiert, um mit Fusako zu leben, ändert sich die Lage schlagartig: Die jungen Burschen sehen in dem Offizier einen Abtrünnigen, der »das Meer verraten« hat. Die Geschichte, die Henze zu den Worten seines Librettisten Hans-Ulrich Treichel erzählt, handelt vom langsamen Ablösungsprozess des Burschen, seinen erotischen Beobachtungen bei den nächtlichen Zusammenkünften seiner Mutter mit ihrem Geliebten. Und von der schleichenden Infiltration durch das Gedankengut der jungen Männer, die am Ende des ersten Teils der Oper eine Katze schlachten-was sich zuletzt als Generalprobe für die rituelle Opferung Ryujis entpuppt, mit der der spiegelbildlich zum ersten angelegte zweite Teil der Oper schließt. In Henzes Charakterisierung der Figuren gibt es nicht Gut, nicht Böse: »Jede Frau kann sich mit Fusako identifizieren, jeder Mann mit Ryuji. Und jeder Mensch mit dem Anfänger, dem es zustößt, im College einen Anführer kennenzulernen und in seine Gang von knabenhaften, altklugen Schulkameraden integriert zu werden.«

Der Komponist möchte keine Verurteilungen vornehmen: »Es ist wichtig, daß diese Jungens wie normale oder besser: überdurchschnittlich begabte, college boys' sich benehmen, wir müssen sie mögen, wir müssen besonders mit Noboru sympathisieren, der Hauptrolle der Oper.«

Entsprechend ergeht Henzes Aufforderung an die Regisseure und die Darsteller der Jugendbande: »Sie sind keine Perversen oder Skinheads oder Rocker, dies sind zarte, verletzte Wesen, deren Spielereien irgendwann einmal, sozusagen durch den Unglücksfall einer zerebralen Missfunktion hervorgerufen, in tödliche Wirklichkeit umschlagen. Aber sie sind keine Kriminellen. Es stößt ihnen etwas zu. Ein geistiges Abenteuer, das zu weit geht, außer Kontrolle gerät: die Grenzüberschreitung.«

Henzes Partitur ist ein Musterbeispiel für die von diesem Komponisten jahrzehntelang kultivierte Polystilistik, die vieles von der sogenannten Postmoderne vorweggenommen hat, aber auch dort, wo sie zwischen avantgardistischen Praktiken und Elementen der Unterhaltungsmusik vermittelt, stets unverwechselbar die Handschrift Henzes trägt. In den Szenen der Jugendbande Noborus greift der Komponist sogar auf Techniken des Renaissance-Madrigals zurück: Die fünfstimmigen Ensembles der Jugendlichen sind für alle Männerstimmlagen gesetzt: vom Countertenor bis zum Bass. Sie bilden mit scharf geschliffenen, nervös-vielschichtigen Rhythmen den Gegenpol zur schwärmerischen Musik der »Erwachsenen».

Einen breiteren Stellenwert als gewohnt nehmen in diesem Werk die Kommentare der Handlung durch das groß besetzte Orchester ein: Die Zwischenspiele sind oft minutenlang und symbolisieren die Stimme der Natur, des »verratenen Meers».

Die österreichische Erstaufführung der Oper fand in japanischer Sprache unter dem Titel »Gogo No Eiko« bei den Salzburger Festspielen statt. Die Wiener Staatsoper zeigt die szenische Erstaufführung in deutscher Sprache mit Vera-Lotte Boecker als Fusako, Josh Lovell als Noboru und Bo Skovhus als Ryuji. Simone Young dirigiert, Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenieren in Bühnenbildern von Anna Viebrock.

Tipp

»Das verratene Meer«. Die Premiere der szenischen Erstaufführung in deutscher Sprache sollte am 13. Dezember in der Wiener Staatsoper stattfinden. Wegen der Corona-Pandemie wurde die Vorstellung lediglich als Stream übertragen. Dirigentin: Simone Young. Regie: Jossi Wieler und Sergio Morabito. Mit Josh Lovell, Bo Skovhus, Vera-Lotte Boecker.



16. Oktober

Magische Augenblicke


Unbekanntes, Neues und Klassisches sorgen bei der Loisiarte jedes Jahr für Spannung.
Die Loisiarte ist traditionsgemäß das erste Festival im heimischen Festspielleben. Jahr für Jahr versammelt sich das treue Publikum an einem verlängerten Wochenende im Loisium, dessen architektonische Originalität als Pforte zu den alten Kellergängen im Weinland am Kamp dient. Dort läßt sich nicht nur wunderbar Wein verkosten, sondern auch musizieren. Es war Christian Altenburger, der vor Jahren den Versuch startete, sowohl im Besucherzentrum als auch tief unter der Erde zu konzertieren-und der dabei entdeckte, daß die akustischen Gegebenheiten dieser Räume entgegen allen Unkenrufen nicht nur annehmbar, sondern sogar äußerst reizvoll sind. Vor allem im alten Weinkeller, den man zur sogenannten Kathedrale ausgebaut hat, spielt (und hört!) sich's wunderbar. Seit Beginn des Festivals Loisiarte ist Erwin Ortner mit seinem Arnold Schönberg Chor dabei, der gerade dieses Ambiente für magische Augenblicke zu nutzen verstand.

Als Programmgestalter legt Christian Altenburger Wert auf Abwechslungsreichtum-und auf die Einbindung von Musik unserer Zeit, die aus dem Mainstream der »Neuen Musik« ausbricht und subjektive, für die Hörer oft überraschend »schöne« Klänge hören lässt. Das verschaffte dem Festival von Anfang an Interesse und sicherte, daß die Neugierigen von Jahr zu Jahr wiederkehren.

Zumal die Kombination von Unbekanntem, Neuem und wahrhaft Klassischem stets für Spannung garantiert. Überdies wird die Loisiarte seit Langem zu einem Fest für alle Sinne und Kunstsparten. Denn zur Musik kommt auch die bildende Kunst. Stets gibt es im Loisium auch eine Außtellung; und alle Konzerte werden von Lesungen begleitet, die Angelika Messner liebevoll kuratiert, sodaß auch die Literatur zu ihrem Recht kommt.

So werden Christian Altenburger und seine Mitstreiter, darunter die Pianisten Jasminka Stancul und das Duo Silver-Garburg, Klarinettist Michel Lethiec oder die Cellisten Niklas Schmidt und Patrick Demenga mit Schauspielergrößen wie Nicole Heesters, Joachim Bißmeier und Petra Morzé konfrontiert, die Prosa und Poesie von Ilse Aichinger, H. C. Artmann und Antonio Fian lesen, während Michael Köhlmeier am Samstag aus eigenen Werken vorträgt.

Zeitgenossen. Musikalisch umrahmt werden diese literarischen Schmankerln von Werken Franz Schuberts (die »F-Moll-Fantasie»),Wolfgang Amadé Mozarts (Klarinettenquintett) und Ludwig van Beethovens (»Erzherzogs-Trio»).Zeitgenossen sind wie immer dabei: Kurt Schwertsiks Musik trifft am Freitag, dem 16. April, passend auf Texte von H. C. Artmann, Helmut Schmidingers »Gesang zwischen den Stühlen« auf Chormusik von Johannes Brahms (mit dem Schönberg-Chor), Johanna Doderer präsentiert vor dem Beethoven-Trio im Abschlußkonzertr am Sonntagvormittag ihr neues Fünftes Streichquartett.

Zum Auftakt kommt Richard Dünser, der nicht nur ein eigenes Werk für die rare Besetzung Klavier zu vier Händen plus Streichquartett komponiert hat, sondern auch noch Schuberts Sonate für Klavier zu vier Händen D 617 für diese Besetzung arrangiert hat.

Tipp

Schubert, Dünser. Ilse Aichinger (Nicole Heesters).Donnerstag, 15. April 2021. Schwertsik, Mozart. H.C. Artmann (Joachim Bißmeier).Freitag, 16.4. Brahms, Schmidinger (Schönberg-Chor).Michael Köhlmeier, Samstag, 17. April. ww.loisium.com


Stimmungsvoll. Die »Basilika«,tief unten in den Kellerfluchten, bietet den perfekten Rahmen.

Avantgarde. Kurt Schwertsik und Richard Dünser schreiben »hörbare« Neue Musik.

15. Oktober



Kirill Petrenkos bahnbrechende Erstaufnahmen


Berliner Philharmoniker. Bilanz des ersten Chefdirigentenjahres: Beethoven und auch Stephan und Schmidt.

Neue Chefdirigenten großer Symphonieorchester sorgen in der Regel dafür, daß so rasch wie möglich Beethoven- oder Brahms-Aufnahmen, oder noch besser Berlioz' »Symphonie fantastique«, in den Handel kommen. Es wäre aber erstaunlich gewesen, hätte Kirill Petrenko ähnlich gehandelt. Eben ist die erste Box mit CDs und DVDs erschienen, die seine Arbeit mit den Berliner Philharmonikern dokumentiert.

Und da fehlt Beethoven nicht: Die Siebente und die Neunte hat Petrenko in der vergangenen Saison dirigiert und aufgenommen. Auch Tschaikowskys Fünfte und Sechste sind dabei - seit Karajans Ära fixe Größen im Repertoire des Orchesters.

Dann aber staunt der Musikfreund, denn es finden sich Werke von Rudi Stephan und Franz Schmidt in der Sammlung - und das ist doch reichlich ungewöhnlich. Von der ersten Begegnung mit seinem Orchester an hat Petrenko Werke in seine Programme aufgenommen, die auch hartgesottenen Abonnenten unbekannt waren.

Edward Elgars Zweite war darunter, und eben Orchestermusik des 1917 in jugendlichem Alter vor Tarnopol gefallenen Rudi Stephan, der zu einem der führenden Komponisten Deutschlands geworden wäre, wenn nicht . . .

Und Franz Schmidts Vierte Symphonie (ebenso erstmals auf Video!) gehört zu den letzten großen romantischen Symphonien der Musikgeschichte, die im Repertoire verankert sein müssten, ist aber angesichts einer posthumen »Nazifizierungs»-Kampagne, die gegen diesen Komponisten geführt wurde, von den Spielplänen verschwunden.

Ehrenrettung zweier Genies

Nun muß man gewiß niemanden von der Qualität Beethoven'scher Symphonien oder der Dramatik der Werke Tschaikowskys überzeugen - allein, wenn ein Meister wie Petrenko am Werk ist, dann mobilisieren die Berliner Philharmoniker nicht nur ihr altbekannt reiches Klangpotenzial, sondern spielen auch wieder mit einer zuletzt kaum gekannten rhythmischen und dynamischen Differenzierung auf, daß niemand die neuen Aufnahmen wird missen wollen.

Wie gut, wie bewegend aber die Musik von Schmidt und Stephan ist, das erfährt der Hörer erst, wenn sie von solchen Kräften wieder erweckt wird: So wurde diese Edition zur Wiedergutmachung an zwei Meistern - und das in exquisiter technischer Qualität, optisch wie übrigens ebenso akustisch: Dank Blu-Ray läßt sich die Musik wahlweise auch in Audio-HD-Qualität genießen.


12. Oktober



Zwischentöne


Mozart in der Staatsoper. Das ist gar nicht selbstverständlich

Auf drei Titel ist das Mozart-Repertoire im Haus am Ring geschrumpft. Dafür kehrt ein Werk in den Spielplan zurück, das zwanzig Jahre fehlte.

Mozarts »Entführung aus dem Serail« an der Staatsoper? Das ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Fast auf den Tag genau vor zwanzig Jahren lief das Stück das letzte Mal im Haus am Ring. Nun feiert die Übernahme der viel diskutierten Inszenierung von Hans Neuenfels aus Stuttgart Premiere.

Schon die voraufgegangene Produktion war eine Übernahme: Die Festwochen-Premiere an der Wien war 1989 ein Danaergeschenk der Direktion Drese/Abbado an den Nachfolger Eberhard Waechter.

Die Premiere dauerte so lang wie Wagners »Walküre». Ich erinnere mich gut, wie Waechters designierter Generalsekretär, Ioan Holender, angesichts der durch das Regie-Ehepaar Karl-Ernst und Ursel Hermann endlos in die Länge gezogenen Dialoge verzweifelte: Ab sofort mußte die Staatsoper bei jeder Aufführung dieses Singspiels Überdienste bezahlen.

Dabei war uns die »Entführung«, wiewohl Musterbeispiel des vergleichsweise »leichten« Genres, damals längst auch in musikalischer Hinsicht über den Kopf gewachsen.

Die Uraufführung im Burgtheater war anno 1782 so etwas wie die Initialzündung der neuen Gattung. Mozart selbst spricht irgendwann sogar von einer »Operette« - was er seinen Interpreten aber zugemutet hat, geht vielfach über die Erfordernisse der »großen Oper« hinaus. Jedenfalls ist die »Entführung« nicht einfacher zu besetzen als etwa »Don Giovanni».

Die Stimmen des gegenüber den Gemeinplätzen der Vorlage Christoph Friedrich Bretzners immens aufgewerteten Haremswächters Osmin und der Primadonna, die nicht zufällig den Namen von Mozarts künftiger Ehefrau Konstanze trägt, müssen über ungewöhnliche Umfänge verfügen.

Und die Sopranistin sollte alle Ausdruckswerte vom großen Trauerpathos bis zur brillanten Koloratur beherrschen, eine Herausforderung, der in den vergangenen Jahrzehnten nicht einmal die Premieren-Besetzungen in Wien und Salzburg gewachsen waren.

Mozarts Werk - entstanden am Vorabend eines heute kaum beachteten »Türkenkriegs«, im Zuge dessen es übrigens zur Annexion der Krim durch Russland kam - gilt überdies als aufklärerisches Vorzeigestück.

Immerhin ist es ja der muslimische Herrscher, der zuletzt dem Feind vergibt. Man übersieht dabei leicht: Auch dieser Bassa Selim war ein Christ, ist also ein Überläufer, die Dinge liegen, wie immer bei Mozart, in vielen Schichten übereinander, oder besser: sind ineinander verwoben.

Und daß der Bassa nicht singt, war ursprünglich nicht geplant, sorgt aber für kräftige dramaturgische Verzahnungen von Musik und Dialog; eine zusätzliche Herausforderung für die Regie. Hans Neuenfels verdoppelt einfach die handelnden Personen.


7. Oktober



Frische Brise für die Volksoper


Direktionswechsel. Im Herbst 2022 übernimmt die holländische Regisseurin Lotte de Beer die künstlerische Leitung von Robert Meyer - und bringt Liebe für die Operette mit ins Haus.

Die Nachfolgerin Robert Meyers heißt Lotte de Beer. Die 39-jährige Holländerin übernimmt ab September 2022 die künstlerische Leitung der Wiener Volksoper. Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Die Grünen) und der Geschäftsführer der Bundestheater-Holding, Christian Kircher, präsentierten am Dienstagvormittag die Regisseurin, die aus dem Bewerbungsverfahren für die Meyer-Nachfolge siegreich hervorging.

31 Bewerbungen für den Posten hat es gegeben. Ein Kandidat hat sich gleich dreimal beworben. Mit 20 Kandidaten hat die Kommission Gespräche geführt. Zuletzt waren zwei Damen im Rennen. Die Staatssekretärin hat sich dann für die quirlige Regisseurin entschieden, die bei der Vorstellung eloquent für sich zu werben wußte.

In der Volksoper war sie schon einige Male. Von Musik verstehe sie wenig, bekannte de Beer. Jedenfalls wird sie sich auf die Suche nach einem Musikdirektor für die Volksoper machen. Nach einem, der so offen ist wie sie selbst für alle vier Sparten, die an der Volksoper gepflegt werden: Oper, Operette, Ballett und Musical sollen gleichermaßen wichtig bleiben. Diesbezüglich halte sie den von Robert Meyer verfolgten Kurs für absolut zukunftstauglich, versicherte de Beer.

Keine Genregrenzen akzeptieren

In ihrer Ära sollten die Genregrenzen dann aber möglichst verschwinden, wo das denkbar ist. In ihren eigenen Inszenierungen hätte sie sich offen für eine übergreifende Ästhetik gezeigt. In Wien waren von de Beer bereits einige Produktionen im Theater an der Wien zu sehen, allseits gelobt die Tschaikowsky-Inszenierung »Die Jungfrau von Orleans«, die im März 2019 Premiere hatte. Zuvor gab es auch »La Boheme«, »Die Perlenfischer« und »La Traviata« zu sehen. Die Bregenzer Festspiele zeigten Rossinis »Moses« in de Beers Inszenierung, von einem Rezensenten als »Geniestreich« gefeiert. An der Bayerischen Staatsoper gab es Puccinis »Triptychon« unter Kirill Petrenko.

Die jüngste Ausgabe des Magazins »Opernwelt« feiert Lotte de Beer als »Shootingstar« unter den Regisseuren unserer Zeit. Staatssekretärin Mayer erwartet von ihrer Kandidatin, daß sie »frischen Wind« in die Volksoper bringen wird, ohne aber die Tradition des Hauses außer Acht zu lassen.

Dem scheidenden Intendanten Robert Meyer streute die Politikerin Rosen: »Er hat die Volksoper 13 Jahre lang sehr erfolgreich geführt und das Haus in jeder Hinsicht geprägt.« Im Gespräch habe Meyer versichert, für eine reibungslose Übergabe im Sommer 2022 sorgen zu wollen.

Für Lotte de Beer spreche, so die Staatssekretärin, auch die Tatsache, daß sie sich als eine der wenigen zeitgenössischen Theaterleute für die Operette begeistern könne. De Beer ergänzte: »Ich habe mir für das Abschlußprojekt meines Studiums eine Operette ausgesucht und mußte das gegen meine Lehrer durchkämpfen. Aber ich glaube, ich habe sie schließlich überzeugen können.« Für Wien sei bereits ein Operettenprojekt geplant gewesen, das sich dann aber wegen der Umstände leider nicht realisieren ließ.

Nun will de Beer Jahr für Jahr eine eigene Inszenierung an der Volksoper zeigen. Der Vertrag, so betonte Christian Kircher, sehe auch vor, daß die künftige Direktorin eine Produktion außerhalb Wiens erarbeiten dürfe, im Übrigen aber so viel wie möglich in Wien anwesend sein sollte, »um ihre Handschrift zeigen« zu können.

Wichtig sei, sagten die Staatssekretärin und die künftige Chefin des Hauses unisono, ein neues Publikum für die Volksoper zu gewinnen, ohne jedoch das Stammpublikum zu vergraulen. Überhaupt wachse dem Theater in Zeiten der Unsicherheit wieder eine ganz andere Rolle zu: »In komfortablen Zeiten muß die Kunst das Publikum aufrütteln, muß provozieren, dekonstruieren, schockieren«, meint de Beer, »heute möchte man eher umarmt werden von Poesie.« Im Theater möge man »lachen und weinen - auch über die Absurdität des heutigen Lebens. Man will berührt und unterhalten werden.«

Daß die Kunst des Entertainments von Vertretern der »hohen Kunst« gern herablassend beurteilt wird, will de Beer nicht gelten lassen: »Oper - intellektuell, Musical - kommerziell: Mit dieser Haltung haben wir das junge Publikum verloren. Ich möchte Synergien zwischen allen Gattungen herstellen, ich möchte auch neue Musicals schreiben lassen.« Gerade in diesem Genre könne die Volksoper etwas Besonderes bieten, das es nirgendwo sonst zu sehen gebe. »Brücken zu bauen, das war immer mein Stil.«

Das Ziel: »Künstlerische Verzauberung»

Es gehe um eine »künstlerische Verzauberung. Die Volksoper hat alle Ingredienzien, um die Diversität der Menschen in Wien zu erreichen.« Die musikalische Grundlage müsse freilich ein neuer Musikchef schaffen, den Lotte de Beer möglichst rasch im Verein mit den künstlerischen Gruppen finden möchte.

Staatssekretärin Andrea Mayers Fazit: »Ich bin sicher, nach sieben Jahren werden die Menschen in Wien Lotte de Beer ins Herz geschlossen haben.«


5. Oktober



Zwischentöne


Wo man singt, da lass dich nieder, heißt es. Zu Recht?


Während Schulleiter nach Psychologen und Krankenschwestern rufen, erfährt man: Österreich ist bei musischer Bildung OECD-Schlußlicht.

Jüngst diskutierte man im Hörfunk wieder die deplorablen Zustände an den Schulen. Die Argumente sind altbekannt, die Klage über die fehlenden Chancen von Kindern mit Migrationshintergrund und/oder aus den sogenannten bildungsfernen Schichten. Die Rufe nach Schulpsychologen, Sozialarbeitern, ja - für viele staunende Hörer vermutlich neu - nach Krankenschwestern . . .

Ob dieses Land die Schulkrise je wieder wirklich in den Griff bekommen wird, steht in den Sternen. Aufhorchen ließ freilich ein Statement des Verantwortlichen für das Pisa-Projekt im Hauptquartier der OECD.

Er versicherte, daß kaum ein anderes Land so viel Geld in die Schulen investiere wie Österreich. Fein, denkt man, doch folgt gleich die kalte Dusche: Bei den Leistungen in Fächern wie Mathematik liegt Österreich lediglich im Mittelfeld.

Und nun das niederschmetternde Apercu: Im musischen Bereich ist Österreich das Schlußlicht innerhalb der OECD-Staaten. Früher einmal hätte man vermutet, sich verhört zu haben. Heute kann man sich sieben Tage lang via oe1.orf.at bestätigen lassen, daß zumindest die Hörfähigkeit noch nicht beeinträchtigt ist.

Tatsächlich: Österreich ist das Schlußlicht, was das (im weitesten Sinne) künstlerische Angebot für seine Schulpflichtigen betrifft. Das sogenannte Musikland hat längst ausgedient, man weiß es. Nun bestätigt es uns auch noch die Pisa-Studie.

Dabei klang auch diesmal wieder der ewige Basso continuo aller pädagogischen Erfahrungswerte mit: Wer künstlerisch gebildet ist, tut sich auch in den sogenannten Mint-Fächern leichter. Mathematik und Musik schließen einander nicht aus, sondern können, im Gegenteil, sogar befruchtend aufeinander wirken.

Nur daß man davon hierzulande seit zwei Generationen nichts mehr wissen will und lieber noch zwei Mathematikstunden mehr einführt, bevor man Kinder eine Viertelstunde musizieren lässt. Apropos Migrationshintergrund und Sprachbarriere: Nie lernt man den Tonfall und die richtige Betonung fremdsprachiger Wörter und Phrasen besser, als wenn man sie zur Melodie eines Volkslieds singt.

Die Modulation von C- nach G-Dur begreifen sicher auch Sprösslinge von Einwanderern aus Afghanistan mühelos, während Kinder, deren Urgroßväter schon Österreicher waren, vielleicht auch Melodien jenseits von Dur oder Moll nachempfinden.

Genug der Fantasien - der Kulturverweigerung unseres Bildungssystems hatte die ÖVP in ihrem Wahlprogramm den Kampf angesagt, um nach ihrem Wahlsieg tatsächlich eine einschlägige Initiative zu starten. Das war aber, zugegeben, die erste von Sebastian Kurz geführte Regierung.

Ist natürlich längst Geschichte . . .


3. Oktober



»Jeder Zeit ihre Künstler-Mythen»


Im Gespräch. Angelika Messner hat für eine Neuproduktion, die am Sonntag in Linz Premiere hat, das legendäre »Dreimäderlhaus« neu gedichtet und das Schubert-Bild, das diese Operette transportiert hat, vollständig revidiert.

In Linz wagt man sich ans »Dreimäderlhaus«, jene Operette, deren Musik Heinrich Berte aus Schubert-Melodien gefügt hat - auf ein Libretto, das sehr zur »Verbiedermeierung« des Schubert-Bildes beitrug. Angelika Messner hat die Handlung für die Linzer Produktion neu erfunden: »Das Dreimäderlhaus«, sagt sie, »war ja eine viel gespielte Operette. Ich fand Bertes Arrangements immer sehr schön und fand es schade, daß die Story eine Aufführung unmöglich macht: Das Schubert-Bild vom ,Schwammerl', der es zu keiner Ehefrau schafft, ist absolut unzeitgemäß. Und auch das Frauenbild - nein, undenkbar!»

Mit Ola Rudner, der Bertes Musik neu arrangiert hat, war sich die Autorin einig, daß vor allem inhaltlich manches anders werden mußte. »Wir haben«, sagt Messner, »und das war ein Anliegen von Ola Rudner, die ,Unvollendete' mit eingebaut und noch ein paar Lieder ergänzt. Aber prinzipiell sind die Korrekturen nicht auf musikalischer, sondern auf inhaltlicher Ebene geschehen. Eine ,unmögliche' Geschichte neu zu schreiben, ist ja auch eine Herausforderung.«

Der Inhalt, »vollkommen gedreht»

Das neue »Dreimäderlhaus« basiert also musikalisch auf dem altgewohnten Sujet: »Ich habe die Struktur weitgehend erhalten«, erläutert die Autorin, »weil ich unbedingt alle Berte-Nummern übernehmen wollte, habe aber die Konstellationen und den Inhalt vollkommen gedreht, um das Schubert-Bild und das Frauen-Bild des Originals möglichst zu konterkarieren.«

Und sie ergänzt: »War nicht ganz einfach«, mit Blick auf manch heute peinlich empfundene Details, vor allem »das biedermeierliche Schubert-Bild und das der Mädchen.« Wobei die Anpassungen und »Korrekturen« durchaus einen Lernprozess für die erfahrene Librettistin Messner darstellten, die immerhin schon Operntexte für Jose Carreras verfaßt hat: »Weil ich ja alle Musik-Nummern verwenden wollte, mußte ich die Geschichte zu jeder Nummer hinführen, und das möglichst glaubwürdig. Da lernt man eine gewisse Flexibilität im Umgang mit einem Plot. Was ich am Originaltext geliebt habe, sind die wienerischen Ausdrücke und Pointen. Die wollte ich erhalten. Da ergaben sich richtige Sprachspiele daraus. Ich hatte großen Spaß beim Schreiben.«

Nicht zuletzt wohl reizte Messner die Beschäftigung mit Schuberts Persönlichkeit: »Ich habe viele kleine Zitate aus den Briefen verwendet und teilweise wörtlich eingebaut. Und ich ließ mich von einem Buch von Ilija Dürhammer, der sich mit den homoerotischen Subkulturen im Schubert-Kreis beschäftigt hat, inspirieren. Ich fand das einen spannenden Ansatz, der weit weg vom Schubert-»Schwammerl»-Bild liegt.«

Umstrittener Schubert im TV

Erinnert sich Messner noch an die Proteste gegen Fritz Lehners TV-Dreiteiler »Mit meinen heißen Tränen« Mitte der Achtzigerjahre? »Ja, ich kann mich erinnern, da wurde Schubert als sehr unglücklicher, leidender Mensch gezeigt. Ich glaube, daß sich jede Zeit eigene Künstler-Mythen schafft und daß diese Bilder mehr mit einem selbst als mit dem Komponisten und seiner Musik zu tun haben.«

Für die Autorin ist es nicht das erste Mal, daß sie sich einem großen »bekannten Unbekannten« nähert: »Für mich ist - und das haben wir ja mit Vivaldi an der Volksoper auch schon gemacht - eine Biographie eine Projektionsfläche; etwas, das man interpretieren kann und auch muß. «

Da sie selbst Musikerin ist, kennt Messner Schuberts Welt auch quasi »von innen« und schwärmt: »Ich liebe das Streichquintett. Ich habe ja Geige studiert und viel Kammermusik gespielt. Und ich kenne kaum ein Werk, das mich beim Spielen mehr berührt als dieses Quintett.« Auch Symphonisches gehört zu den prägenden Schubert-Erlebnissen: »Als junges Mädchen die ,Unvollendete' im Hochschulorchester in Oberschützen. Und eben das Quintett, aber auch die Lieder begleiten mich mein ganzes Leben.«

Anders als bei ihren Arbeiten für Jose Carreras ist Messner diesmal nun »einfache Zuschauerin»: »Mit Carreras hatte ich im Vorfeld mehrfach Kontakt, da war ich auch bei allen Proben in Bilbao dabei. Hier in Linz war ich in die Probenarbeit nicht involviert. Ich gehe in die Premiere, bin wirklich gespannt und freue mich drauf.«



28. September



Wie klang Konzertmeister Mozarts Geige?


Neu auf CD. Christoph Koncz, Vorgeiger der philharmonischen Sekundgeiger, durfte mit einem der bedeutendsten Erbstücke der Salzburger Sammlungen sämtliche Violinkonzerte des Meisters mit den Musiciens du Louvre aufnehmen.

Ich spiellte als wenn ich der gröste geiger in Ganz Europa wäre«, berichtete Wolfgang Amade Mozart seinem Vater aus Augsburg im Jahre 1777. Er hatte am Vorabend nach dem Souper sein Violinkonzert in G-Dur musiziert, »es gieng wie öhl. alles lobte den schönen, reinen Ton«, fuhr er fort. Wie gern wüsste man, wie dieser »schöne, reine Ton« tatsächlich geklungen hat. Immerhin: Mit der Veröffentlichung der neuen Gesamtaufnahme der Mozart'schen Violinkonzerte sind wir einen Schritt näher bei der Wahrheit: Erstmals hat ein Solist die fünf Werke auf Mozarts eigener Violine aufgenommen - auf genau jener, die der Komponist während seiner Amtszeit als fürsterzbischöflicher Konzertmeister in Salzburg gespielt hat.

Christoph Koncz, Vorgeiger der Zweiten Geigen der Wiener Philharmoniker, war der Glückliche, dem diese Ehre zufiel. Und er hat sich gründlich auf das Unternehmen vorbereitet. »Interessiert an der historischen Aufführungspraxis war ich immer schon«, erzählt der 33-jährige Musiker, der seine Position im philharmonischen Orchester seit seinem 21. Lebensjahr innehat. Seit der Erstbegegnung mit Mozarts Violine arbeitete er freilich fanatisch an Spieltechnik und theoretischer Grundlage.

»Als ich das erste Mal Gelegenheit hatte, im Tresorraum des Mozart-Geburtshauses dieses Instrument zu spielen, habe ich sofort alle fünf Konzerte durchgespielt.« Sehr zum Erstaunen der dort nebenan arbeitenden Damen des Mozart-Museums. Mittlerweile ist Koncz mit Sicherheit jener Musiker, der seit Mozarts Zeiten diese Geige am öftesten in Händen gehalten hat. »So intensiv wie ich hat seit Mozarts Tod wahrscheinlich niemand mehr auf diesem Instrument geübt.«

Ein silbrig schöner Geigenton

Was für ein Aufnahmeprojekt wie dieses schon deshalb eine Grundvoraussetzung ist, weil auch eine Violine »Übung« braucht, weil sie sozusagen wieder aus dem Tiefschlaf geweckt werden muß.

»Ich habe mir sofort einen Barockbogen besorgt«, sagt Koncz, und registrierte begeistert, »daß vor allem die A- und E-Saite einen silbrigen Klang entwickelten, der einen schönen Cantabile-Ton ermöglicht. Genau diesen Ton fordert Mozart in seinen Konzerten. Ich bin mir sicher, daß Mozart vom Klang dieses Instruments zu den langsamen Sätzen seiner Konzerte inspiriert wurde.«

Wobei Koncz sich selbstverständlich genau mit der heiß diskutierten Frage beschäftigt, ob und wie intensiv in Mozarts Tagen mit Vibrato gespielt wurde.

»Leopold Mozarts Violinschule ist natürlich die wichtigste Quelle«, sagt er. »Sie enthält ein ganzes Kapitel über das Vibrato. Wenn er verlangt, man möge nicht zu exzessiv vibrieren, dann heißt das wohl nicht, daß er das Vibratospiel unterbinden möchte.« Das sei stets eine Frage des Geschmacks, die niemals »ideologisch« beantwortet werden könne.

Die Musiciens du Louvre, die Koncz als Orchester gewählt hat, sind ja eine eingeschworene Originalklang-Gemeinde und gehen auf die differenzierten Wünsche des Geigers und Dirigenten sensibel ein.

Wobei Koncz auch in Sachen Orchestergröße die Quellen studiert hat. Fündig wurde er unter anderem beim Salzburger Musikologen Ernst Hintermaier: »Er hat eine Dissertation über die Salzburger Hofkapelle in den Jahren 1700 bis 1806 geschrieben, die zwar nicht gedruckt worden ist, aber das gebundene Original liegt in der Stiftung Mozarteum. Und da erfährt man, in welcher Besetzung die Musiker des Fürsterzbischofs von Jahr zu Jahr gespielt haben.«

Entsprechend besetzt waren die »Musiciens« nun bei der Aufnahme - und die Klangwirkungen sind oft bemerkenswert: Die farbliche Abstimmung von Flöten, Hörnern und den gedämpften Streichern im Mittelsatz des G-Dur-Konzerts ist von bezauberndem Effekt. Und die Tempi wählt Koncz ganz ohne Anbiederung an irgendwelche musikpolitischen Korrektheitsgebote mit dem Instinkt des Praktikers: Ein Adagio ist ein Adagio, kein etwas gebremstes Allegretto - und doch, bleiben wir bei unserem Beispiel aus dem KV 216, sorgen Sekundgeigen und Bratschen mit ihren Sechzehntel-Triolen für einen vorwärtstreibenden Puls, über dem sich die Melodie, beredt modelliert, in einem großen Atemzug entfalten kann. Schon der Musikforscher Alfred Einstein meinte von diesem Konzertsatz, er klinge »wie vom Himmel gefallen».

Tonschönheit und Theatereffekt

Es geht zwischendurch aber auch ganz irdisch zu, nicht nur, aber vor allem im »türkischen« Allegro-Teil des Finales des A-Dur-Konzerts KV 219, bei dem in den chromatischen Gängen Mozarts Leidenschaft für das Theater hereinbrechen, dessen Menuett-Teile Koncz und die »Musiciens« hingegen geradezu ätherisch-zart zum Klingen bringen.

Solche Kontrastwirkungen kosten die Interpreten aus, ohne je zu übertreiben - wie auch Koncz' Kadenzen Geschmack verraten, und die Liebe zum Klang, inspiriert von jenem besonderen Instrument, um das es hier einzig geht. (Sony classical)


28. September



Zwischentöne


Ein böhmischer Musikant, der uns Wiener Tradition lehrte


Dieser Tage wäre der 100. Geburtstag von Vaclav Neumann zu feiern gewesen: Der tschechische Maestro hat auch in Wien Spuren hinterlassen.

Wenn es darum geht, Sternstunden der Wiener Staatsoper zu benennen, an die sich viele noch erinnern können, dann nimmt die Premiere von Antonin Dvoraks »Rusalka« der Saison 1986/87 einen besonderen Rang ein: nicht nur, weil Günther Schneider-Siemssen für Otto Schenks märchenhafte Inszenierung einen wirklichen Märchenwald auf die Bühne gezaubert hatte, sondern auch, weil die Aufführung musikalisch ein singuläres Niveau erreichte. Das hatte natürlich mit der idealen Besetzung der Hauptrollen zu tun, mit Gabriela Benackovas zu Herzen gehender Rusalka, mit dem Prinzen von Peter Dvorsky und dem Wassermann von Jewgeni Nesterenko.

Vor allem aber mit jenem Mann, der am Dirigentenpult waltete und die Philharmoniker dazu animierte, in einer Gelöstheit aufzuspielen, wie sie das wirklich nur an Feiertagen tun.

Vaclav Neumann war der Garant dafür, daß die Wiener Musiker gelegentlich daran erinnerten, daß der viel gerühmte Wiener Streicherklang eigentlich in der wienerisch-böhmischen Geigerschule wurzelt.

Wann immer dieser Dirigent auf dem Podium erschien, spielten die Musiker auf, wie ihnen der sprichwörtliche »Schnabel gewachsen ist»; das tun sie nur für Maestri, die sie lieben und in deren Hand sie sich wirklich wohlfühlen.

Neumann, der Mann aus Prag, war ein solcher Musiker. Er hatte in seiner Heimatstadt studiert und begründete unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg das Smetana-Quartett mit, dessen Primgeiger er war, bis er sich zur Kapellmeister-Laufbahn entschloss. Die führte ihn an wichtige Opernhäuser und auf die wichtigen Konzertpodien der Welt.

Dazu mußte der Dirigent mit den kommunistischen Machthabern in seiner Heimat zwar seinen Frieden machen. Doch als die Warschauer-Pakt-Mächte den politischen Frühling in seiner Heimat gewaltsam beendeten, legte er aus Protest sein Amt als Chefdirigent des Leipziger Gewandhaus-Orchesters nieder.

Das war ein Schlag für das deutsche Musikleben, denn im Vertrauen der Klangtradition dieses Orchesters hatte Neumann gerade damit begonnen, herausragende Aufnahmen zu machen - voran grandiose, bis heute kaum egalisierte Einspielungen von Gustav Mahlers Symphonien Nr. 5 und 6, die gehört haben muß, wer über Mahler-Interpretation mitreden möchte.

Als erster Dirigent der Tschechischen Philharmonie konnte Neumann dann nicht verhindern, daß sich gegen Ende der kommunistischen Ära Ermüdungserscheinungen breitmachten. Doch bei Gastspielen im Westen blieb er ein stets umjubelter, geliebter Musikant.


26. September



Ausflug in höchste Höhen


»Presse»-Konzertzyklus 2021. Das exklusive Konzertabonnement, ausgewählt von »Presse»-Musikkritiker Wilhelm Sinkovicz.74

Wir besteigen einige der höchsten Gipfel der Musikgeschichte«, so schreibt Wilhelm Sinkovicz, erster Musikkritiker der »Presse« am 19. September über den »Presse»-Konzertzyklus 2021 im Wiener Musikvereinssaal. Der »illustre Rundgang durch die großen Zeiten der europäischen Musik bietet etwa die populären ,Vier Jahreszeiten' sowie weitere Werke von Vivaldi und Mozart, interpretiert von Anne-Sophie Mutter und ihrem Ensemble. Ein Großmeister der Wiener Klassik kommt Haydn zu Ehren, auch in seiner Rolle als (verdrängter) Opernmeister. Natürlich darf im Beethoven-Jahr jener nicht fehlen. Einige seiner Klaviertrios bilden den Auftakt des Zyklus. Mit Bruckner und Wagner, interpretiert vom Gewandhausorchester, kommt auch die große Romantik nicht zu kurz. Die St. Petersburger Philharmoniker bringen Sergej Rachmaninows selten gespieltes Erstes Klavierkonzert und Tschaikowskys vierte Symphonie. Abgerundet wird der Zyklus mit Mahlers Neunter - gespielt von den Philharmonikern unter Franz Welser-Möst. 12. Jänner 2021, 19.30 Uhr Daniel Barenboim (Klavier), Michael Barenboim (Violine), Kian Soltani (Violoncello). Beethoven: Variationen »Ich bin der Schneider Kakadu« für Klavier, Violine und Violoncello G-Dur; op. 121a, Trio Es-Dur; op. 70/2, Trio B-Dur; op. 97 Erzherzog-Trio 21. Februar 2021 19.30 Uhr. Gewandhausorchester Leipzig (Dirigent: Andris Nelsons). Wagner: Vorspiel zu »Tristan und Isolde«, »Isoldes Liebestod»; Bruckner: Symphonie Nr. 9 d-Moll 21. März 2021, 11 Uhr Wr. Philharmoniker (Adam Fischer). Haydn: Symphonie G-Dur, Hob. I:88; Trompetenkonzert Es-Dur, Hob. VIIe:I; »Berenice, che fai«, Hob. XXIVa:10; Symphonie Es-Dur, Hob. I:103; »Symphonie mit dem Paukenwirbel». 18. Mai 2021, 19.30 Uhr St Petersburger Philharmoniker (Yuri Temirkanov, Dirigent, Nikolai Lugansky, Klavier). Rachmaninow: Konzert für Klavier und Orchester; Nr. 1 fis-Moll, op. 1; Tschaikowsky: Symphonie Nr. 4 f-Moll, op. 36. @KI 10. November 2021, 19.30 Uhr Mutters Virtuosi: Konzert für vier Violinen und Streicher h-Moll, RV 580 »L'estro armonico»; Unsuk Chin: »Gran Cadenza»; Mozart: Quintett c-Moll, KV 406; Vivaldi: »Le quattro stagioni». 8. Dezember 2021, 11 Uhr Wiener Philharmoniker (Dirigent Franz Welser-Möst). Mahler: Symphonie Nr. 9 D-Dur.


25. September



»Liebesfreud« in Zeiten der Krise


Musikverein. Der neue Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde, Stephan Pauly, stellte sich im Brahms-Saal vor: Zukunftsperspektiven im Zeichen großer Tradition.
Eine Formation aus Blechbläsern aller großen Wiener Orchester, The Art of Brass, blies das Ständchen zum Einzug des neuen Intendanten des Wiener Musikvereins: Stephan Pauly hatte zu einem Zusammensein im Brahms-Saal gebeten, um sich im Dialog mit »Presse»-Musikkritiker Wilhelm Sinkovicz vorzustellen.

Fritz Kreislers »Liebesfreud« klang also anders als gewohnt. Und anders als erwartet verläuft auch der Einstand des neuen Musikvereins-Chefs. Er war darauf gefaßt, die von seinem Vorgänger, dem langjährigen Intendanten Thomas Angyan, penibel vorbereitete Saison abzuwickeln und währenddessen seine erste eigene Spielzeit zu planen.

Das illustre Publikum - voran Ex-Bundespräsident Heinz Fischer und Pianist Rudolf Buchbinder - erfuhr nun, daß die Coronakrise für Absagen und Umplanungen auf dem laufenden Band sorgt. Schon die Tatsache, daß bei laufendem Betrieb derzeit nur ein Bruchteil der Karten verkauft werden kann, bringt selbst eine Institution, die im Normalfall auf einen verschwindend kleinen Prozentsatz an öffentlichen Zuwendungen angewiesen ist, an den Rand der Existenzkrise.

Jenseits finanzieller Probleme aber freut sich Pauly auf eine spannende Aufgabe, die er mit dem Team der Gesellschaft der Musikfreunde zu bewältigen denkt: den Kurs Angyans fort- und neue Akzente zu setzen, nicht zuletzt auch eingedenk der Geschichte und Gegenwart des Hauses. Im Musikverein, so betonte Pauly, lägen ja ungeheure Schätze im größten Privatarchiv der Welt, unter anderem der gesamte Nachlass von Johannes Brahms.

Da gelte es, in Hinkunft auch Verbindungen zu den aktuellen Programmen herzustellen.

Als kleine, amüsante Einlage spielten Armin Egger und Alfred Endlweber auf kuriosen Instrumenten aus den hauseigenen Sammlungen, unter anderem auf einer »Stockflöte« aus dem Biedermeier. Die Bandbreite des Repertoires, das in den sechs Sälen des Musikvereins auch künftig gepflegt werden soll, demonstrierte der virtuose Akkordeonist Nikola Djoric mit einer zündenden Tango-Einlage. Nur, daß er seine unter anderem als Statist bei den Bayreuther Festspielen gewachsene Liebe zur Oper mit mehr konzertanten Aufführungen »ausleben« könnte, glaubt Pauly nicht. Die Konzertaufgaben seien schon ohne solche massiven Herausforderungen reichhaltig genug. (red.)


21. September



Zwischentöne


Über Absonderliches dies- und jenseits der Klassikschwelle


Schuster bleib bei deinem Leisten, heißt es. Wenn Musikkritiker Bücher schreiben, heißt das nicht, sie hielten sich nicht an diesen Spruch.

Essaybände suggerieren ihren präsumtiven Lesern, sie müssten es mit ihrer Leserschaft nicht gar so ernst nehmen. Auch wer grad gar keine Zeit hat, ein Buch zu lesen, darf kurz einmal hineinschauen.

In diesem Sinn nahm ich das jüngste Elaborat meiner geschätzten Berliner Kollegin Eleonore Büning zur Hand, das (im Benevento-Verlag) »Antworten auf die großen und kleinen Fragen der Musik« nicht nur verspricht, sondern auch gibt. Unter dem Titel »Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur« sammeln sich hier die besten Kolumnen, die in den vergangenen Jahren in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« erschienen sind.

Menschen, die vor der sogenannten Klassik noch ein bisschen schaudernden Respekt verspüren, aber doch irgendwie fasziniert davon sind, gibt die Autorin gleich zum Entree den entscheidenden Schubs über die notorische Schwelle, indem sie der Frage »Darf ich im Konzert einschlafen?« ein entschiedenes: »Selbstverständlich. Wo sonst?« entgegensetzt. Und flugs landen wir schmunzelnd vom scheinbar mutwilligen Pointensetzen bei Brahms, Liszt und der Musikliebe der Japaner.

Danach will der von 205 Seiten in den Konzertsaal Geschubste diesen vermutlich so schnell nicht mehr verlassen; und der längst Klassik-Verdorbene, der bei der Lektüre gern hie und da widersprechen möchte, aber feststellen muß, daß ihm gegen die Büning keine Argumente einfallen, hält plötzlich einen in einem Zug durchgelesenen Essayband in Händen.

Dasselbe wird ihm vermutlich bei Edwin Baumgartners »Wiener Wahn« (Claudius-Verlag) passieren: Der Kollege von der »Wiener Zeitung« vermochte an die alte feuilletonistische Tradition dieser Stadt anzuknüpfen und ohne Angst vor heißen Eisen, verschmitzt plaudernd eigenwillige Gestalten zu porträtieren: von Peter Altenberg bis zu Waluliso. Wer mit wenigstens einem der beiden Namen nichts mehr anfangen kann, muß das Büchlein ebenso lesen wie alle, die zu wissen glauben, was sie erwartet, wenn es um »den Hörbiger« geht.

»Die Ingrisch« ist freilich »die« Ingrisch, und »Marcello« ist der Prawy, und das Fazit lautet: Solche Typen gibt's fast nimmer. Aber »den Baumgartner« gibt's. Er schreibt wie einer von denen, die's »fast nimmer gibt».


20. September



Venezianische Schnellboote der Onedin-Line im Park


Jonas Kaufmanns Liebeserklärung an Wien rettete das Programm des philharmonischen Sommerkonzerts in Schönbrunn.
Wien bleibt die Stadt seiner Träume. Wer Jonas Kaufmann das singen hört, glaubt ihm, serviert er doch die Mixtur aus Amateurpoesie und Dialektrelikten, als hätte er seine Jugend in Hernals verbracht. An solch linguistisch heiklen Aufgaben scheitern ja oft waschechte Wiener kläglich.

Das Problem ließ sich am Freitag auch auf einer Metaebene studieren: Zum vierten Mal dirigierte Valery Gergiev das philharmonische Konzert in Schönbrunn, das diesmal wirklich zum »Sommernachtskonzert« wurde, weil es endlich einmal nicht im verregneten Juni, sondern im nur meteorologisch herbstlichen September stattfand.

Den schönen Abend durften aber nur 1250 geladene Gäste genießen. Wo sonst Zigtausende das Konzertgeschenk als Volksfest feiern, agierten zum Wohle der Verbreitung der sogenannten klassischen Musik diesmal nur die Kameras. Ein Medienereignis also, vom Medienvollprofi Gergiev mit seinen berüchtigten zitternden Bewegungen aus dem Ärmel geschüttelt.

»Geschüttelt, nicht gerührt« hieß es diesmal für Vorspiel und Rosenüberreichung aus dem »Rosenkavalier« von Richard Strauss. Und da durfte man noch nicht darüber nachdenken, wie das ist, wenn ein Mann aus München den wienerischen Tonfall täuschend echt trifft: Wenn Gergiev Musik dirigiert, die ihm nicht wirklich am Herzen liegt, die er nicht wirklich gut kennt, dann genügt bekanntlich ein verstohlener Blick in die Partitur, und schon weiß er, wie's gleich weitergeht. Die Philharmoniker wüssten das zwar, ohne in ihre Noten schauen zu müssen, aber zum Zweck des Gleichzeitig-fertig-Werdens fügen sie sich - es schaut ja die Welt zu! - dem Gergievschen Zahnstocherschlag.

Zum Glück kommen ja in den gewählten »Rosenkavalier»-Fragmenten vergleichsweise wenige bis gar keine Walzerrhythmen vor. Das gilt, weiß Gott, auch für das Liebesduett und den Schluß aus »Tristan und Isolde«, die Leopold Stokowski zu einem effektvollen symphonischen Arrangement verwoben hat.

Auch hier irritierten nicht fehlende rhythmische Sensibilitäten, sondern die schnoddrig-unbeteiligte Attitüde, mit der man dieser Musik jeglichen romantisch-euphorischen Überschwang austrieb. Selbst die Gondel aus »Hoffmanns Erzählungen« trieb man dann in der »Barcarole« wie ein Schnellboot voran.

Unverhoffte Begegnungen. Die Gemengelage in Wiener Sommernächten ist übrigens viel komplizierter, als daß man sich über die Begegnung Jacques Offenbachs und Richard Wagners im Schlosspark Gedanken machen sollte. Folgten doch noch eine Suite aus Maurice Jarres Filmmusik zu »Doktor Schiwago« und das Adagio aus dem sowjetischen Ballettklassiker »Spartakus».

Wie immer man über die qualitativen Differenzen zwischen Filmmusik und spätromantischer oder frühmoderner Bühnenmusik denken mag, als Valery Gergiev bei Khatschaturjan endlich in seinem Element war, machten ihm die Erinnerungen westlicher TV-Konsumenten einen Strich durch die Rechnung: Das war doch? Genau! Die Kennmelodie der »Onedin-Line».

Da ist nichts zu machen. Ist der Ruf erst einmal ruiniert, bringt eine solche Melodie keine noch so gute Interpretation mehr assoziationslos zurück auf die Klassikbühne. Dafür hatten sich die Philharmoniker mittlerweile freigespielt und begleiteten nicht nur Jonas Kaufmanns wienerische Zugabe im rechten Zungenschlag, sondern ließen sich zuletzt auch bei »Wiener Blut« keine Fremdkörper injizieren: Plötzlich klang es leicht und befreit von jeglicher kapellmeisterischen Zwangsjacke.

Auch der Tenor sang sich mit »Wien, Wien, nur du allein« ganz frei - bei Massenets »Werther« hatte es noch so geklungen, als kostete es Jonas Kaufmann mittlerweile erhebliche Mühe, seine berühmte baritonale Tiefe mit der immer gaumiger tönenden Mischstimme in höheren Lagen bruchlos zu einen. Am Ende siegte doch vollendete Artikulationskunst - und Wien durfte wieder einmal Wien bleiben. Eine gefährliche Drohung, da hatte Karl Kraus wahrscheinlich recht . . .


19. September



Wir besteigen einige der höchsten Gipfel der Musikgeschichte


Der »Presse»-Zyklus. Das exklusive Abonnement bietet 2021 einen illustren Rundgang durch die großen Zeiten der europäischen Musik: Von Vivaldis »Vier Jahreszeiten« bis Gustav Mahlers letzter vollendeter Symphonie spannt sich der Bogen.

Diesmal gehen wir aufs Ganze: Wie gewohnt präsentiert der »Presse»-Zyklus Weltstars im Goldenen Saal - und Spitzenwerke der Musikgeschichte. Wobei wir anno 2021 wirklich etliche der höchsten Gipfel stürmen. Da ist einmal Antonio Vivaldi, der Großmeister des italienischen Concertos. »Die Vier Jahreszeiten« sind gewiß die populärsten davon; Anne-Sophie Mutter spielt sie am 10. November 2021 mit ihrem eigenen Ensemble und liefert noch einige weitere Vivaldi-Concerti dazu; aber auch Mozarts c-Moll-Streichquintett.

Auch die beiden anderen Großmeister der Wiener Klassik kommen zu Ehren. Am 21. März dirigiert Adam Fischer ein philharmonisches Konzert, in dem Julia Nezhneva mit der grandiosen »Scena di Berenice« ein Beispiel für den verdrängten Opernmeister Haydn geben wird, Jürgen Pöchhacker spielt das späte, brillante Trompetenkonzert, und zwei späte Symphonien bilden den Rahmen: die schwungvolle Nr. 88 in G-Dur und die vorletzte der »Londoner« Symphonien, »mit dem Paukenwirbel».

Das Beethoven-Jahr wirft Schatten noch über den Neujahrszaun: Unser Zyklus beginnt mit Klaviertrios, darunter das große »Erzherzogstrio« mit seinem schwungvollen Finale, aber auch die nicht minder quirligen Variationen über den »Schneider Kakadu« (Michael und Daniel Barenboim musizieren am 12. Jänner 2021 mit Kian Soltani.)

Die große Romantik kommt aber nicht zu kurz. Da gastiert das Leipziger Gewandhausorchester unter Andris Nelsons mit einem Wagner-Bruckner-Programm (21. Februar), dessen Werke mehr miteinander zu tun haben, als es auf den ersten Blick vielleicht scheinen möchte.

Bruckners »Tristan»-Vision

Anton Bruckners Neunte Symphonie ist zwar »dem lieben Gott« gewidmet, aber es spielen doch recht weltliche Assoziationen in den musikalischen Kontext herein: Österreichs großer Symphoniker war ja Wagnerianer - und wußte auf seine Weise auch die harmonische Revolution zu verarbeiten, die des Bayreuthers »Tristan»-Musik heraufbeschworen hatte.

In der Neunten findet sich der berüchtigte »Tristan-Akkord« mehrfach, unter anderem ist das ganze unheimliche Scherzo ein Satyrspiel auf diese harmonische Hieroglyphe. Also bekommt die Kombination aus »Tristan»-Vorspiel und »Liebestod« mit der Neunten Bruckners ihren Sinn.

Keine Frage ist, wie Sergej Rachmaninows selten gespieltes, aber hinreißend schönes Erstes Klavierkonzert, das Nikolai Lugansky im Konzert der St. Petersburger Philharmoniker unter Yuri Temirkanow am 18. Mai 2021 spielen wird, mit Tschaikowskys Vierter Symphonie zusammenpaßt.

Der späte, aber nicht verspätete Meister der russischen »Nachromantik« hat ja am großen Vorbild stets Maß genommen. Und Rachmaninows Musik kennt programmatische Konnotationen ebenso wie jene von Tschaikowsky, der das Hauptthema seiner f-Moll-Symphonie ausdrücklich als Motiv des »Fatums« bezeichnet hat, das ins wirbelnde, scheinbar ganz positive Treiben des F-Dur-Finales mit seinen Volksliedthemen noch einmal warnend hereinbricht, ehe die Symphonie euphorisch endet.

Wie ließe sich ein solches Kaleidophon besser abrunden als mit Mahlers Neunter - gespielt von den Philharmonikern unter Franz Welser-Möst (8. Dezember 2021): In seiner Neunten hat Mahler ja nicht nur bei Bruckner Maß genommen. Von Peter Iljitsch Tschaikowskys »Pathetique« hat in diesem Fall nicht nur der architektonische Plan »abgefärbt« . . .


19. September



76

Von den Anfängen im Paradies bis zur Apokalypse


Die Saison 2020/21. Durch keine Krise der Welt sind die Superstars der Klassikbranche davon abzuhalten, Jahr für Jahr dem Wiener Musikverein einen Besuch abzustatten. Ob Barock, Klassik, Romantik oder Moderne, ob Kammermusik oder großes Chorkonzert: Die Interpretenelite setzt hier Standards.

Hie und da wird das Podium des Großen Wiener Musikvereinssaals doch auch zur Opernbühne: zum Beispiel dann, wenn die koloraturgewandte Diva Cecilia Bartoli erscheint. Sie entfaltet bei ihrem Solo-Abend mit ihren Musiciens du Prince aus Monte Carlo unter Gianluca Capuano (12. April 2021) den ganzen Katalog ihres Repertoires vom Barock bis zum Belcanto der Ära Vincenzo Bellinis.

Vokale Frauenpower bietet die Gesellschaft der Musikfreunde heuer während der gesamten Saison - und zwar in unterschiedlichsten Genres vom Gustav-Mahler-Liederabend Christiane Kargs (22. Oktober) über einen bunt programmierten Abend mit Elina Garanca (17. November) zu einem Mozart- und Strauss-Programm mit der fabelhaften Sabine Devieilhe. die erstmals seit ihrem fulminanten Debüt als Donizettis »Regimentstochter« nach Wien zurückkehrt und auch in der Aufführung der »Johannespassion« zu hören sein wird, die im Concentus-Musicus-Zyklus in der Fastenzeit auf dem Programm steht (20. / 21. März).

Nicht zu vergessen das anspruchsvolle Lied-Programm Elisabeth Kulmans, die am 22. April, begleitet von Eduard Kutrowatz, Brahms, Schubert, Loewe und Hugo Wolf singen wird; Camilla Nylund, die unter Zubin Mehtas Leitung »Die Vier letzten Lieder« von Richard Strauss singen wird (11. Dezember). Und Joyce DiDonato, die sich zu Saisonschluß ganz anders als gewohnt, nämlich mit Schuberts »Winterreise«, präsentieren wird (27. Juni), von niemand Geringerem als dem Musikchef der New Yorker Metropolitan Opera, Yannick Nezet-Seguin, am Klavier begleitet.

Noch ist Beethoven-Jahr

Längst haben Musikerinnen aber schon die ehemaligen Männerbastionen erobert, verführen ihr Publikum nicht nur als Diven auf den Opernbühnen, sondern auch die Orchester als Kapellmeisterinnen! Zum Amtsantritt hat etwa die neue Chefdirigentin des ORF-RSO Wien eine aparte Mixtur gewählt: Sie setzt den im Vorjahr begonnenen Robert-Schumann-Zyklus mit der vierten Symphonie (d-Moll) fort - und kontrastiert den romantischen Überschwang dieser Musik mit der Wiener Erstaufführung der »Sieben Liebeslieder« für Violoncello und Orchester von Hans Werner Henze, ein Spätwerk, das durchaus auch von lyrischem Zuschnitt ist. Marek Hakhnazaryan ist dafür als Solist aufgeboten (23. Oktober).

Das ist einer der Kontrapunkte zum fortgesetzten Beethoven-Schwerpunkt, der rund um den 250. Geburtstag des Komponisten Anfang Dezember natürlich einen Höhepunkt erreichen muss: Daniel Barenboim, zuletzt im Musikverein mit Beethoven-Sonaten, kommt mit seiner Staatskapelle Berlin, um die Beethoven-Symphonien zu dirigieren (18. bis 22. November).

Beethovens Lehrer und - wenn auch nicht kritiklos verehrtes - Vorbild, Joseph Haydn, wird nicht vergessen: Sein Oratorium »Die Schöpfung« hat der neue Chefdirigent der Wiener Symphoniker, Andres Orozco-Estrada, für sein erstes großes Chorkonzert mit dem Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde ausgewählt.

Dieser aufwendigen Aufführung mit Christiane Karg, Benjamin Bruhns und Florian Boesch am 15. Oktober folgt am Allerheiligen-Tag - ebenfalls unter Orozco-Estrada - eine Aufführung von Felix Mendelssohn-Bartholdys Ouvertüre »Meeresstille und glückliche Fahrt« und Franz Schuberts As-Dur Messe, einem der innigsten Dokumente der Frömmigkeit des »Liederfürsten».

Wobei diesmal das Symphonieorchester des Hessischen Rundfunks den Instrumentalpart übernehmen wird.

Seltene beliebte Gäste

Einen ähnlichen Aufwand betreiben Gäste aus Frankreich: Das Orchestre de Paris bittet den Singverein zu zwei Aufführungen von Hector Berlioz' groß angelegter Symphonie »Romeo et Juliette«, einer der originellsten musikalischen Umsetzungen von Shakespeares Liebestragödie, die Francois-Xavier Roth dirigieren wird (25./26. April).

Das Pariser Orchester wird übrigens am Abend des 23. April bereits unter Paavo Järvi im Großen Musikvereinssaal zu hören sein und nebst Berlioz' »Symphonie fantastique« und dem raren Bratschenkonzert von Bela Bartok (mit Antoine Tamestit) auch ein Stück zum Besten geben, das jeder kennt, aber kaum je im Konzertsaal gehört hat: Paul Dukas' spritzigen »Zauberlehrling».

Zu den prominenten Solisten, die in den symphonischen Konzerten der heimischen und ausländischen Meisterorchester gastieren, zählt heuer auch Jan Lisiecki, der die illustre Reihe am 28. September mit Mendelssohn-Bartholdys erstem Klavierkonzert eröffnet (mit der Accademia di Santa Cecilia unter Antonio Pappano). Kirill Gerstein spielt anlässlich des Gastspiels des philharmonischen Orchesters aus Stockholm unter Sakari Oramo Robert Schumanns Klavierkonzert (21. Oktober).

Aus dem Rahmen des Üblichen fällt gewiß das Gastspiel von Gabor Boldoczki mit der Cappella Gabetta (7. Dezember). Der Meistertrompeter spielt auch Flügelhorn und stellt seine Instrumente bei Repräsentationsmusik der Ära Louis XIV. vor: Da wird der Musikverein zum Barockschloss.

Glanzvoll verspricht, wie gewohnt, der Auftritt von Olivier Latry zu werden, der mit den Symphonikern unter Stephane Deneve das zündende Orgelkonzert von Francis Poulenc spielen wird (26./27. Mai).

Dazu kommen Stammgäste wie Renaud Capucon (Mozart KV 216 mit den Symphonikern, 30./31. Oktober), Bruder Gautier Capucon mit dem Schumann-Cellokonzert, begleitet vom Orchester der Mailänder Scala unter Riccardo Chailly (7. April), Arabella Steinbacher (Korngold am 24./25. Februar) und Leonidas Kavakos (Brahms, 16./17. Juni). Emmanuel Tjeknavorian, der zu Beginn seiner Karriere von Wien aus als »Rising Star« um die Welt geschickt wurde, gehört seither quasi zum Haus. Er spielt am 17. Mai das Mendelssohn-Konzert, begleitet von den St. Petersburger Philharmonikern unter Yuri Temirkanov.

Raritäten von Mahler und Dvorak

Jasminka Stancul ist wieder einmal zu erleben - diesmal mit dem Mozart'schen d-Moll-Klavierkonzert, begleitet von den Symphonikern unter Tomas Netopil (5. /6. Juni). Baiba Skride widmet sich dem Violinkonzert von Alban Berg im Programm der Wiener Symphoniker unter Alain Altinoglu am 9. und 10. Jänner, wobei der Maestro als Umrahmung den selten gespielten »Blumine»-Satz aus Gustav Mahlers erster Symphonie, den der Komponist nach der Uraufführung gestrichen hat, und Antonin Doraks beliebte Symphonie »Aus der Neuen Welt« als Umrahmung gewählt hat.

Ein viel zu wenig bekannter Dvorak erklingt bei den Wiener Symphonikern unter Chefdirigent Orozco-Estrada am 19. und 11. Februar: Das Violinkonzert musiziert eine prominente Solistin, Hilary Hahn. Danach singt Genia Kühmeier das Sopransolo in Gustav Mahlers Vierter.

Die Serie der nicht allzu oft gespielten Meisterwerke Dvoraks rundet Manfred Honeck als Dirigent von Singverein und Symphonikern ab: Er dirigiert am 10. und 11. April die erste große geistliche Komposition des böhmischen Meisters, das »Stabat mater»; wiederum übernimmt Genia Kühmeier den Sopranpart.

Das Schumann-Klavierkonzert im Programm des ORF-RSO unter Chefdirigentin Marin Alsop am Vormittag des 11. April musiziert Rafa Blechacz, Beethovens fünftes Klavierkonzert versucht man im Rahmen der Originalklang-Initiative der Wiener Akademie am 27. Oktober einmal mit einem Hammerflügel - Gottlieb Wallisch ist der Solist.

Fortgesetzt wird natürlich der Zyklus, den Giovanni Antonini den Symphonien Joseph Haydns widmet. Zwei Programme in diesem ehrgeizigen Unterfangen sind für 2020/21 avisiert: Am 9. November erklingen in einem Konzert des Ensembles Il Giardino Armonico die Symphonien 31, 59 und 72. Am 16. März folgen mit dem Kammerorchester Basel die Nummern 32, 53 und 54, wobei sich wieder einmal heraußtellen wird, wie unterschiedlich diese Werke sind und wie abwechslungsreich ein reines Haydn-Programm sein kann. Bis zum Jubiläumsjahr 2032 werden dann tatsächlich alle . Juli bekannten Haydn-Symphonien im Musikverein erklungen sein; nicht wenige davon im Rahmen dieser Konzertreihe erstmalig!

Wie gewohnt also: Für jeden Geschmack ist etwas dabei - und für Kenner wieder viel zu entdecken.


19. September

So gewinnen wir einen Wiener Meister wieder


Zemlinsky-Zyklus. Eine Konzertreihe würdigt einen Komponisten, der Lehrer und Schwager, aber musikalisch der Antipode Arnold Schönbergs war.

Es ist lang still um das Werk Alexander von Zemlinskys gewesen. Zu seinen Lebzeiten wurde er aus Europa vertrieben und mußte miterleben, daß seine Musik nicht nur in Deutschland verboten, sondern auch sonst in der Welt kaum wahrgenommen wurde. Das lag nicht nur an der grausamen Politik in Zeiten der Diktatur.

Zemlinsky war auch ein Opfer der Kunstdoktrinen der Nachkriegszeit. Er starb 1942 vergessen im amerikanischen Exil. Noch ein Jahrzehnt zuvor war er nicht nur als schöpferischer Musiker, sondern auch als Interpret einer der führenden Köpfe gewesen.

Nach 1945 aber, als die Welt hätte darangehen können, sich der Musik dieses Wiener Meisters zu erinnern, schoben die Kunstrichter einen Riegel vor: Für die Vordenker im Fahrwasser eines Theodor Adorno galt jegliche Musik, die nicht konsequent mit der Dur-Moll-Harmonik brechen wollte, als rückschrittlich.

Unter diesem Verdikt hatte unter anderem auch Erich Wolfgang Korngold zu leiden, der miterleben mußte, daß ihn seine Zeitgenossen als rettungslos altmodisch abqualifizierten.

Quartett als Initialzündung

Zemlinsky ist diese Herabsetzung erspart geblieben. Doch sein Werk blieb jahrzehntelang ungehört. Erst die Heraufkunft der Postmoderne ließ die Neugierigen unter den Musikfreunden und Interpreten den Schleier lüften: Die Schatzkammer der Musikgeschichte hielt Kleinodien verborgen.

Eine der frühesten nachhaltigen Initiativen zur Wiedergewinnung der Musik Alexander von Zemlinskys startete das legendäre LaSalle-Quartett.

Ende der Siebzigerjahre nahmen die vier Musiker um Primarius Walter Levin das Zweite der vier Streichquartette Zemlinskys für die Deutsche Grammophon auf. Die Platte war eine Sensation und zog eine Gesamtaufnahme von Zemlinskys Quartettschaffen nach sich - und auch Konzertzyklen in den wichtigsten Musikmetropolen.

Dann nahmen sich Dirigenten wie Lorin Maazel der »Lyrischen Symphonie« Zemlinskys an, die einst eine Reaktion auf Gustav Mahlers »Lied von der Erde« darstellte, einen symphonischen Liederzyklus nach Gedichten von Rabindranath Tagore, den Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau unvergleichlich gesungen haben.

Im Banne von Brahms

Nicht zuletzt dank der Unterstützung des Alexander-Zemlinsky-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien hat die Musikwelt Zemlinskys OEuvre im Fokus behalten. Die »Lyrische Symphonie«, gesungen von Andrea Dankova und Adam Plachetka, steht auch im Mittelpunkt des Zemlinsky-Zyklus, den die Gesellschaft der Musikfreunde für die Saison 2020/21 angekündigt hat: Die Aufführung im Konzert der Wiener Symphoniker am 6. Juni 2021 bildet das Zentrum einer Konzertserie, die Ende April mit Aufführungen von kaum bekannten Quintettsätzen durch die Plattform K+K Vienna im Gläsernen Saal beginnt, wo am 11. Mai auch Zemlinsky-Lieder, gesungen von Patricia Nolz, und am 25. Mai das Klaviertrio op. 3 erklingen.

Schon diese Konzertfolge in den »Neuen Sälen« des Musikvereins bietet Interessenten einen kleinen Leitfaden, wie sich der musikalische Lebensweg Alexander von Zemlinskys gestaltete.

Das kammermusikalische Frühwerk steht noch ganz im Banne von Johannes Brahms, mit dessen spätem Klarinettentrio Matthias Schorn, Matthias Bartolomey und Dorothy Khadem-Missagh die Aufführung des Opus 3 auch verbinden.

Die Lieder werden hören lassen, wie geschmeidig Zemlinsky für Singstimme schreiben konnte: Seine Opern galten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als besonders vielversprechend - bekamen aber seit 1945 kaum mehr eine Chance, sich im Repertoire zu bewähren.

Welch gute Hand dieser Komponist für die musikalische Dramatik hatte, wird sich im Rahmen des Musikverein-Zyklus am 10. Juni heraußtellen, wenn der immens talentierte junge Ungar Gabor Kali mit dem ORF RSO Wien die Schauspielmusik zu Shakespeares »Cymbeline« (1915) und die »Drei Ballettstücke« (1902) aufführen wird.

Dramatik im Konzertsaal

Ein Musikdrama, das keine Bühne braucht, stellt auch Zemlinskys Tondichtung »Die Seejungfrau« dar, in der Hans Christian Andersens Märchen in prachtvoll orchestrierten, farbigsten Tönen lebendig wird. Ein Werk von größter emotioneller Kraft, dessen »Odyssee« alles über den Umgang mit diesem Komponisten aussagt: Erst nach Jahrzehnten konnte endlich eine Spielfassung erstellt werden, die Zemlinskys ursprünglichen Vorstellungen entspricht. Lang galten zwei Sätze als verloren! Lorenzo Viotti kann am 17. Juni im Konzert der Wiener Symphoniker freilich alle drei Sätze dirigieren.

Tags darauf bittet Hartmut Krones im Horst-Haschek-Auditorium zum Zemlinsky-Symposion, bei dem wohl auch erörtert wird, wie stark diese Musik auf Meister wie Alban Berg gewirkt hat.


19. September


Musik aus der Dynamik des Dialogs


Stephan Pauly. Der neue Intendant des Musikvereins über die Saison 2020/21 in Zeiten von Corona, die einzigartige Geschichte des Hauses und seine Konzepte für die Zukunft.

Was für ein Gefühl muß es sein, Herr in diesem Haus zu sein? Stephan Pauly, seit Beginn des Sommers Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, meint auf die Frage, ob er sich noch an sein erstes Musikverein-Erlebnis erinnern könne: »Das war bei mir wie bei den meisten anderen Musikfreunden auch: Ich habe das Neujahrskonzert im Fernsehen gesehen! Es war also eine virtuelle Begegnung.«

Eine kostbare Situation

Es war erst in seiner Zeit am Mozarteum in Salzburg, daß Pauly den sogenannten Goldenen Saal das erste Mal in natura zu Gesicht bekam. Und das Erstaunen war groß: »Wenn ich den Raum-Eindruck beschreiben müsste, dann kann ich nur sagen: Der Saal wirkt viel, viel intimer, als man ihn sich vorstellt. Was mich am meisten beeindruckt hat: das Erlebnis, wie nah man hier an den Musikern ist. Das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man eine Konzert-Übertragung sieht. Es ist eine kostbare Situation.«

Umso kostbarer, meint Pauly, als es sich ja immer noch um einen wirklich »großen Saal« handelt: »Er bietet ja an die 2000 Menschen Platz, die Stehplätze eingerechnet. Und dennoch fühlt man sich nicht verloren hier wie in manchen anderen Hallen mit vergleichbarer Kapazität. Das ist das ganz Besondere.«

Der Manager dieses berühmtesten Konzertsaals der Welt, in dem immerhin Werke wie Brahms' Zweite und Dritte Symphonie, mehrere Bruckner-Symphonien und Mahlers Neunte zur Uraufführung gekommen sind, weiß natürlich, daß jeder berühmte Interpret, der Wien einen Besuch abstattet, jedes bedeutende Orchester auf Tournee hier auftreten möchte. Eine wienerische »Weisheit« besagt, daß der künstlerische Leiter der Gesellschaft der Musikfreunde nur die internationalen Flugpläne studieren und Ankunft und Abflug ein wenig im Blick behalten müsse.

Darauf angesprochen, lacht Pauly und meint: »Also, das beschreibt meinen Arbeitsalltag nur sehr unzureichend . . .«

Ironie beiseite gelassen, lastet auf dem Intendanten die größte Verantwortung. Was im Musikverein passiert, ist von internationaler Ausstrahlung - und es prägt das Image der Musikstadt Wien entscheidend.

So dreht sich denn, so Pauly, alles um die zentralen Fragen: »Warum spielen wir was mit wem? Wer ist prägend für unser Haus? Wie sieht unser inhaltliches Profil aus?»

Antworten darauf findet man nicht im stillen Intendanten-Kämmerlein. »Konzertmanagement«, sagt Pauly, »das heißt: sehr viele Dialoge führen. Mit den Künstlern. Und mit dem Team im Haus. Ein Programm entsteht immer im Dialog. Das ist ein Prozess, den man führt.« Wobei das Wort hier im doppelten Wortsinn zu verstehen sei: »Führen im Sinne von Führung - das heißt: Leitlinien zu finden, eine Richtung vorzugeben, die Verantwortung zu tragen. Aber auch im Sinne des Führens von Gesprächen: Es ist im Wesentlichen eine Moderationsaufgabe.«

Das ist aber nur der eine Teil des Intendanten-Lebens. »Der andere«, sagt Stephan Pauly, »ist der wirtschaftliche, der organisatorische. Da geht es um die Finanzierung, um das Geschäftsmodell, das dahintersteht.«

Saisonstart in Krisenzeiten

Zum Einarbeiten hat der Neo-Intendant ein wenig Zeit. Die erste Spielzeit, die er verantwortet, hat künstlerisch ja noch sein Vorgänger, Thomas Angyan, geplant. »Das ist ein ganz normaler Vorgang«, meint Pauly, »ich habe ja auch die Saison 2020/21 an der Frankfurter Alten Oper durchgeplant, bevor ich nach Wien übersiedelt bin.«

Mehr als acht Jahre hat Stephan Pauly die Geschicke des wichtigsten Konzertveranstalters in der Finanzmetropole am Main geleitet. Wie im Falle der Übergabe der Amtsgeschäfte in Wien wurde auch in Frankfurt ein Saisonplan vorgestellt, von dem kein Mensch sagen konnte, ob er sich im Zuge der Pandemie so realisieren lassen würde - oder ob er vielleicht doch ganz anders umgesetzt werden muß.

Jetzt sieht es immerhin so aus, als ob auch die ehrgeizigsten Pläne für den Saisonstart im Wiener Musikverein realisiert werden könnten: Schon im September soll die Konzertserie ja mit Gastspielen zweier internationaler Spitzenorchester anheben: Die Sächsische Staatskapelle Dresden spielt zur Saisoneröffnung unter der Leitung ihres Ersten Gastdirigenten Myung-whun Chung im Großen Musikvereinssaal Dvoraks Siebente und - mit Sir Andras Schiff - das Erste Brahms-Klavierkonzert. Danach kommt Sir Antonio Pappano mit seinem Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia aus Rom - mit einem coronabedingt etwas abgeänderten Programm aus Werken von Beethoven, Mendelssohn-Bartholdy, Mozart sowie (am zweiten Abend) Saint-Saens und Bizet.

Nicht zu vergessen natürlich die ersten Auftritte der Weltklasse-Orchester, die in Wien zu Hause sind: Im Oktober gibt es Konzertprogramme der Wiener Philharmoniker unter Herbert Blomstedt und Valery Gergiev. Und Andres Orozco-Estrada dirigiert als Antrittsprogramm seiner Ära als Chefdirigent der Wiener Symphoniker Joseph Haydns »Schöpfung« - wiederum dank Corona in einer leicht gekürzter Form -, natürlich mit dem hauseigenen Chor, dem Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Das ORF RSO Wien präsentiert in seinem ersten Musikvereinsprogramm der Saison - unter Chefdirigentin Marin Alsop - sogar eine österreichische Erstaufführung, die »Englischen Liebeslieder« mit dem Solisten Narek Hakhnazaryan (Violoncello).

Daß sich die Coronakrise auf die Programmplanung weniger stark auswirkt als befürchtet, freut den Intendanten : »Noch vor wenigen Wochen hätten wir das kaum zu hoffen gewagt. Es war wunderschön zu erleben, wie alle mit uns an einem Strang gezogen haben, um die besten Lösungen zu finden. Natürlich mußte es Adaptionen und neue Programme dort geben, wo die geplanten Stücke logistisch nicht möglich sind, wegen Besetzungsgröße oder Spieldauer. Aber auch unter veränderten Bedingungen erwarten uns vitale, vollgültige Konzerte mit gewohnter Stimmung und Spannung, davon bin ich überzeugt.«

Der Verantwortung bewusst

Das Publikum muß sich natürlich vorderhand an die Sicherheitsbestimmungen halten, die sich aber weniger störend auswirken werden, als zu vermuten wäre: »Niemand muß vorher ausführlich unser Sicherheitskonzept studieren«, sagt Pauly, »Die Besucherinnen und Besucher können mit Mund-Nasen-Schutz einfach ins Haus kommen, unser Personal hilft weiter, alle gelangen über eine einfache Wegeführung zum Sitzplatz, der regelkonform im Mindestabstand zu den anderen liegt. Um in den Foyers Ansammlungen zu vermeiden, finden die Konzerte ohne Pause statt. Unser Kartenbüro hat in den letzten Wochen Enormes geleistet und alle telefonisch informiert, deren Abo-Sitzplätze sich ändern werden. Kurz: Das Publikum kann sich einfach auf die Konzerte freuen, für die Sicherheit sorgen wir.«

Wie sehr sich der Pauly-Musikverein in den folgenden Spielzeiten dann von jenem des Thomas Angyan unterscheiden wird, will der Intendant freilich noch nicht sagen: »Wie gesagt, das wird sich im Dialog mit den Künstlern und unserem Team entwickeln. Und es ist noch einen Tick zu früh, da etwas zu sagen. Nur so viel: Ich bin mir der Verantwortung bewusst, die die einzigartige Geschichte der Gesellschaft der Musikfreunde bedeutet. Es gibt ja keine zweite Organisation, in der sich Musikgeschichte, Interpretationsgeschichte in solcher Dichte ereignet hat.«

Beeindruckt gibt sich Pauly davon, »welche Künstler sich hier seit Jahren zu Hause fühlen. Das ist weltweit einmalig. Das bewahren zu dürfen und weiter mit Leben zu erfüllen ist eine der vornehmsten Aufgaben.«

Wobei das »sich zu Hause Fühlen« naturgemäß nicht nur für die Künstler, sondern auch für das Publikum gilt. Damit das so bleibt, wird jetzt erst einmal an den Konzepten für die künftigen Musikvereinsjahre gefeilt. »Die Antwort auf die Frage nach der Zukunft wird es im Frühjahr nächsten Jahres geben, wenn wir meine erste Saison vorstellen. Nur so viel kann ich schon sagen: Diese Antwort wird vielgestaltig sein.«

Vielgestaltig insofern, als Pauly »ein Panorama von Ansätzen zeigen« möchte, »die sich in den nächsten Jahren dann in aufrechter Balance zur großen Tradition des Hauses entwickeln».

In diesem Sinne streut der Intendant seinem Vorgänger Rosen, es habe ja auch Thomas Angyan - nicht erst seit dem Bau der »Neuen Säle« - das Angebot an Konzerten enorm ausgeweitet. »So etwas«, sagt Pauly, »passiert ja nicht nur aus dem Willen einer Institution, sondern auch aufgrund der Nachfrage: Es ist ja Publikum da, das alle diese Konzerte füllt, das dieses immense Angebot annimmt.«

Um dieses offenkundige Interesse zu befriedigen, sollen auch in Hinkunft »Konzerte der unterschiedlichsten Couleur im Musikverein stattfinden. Es geht ja nicht nur um die Gäste, die der Musik wegen nach Wien kommen, sondern zuallererst um die Menschen, die hier wohnen und die Konzerte hören möchten.«

Insofern nimmt Stephan Pauly nicht nur den Dialog mit den Künstlern und seinem Team auf, sondern auch mit den Wiener Musikfreunden: »So habe ich meine Arbeit immer verstanden. Ein guter Spielplan entwickelt sich nicht aus einem Masterplan. Er entsteht aus der Dynamik dieses Dialogs.«


14. September



Zwischentöne


Eine vergnügliche Musikgeschichtelektion im Mozartsaal


Wen lassen wir lieber altvertraute Klänge akustisch »übermalen« - einen Avantgardisten wie Schönberg oder den Romantiker Edvard Grieg?

Heute Abend setzt Elisabeth Leonskaja im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses ihren klug programmierten Zyklus fort, in dem sie Musik der Wiener Klassik mit Kompositionen der sogenannten »Zweiten Wiener Schule« miteinander konfrontiert. Diesmal steht Arnold Schönbergs Klaviersuite op. 25 im Mittelpunkt, umrahmt von Sonaten und Fantasien von Mozart.

Das ist weniger abwegig, als es scheint, obwohl es sich bei Schönbergs Werk um die erste groß angelegte, konsequent mit der Zwölftonmethode organisierte Komposition der Musikgeschichte handelt.

Die Gegenüberstellung mit einem Stück wie der sogenannten »Sonata facile« von Mozart hat Methode. Denn wie Mozart auf zwei Ebenen agiert, wenn er mit dieser vorgeblich »einfachen Sonate« einen Stil anschlägt, der dem Hörer suggeriert, er könne bei der ersten Begegnung mit dieser Musik wirklich gleich alles mitbekommen, spielt auch Schönberg mit der Tradition: Er versucht mit den Mitteln der Avantgarde die Regeln der barocken Suiteform zu erfüllen.

Wie Mozart einen simplen Tonfall wählt, den Hörer aber bei näherer Betrachtung auf eine ganz erstaunliche Abenteuerreise mitnimmt, suggeriert Schönbergs Suite vor allem durch rhythmische Lebendigkeit, die alten Tanzformen wieder aufzunehmen; entzieht ihnen aber verfremdend den Boden der altvertrauten Tonalität.

Das tut er übrigens dermaßen konsequent, daß er Musikanalytiker, die den Gang der »Zwölftonhandlung« nachzuvollziehen versuchen, zur Verzweiflung treibt: Immer dort, wo der sture Ablauf der zwölf Töne zufälligerweise zu Assoziationen mit klassischen Kadenzen führen würde, »korrigiert« Schönberg seine eigenen Vorschriften. Er läßt lieber einen Ton, der »an der Reihe« wäre, weg, als dem Hörer Assoziationen zu Grundtönen in Dur oder Moll zu gönnen.

Solche aufzuspüren, sollten die Besucher des heutigen Konzertes also gar nicht versuchen, lieber hoffen, dem Spiel der Töne jenseits des harmonischen Wohllauts ästhetische Freuden abzugewinnen. Die »Suite« erklingt übrigens am »Originalschauplatz»: Im Mozartsaal erlebte sie 1924 ihre Erstaufführung durch Eduard Steuermann.

Die Mozartschen Stücke drumherum bergen für Freunde Lisa Leonskajas übrigens noch ganz andere gedankliche Querverbindungen: Die »Sonata facile« und auch die c-Moll-Sonate, die zu Beginn des Abends erklingt, hat die Pianistin vor Jahren - apropos Verfremdung - im Verein mit Swjatoslaw Richter vierhändig gespielt und aufgenommen, jene zusätzlichen Stimmen inklusive, mit denen einst Edvard Grieg im romantischen Überschwang Mozarts Originale »akustisch übermalt« hat.


9. September



Ein Botschafter unserer Kultur von Weltformat


Dem Geiger, Gründer des Alban Berg Quartetts und großen Lehrer Günter Pichler zum Achtzigsten.

Es war für uns einst nicht schwer, einen Salzburger zu musikalischen Zwecken einzuwienern. Selbst bei dem Mann aus Bonn ist es uns ja gelungen. Jetzt aber wird es heikel, denn es geht um einen Tiroler. Das ist noch einmal ganz etwas anderes, dessen bin ich mir bewusst. Und doch, blenden wir zurück: Die Sozialisierung des Musikers Pichler fand in seiner Wiener Studienzeit statt, als er die hiesigen Orchester und Kammermusik-Ensembles studierte, ihren Ton, ihre Art zu denken, zu fühlen. Pichler fand die Unterschiede heraus zu dem, was Musiker von anderswoher mitbringen: Diese waren genauer, perfekter, spielten, sagen wir, ein wenig sauberer als die Einheimischen.

Aber! So sagen wir dann immer . . .

Dieses »Aber« wollte Günter Pichler nicht gelten lassen. Es mußte doch möglich sein, die wienerische Klangwahrheit mit international salonfähiger Akkuratesse zu verbinden, oder - um das bis zum Überdruss strapazierte Diktum Gustav Mahlers noch einmal zu variieren - die Tradition zu bewahren, ohne dabei in Schlamperei zu verfallen.

Präzision und Charme

Daß dem jüngsten Violinprofessor der Wiener Akademie, der auch Konzertmeister der Symphoniker und der Philharmoniker war, die Gratwanderung glückte, war schon dem »Presse»-Kritiker klar, der Pichlers Ensemble nach dem ersten öffentlichen Konzert das »Wunder namens Alban Berg Quartett« nannte. Günter Pichler bewahrte in seinem unverwechselbaren Ton alles, was an der notorischen Wiener Schlamperei charmant klang - und ist dabei immer unglaublich präzise geblieben. Sogar wenn ein echter Avantgarde-Meister wie Roman Haubenstock-Ramati in seinem Zweiten Streichquartett verlangte, eine Passage inmitten eines ganz und gar nicht im Dreivierteltakt, ganz und gar nicht in Dur oder Moll stehenden Klanggespinnsts möge »wienerisch« klingen, dann verstand Pichler, was gemeint war. Und der Hörer begriff es auch, selbst wenn er nicht in die Noten schaute: Es klang »wienerisch».

Dank solch Raffinements empfanden Meister von Lutoslawski bis Berio die Interpretationen ihrer Musik durch das Alban Berg Quartett stets als unübertrefflich; und wir die Wiedergaben von Beethoven-oder Schubert-Quartetten. Deshalb gehört Günter Pichler zu seinem runden Geburtstag als Wiener umarmt; schon weil die Wiener Musikkultur ohne ihn viel ärmer gewesen wäre.


7. September



Zwischentöne


Puccini-Sternstunden zelebrierte Wien oft auch außer Haus


Wenn nach mehr als 60 Jahren im Haus am Ring eine neue »Madame Butterfly« zu sehen ist, darf man wieder einmal zurückblicken.

Madame Butterfly« - heute Abend gibt man Puccinis Oper zum Einstand einer neuen Staatsopern-Direktion im Haus am Ring. Tatsächlich ist das jenes Repertoire-Stück, dessen bisher letzte Neuinszenierung am weitesten zurückliegt in der Geschichte des Hauses. Der Hausherr hieß damals Herbert von Karajan. Am Dirigentenpult stand aber Dimitri Mitropoulos. Und Sena Jurinac sang die Titelpartie.

Sie galt Wiener Musikfreunden lange Zeit als die ideale Interpretin dieser Rolle. Ein Livemitschnitt aus der Wiener Staatsoper, einige Jahre später unter der Leitung von Berislav Klobucar entstanden, dokumentiert den Gesang der Jurinac - und man darf getrost sagen, daß diese Aufnahme (bei Orfeo erschienen) ein Musiktheater-Juwel ist; nicht einfach ein musikalisches Protokoll.

Und dies deshalb, weil es - nehmen wir nur die große Arie im Zentrum des Werks (»Un bel di, vedremo») - auf Tonträgern gewiß makelloser gesungen wurde; aber wie die Jurinac die Rolle mit Leben erfüllt, wie sie vor allem den Mittelteil der Arie, von Puccini als deklamatorische Passage außerhalb der großen melodischen Linie gestellt, zur Charakterisierung der Figur und ihrer Situation nützt, das ist außerordentlich, das hebt dieses Tondokument weit über vergleichbare Mitschnitte. Denn hier wird offenbar, was Musiktheater bedeutet: mit musikalischen Mitteln Schicksale fühlbar zu machen.

Das alles fand statt in den stimmungsvollen Dekorationen eines Weltstars der bildenden Kunst, Tsuguharu Leonard Foujita - die Wiener haben sich an sein »Butterfly»-Ambiente so gewöhnt, daß sie dessen einstigen Glamourfaktor längst nicht mehr zur Kenntnis nahmen.

In der Rückschau fällt übrigens auch auf, daß Herbert von Karajan, der große Puccini-Dirigent, damals einem von ihm - und weiß Gott auch vom Wiener Publikum - hochgeschätzten Dirigentenkollegen das Ius primae noctis überließ, um dann irgendwann einmal zwischendurch auch »Butterfly« selbst zu dirigieren.

So war das einmal.

Karajan brauchte auch nicht viele Proben, als er, nachdem er die Staatsoper längst verlassen hatte, im Musikverein eine Aufnahme des Werks produzierte: Die Philharmoniker blühten gleich wieder auf unter seinen Händen und trugen Mirella Freni und Luciano Pavarotti im ersten Finale zu Höhen des Puccini-Gesangs, wie sie live kaum je zu erleben sind.

Für die Verfilmung durch Jean-Pierre Ponnelle hat man die Tenorszenen dann mit Placido Domingo nochmals aufgenommen; das klang nicht mehr ganz so herrlich, sah aber gut aus. So hat »Madame Butterfly« in Wien jenseits der Staatsoper Interpretationsgeschichte geschrieben.


4. September



»Das wäre in Paris nicht realisierbar»


Haus am Ring. Der neue Staatsopern-Musikchef Philippe Jordan im Gespräch: Warum Schönklang ein Muß ist, wie er mit Operndirektor Roscic redet, wer ihn die richtigen Fragen lehrte und wie man in Paris heute noch für Wagner kämpfen muß.

Die Presse: Die Staatsoper bekommt einen Musikdirektor, der sein Handwerk von der Pike auf gelernt hat: Sie waren, wie Karajan, mit 22 Kapellmeister in Ulm, Assistent bei Barenboim und Jeffrey Tate, dann Chefdirigent in Graz, sind bis Ende der Saison Musikchef an der Pariser Oper. Sie sind der Sohn eines Dirigenten, war diese Ochsentour vorgezeichnet?

Philippe Jordan: Tatsächlich sagte mein Vater: Wenn du Dirigent werden willst, rate ich dir, diesen Weg zu gehen. Er ist nicht angenehm, aber der beste. Und ich dachte: warum nicht? Oper habe ich immer geliebt.

Die meisten bekannten Maestri Ihrer Generation machen auf dem Konzertpodium Karriere, finden meist spät zur Oper.

Natürlich ist es nicht angenehm, Tag für Tag beim Balletttraining Klavier zu spielen. Aber man lernt auch da unendlich viel! Ich rate Dirigier-Studierenden, geht ans Theater. Wenn ihr nur ein bisschen Klavier spielen könnt: Nur so lernt ihr den Beruf. Ich will nicht Dirigier-Professoren an den Konservatorien kleinreden, aber ein, zwei Mal pro Semester zwei Stunden das Studentenorchester vor sich zu haben, ist zu wenig. Jeder Klavierstudent übt Klavier, jeder Geiger Geige. Ein Dirigent muß lernen, mit Orchester und vor allem mit Sängern zu arbeiten.

War es dafür auch wichtig, Dirigenten wie Jeffrey Tate und Daniel Barenboim zu assistieren? Was lernt man dabei?

Von Tate habe ich gelernt, wie man mit Sängern arbeitet. Er hatte auch als Korrepetitor angefangen und war unglaublich pingelig mit Text und Rhythmus. Er hat mich auch als Repetitor ungeheuer gefordert. Von Barenboim habe ich gelernt, das Ganze im Blick zu haben, zu fragen, worum es in der Musik geht. Und er hat nie gesagt, so muß es sein, hat Assistenten auch nie gezwungen, seine Tempi zu übernehmen. Er hat uns aber gelehrt, die richtigen Fragen zu stellen.

Wenn man den Beethoven-Zyklus hört, den Sie mit den Wiener Symphonikern eingespielt haben, merkt man, daß Sie auch die Fragen des viel beschworenen »Originalklangs« mitbedacht haben.

Natürlich habe ich in Zürich Harnoncourts Beethoven-Zyklus gehört, natürlich war ich von seinem Mozart schockiert. Aber es hat mich beeinflusst, schon deshalb, weil auch Harnoncourt ein Erbe weitergetragen hat. Er kam als Musiker von den Wiener Symphonikern, hat im Staatsopernorchester substituiert. Man spürt, daß in seinen Interpretationen etwas mitschwingt, auch wenn er es auf den Kopf stellt oder Dinge in seiner späten Phase noch einmal ganz anders angeht.

Das Beste von beiden Welten?

Mir geht es um die Synthese. Es geht ja nicht nur darum, wohlbekannte Stücke neu durchzudenken, sondern alle Elemente aufgrund des Notenbildes so klar wie möglich herauszubringen.

Wobei ich immer den Eindruck hatte, daß in Ihren Interpretationen bei allen oft schroffen, scharf geschliffenen Details eine Liebe zum Schönklang herrscht.

Natürlich muß die Musik ihre Kanten haben, aber die müssen schön klingen. Wenn wir über hässliche Klänge sprechen, verfallen wir leicht in Klischees: Selbst eine Dissonanz bei Schönberg kann schön klingen, in dem Sinn, daß die Intonation stimmt, der Klang leuchtet, die Obertöne stimmen.

Mit großen Opernhäusern sind Sie nach Gastspielen etwa auch an der Wiener Staatsoper durch Engagements in Berlin und zuletzt an der Pariser Oper vertraut. Wobei in Paris die Besonderheit herrscht, daß man ein Stagionesystem mit zwei strikt voneinander getrennt arbeitenden Orchestern pflegt, die jeweils nur eine Produktion spielen. Das ist ziemlich das Gegenteil von dem, was in Wien üblich ist.

Ja, da ist der himmelweite Unterschied des riesigen Repertoires, des Ensembles. Das ist natürlich eine Umstellung, aber gleichzeitig ist es für mich auch ein Nachhausekommen. In Ulm, Berlin und Graz war das meine Alltagsrealität. Da geht es wieder in Richtung Flexibilität. Man kann auch nicht sagen, wir machen aus der Staatsoper jetzt ein Stagione-Haus. Hier kann es schon vorkommen, daß eine Serie ganz ohne Bühnen-Orchesterprobe auskommen muß. Das wäre in Paris nicht realisierbar.

Fällt die Frage, wie viele Proben für welche Produktion - und mit welchem Dirigenten - abzuhalten sind, in die Entscheidungskompetenz des Musikdirektors?

Das alles läuft sehr gut. Roscic und ich reden buchstäblich über alles miteinander. Es gibt einen Direktor, der letztlich entscheidet, aber es wird alles besprochen, welches Stück wie intensiv geprobt werden muß, welche Gastdirigenten wir engagieren, welche Stücke wie besetzt sind, wie das Sängerensemble nachbesetzt wird. Natürlich schaue ich mir auch die Besetzungen für die Aufführungen an, die ich nicht selbst dirigiere. Und jedenfalls werden immer Fragen gestellt.

Als Musikdirektor mit Aufsicht über das Ganze agieren Sie auch gern, wenn Sie Mozart-Opern dirigieren. Bei den Salzburger Festspielen war das einmal ein Stolperstein, weil das Regieteam nicht akzeptieren wollte, daß Sie die Rezitative vom Hammerflügel aus selbst begleiten! Wie werden Sie das in Wien halten?

Vielleicht tue ich das beim kommenden Da-Ponte-Zyklus. Bei der »Figaro»-Wiederaufnahme will ich unserem exzellenten neuen Studienleiter die Gelegenheit dazu geben.

Nach Paris führt Sie nach dem Wiener Saisonbeginn noch einmal ein Wagner-Projekt zurück. Der »Ring des Nibelungen« war ja durch die Streiks in Paris und dann durch die Coronakrise gefährdet.

Ich habe den »Ring« gerettet. Das war unschön, als Stephane Lissner abging, war die Opera de Paris gerade arg gebeutelt. Seit Ende 2019 wurde nicht mehr gespielt. Nun sollte mit einer Übernahme der »Traviata« aus dem Palais Garnier der Betrieb an der Bastille wieder starten. Darauf habe ich gesagt: kommt nicht infrage. Wenn es szenisch nicht klappt, machen wir es zumindest konzertant. Wobei ich mich gut erinnere, wie das war, als wir 2013 das erste Mal seit Jahrzehnten den »Ring« in Paris zeigen konnten: Viele waren skeptisch und dann ganz erstaunt, daß wir locker noch einen zweiten »Ring« hätten verkaufen können. Erstaunlich, daß man in Paris noch im 21. Jahrhundert für Wagner kämpfen muß . . .


3. September



Musik, das heißt Ekstase - Musik, das heißt auch Angst!


Musikfilm. Für die Wiener Symphoniker wurde die Kinoleinwand zu Sigmund Freuds Couch: Was geht in einem »Klangkörper« vor sich?

Wie es hinter den Kulissen internationaler Konzerthäuser zugeht, das wissen mittlerweile alle. Unzählige Filmdokumentationen über große Orchester sind gedreht worden. Warum sollte man sich nun eine neue über die Wiener Symphoniker ansehen? Weil diese Dokumentation ein wenig anders ist. Genau genommen handelt es sich bei Iva Svarcovas und Malte Ludins Film »Tonsüchtig« um eine orchestrale Psychoanalyse. Es gehört einiges Feingefühl dazu, ein ganzes Orchester auf Sigmund Freuds Couch zu legen, oder besser gesagt: aus zahlreichen Einzelgesprächen mit den Musikern ein aufschlußreiches Gesamtbild zu gewinnen. Nicht von ungefähr gibt es den Begriff vom »Klangkörper».

Gelingt ein Konzert, dann spielt die Hundertschaft auf dem Podium tatsächlich wie ein Mann - atmet, denkt und fühlt gemeinsam. Auch davon ist hier die Rede, von der mühsamen Probenarbeit und der Frage, wie weit es einem Dirigenten gelingen kann, ein Orchester ganz auf seine Vorstellungen einzuschwören. Die Musiker fühlen diesbezüglich offenbar wie das Publikum: Da gibt es - bleiben wir einmal nur bei den guten Dirigenten - jene, die für eine Aufführung den rechten Raster schaffen, innerhalb dessen am Abend alles glatt läuft. Und es gibt den einen oder anderen, bei denen noch viel mehr passiert. Da entsteht dann jene sprichwörtliche Chemie, die im allerbesten Fall Sternstunden zeitigt. Für solche, das wird aus den Interviews bald deutlich, lohnt sich all der aberwitzige Aufwand, ein Instrument zu erlernen, es konzertreif spielen zu können und sich zu bemühen, eine Orchesterstelle zu ergattern.

Die Sucht, die alles vergessen macht

Dann aber - hier beginnt der Film zu fesseln - geht es mit den Irritationen, den Hemmnissen, den Verstörungen erst richtig los. Bald weiß man: Angst ist ein ständiger Begleiter für den musikalischen Profi. Angst, die aufs Familienleben ausstrahlt, die Lebenskrisen auslöst, eine Karriere scheitern lassen kann. Angst, die beim »Vorspiel« hinter dem Vorhang regiert und beim ersten Probespiel - und die einer Ekstase weichen kann: »Das macht süchtig«, sagt eine der Musikerinnen, die es auf eine Spitzenposition geschafft hat. Das ist es: beim Musizieren, beim Zuhören, die Sucht, die alles andere vergessen macht!


2. September



Kommentar

So kommt Wiens Musiktheater wieder in Fahrt


Robert Meyer hat sich nicht mehr für die Volksoper beworben - für den neuen Direktor gäbe es ein klares Erfolgsrezept.

Andrea Mayer gegen Robert Meyer - so ließe sich bündig zusammenfassen, was der amtierende Volksoperndirektor dem »Kurier« anvertraut hat: Die Kultur-Staatssekretärin wünscht sich für das Haus am Gürtel eine Veränderung. Meyer hat sich deshalb nicht mehr beworben, 33 Bewerber sind im Rennen.

Nun wird Robert Meyers Ära gewiß in die Annalen eingehen, weil jede Aufführung, in der der Direktor selbst auf der Bühne stand, dem Publikum Freude gemacht hat. Doch muß ein solches Konzept ein Ablaufdatum haben, um das Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Die Volksoper als gute Adresse für ein Opernrepertoire, das die Staatsoper nicht pflegt - von der Spieloper bis zu spannenden Stücken des frühen 20. Jahrhunderts - sowie als Herberge eines schlagkräftigen Operetten-Ensembles, diese Volksoper gilt es wieder aufzubauen.

Den allseitigen Lippenbekenntnissen zu Repertoire- und Ensembletheater könnte die Volksoper Taten entgegensetzen. Die Staatsoper hat in den vergangenen zehn Jahren bewiesen, daß selbst heikle Werke mit hauseigenen Kräften auf höchstem Niveau zu realisieren sind. Jetzt, da das Spielplan-Angebot im Haus am Ring um gut 20 Prozent reduziert worden ist, braucht die Stadt ein lebendiges Haus, das imstande ist, aus eigenem ein viel breiter gefächertes und abwechslungsreicheres Programm zu gestalten, als es sich derzeit darstellt.

Diesbezüglich hat der Musiktheater-Standort Wien gerade enorm an Attraktivität verloren. Würde die Volksoper ihre Kernkompetenz wieder wahrnehmen, ließe sich dieser Fehler rasch korrigieren. Dazu bedarf es freilich einer neuen Führung, die vor allem eines einbringt: musikalische Kompetenz! Ein Volksoper-Direktor muß nicht nur wissen, wie man in Operetten und Musicals Pointen serviert. Er muß vor allem Orchester, Chor und Solisten dazu animieren, solche Pointen auch singend und musizierend zu setzen.

Das führende Haus im »leichten Fach« war schließlich auch lange Zeit eine erste Adresse für anspruchsvolleres Repertoire zwischen den »Lustigen Weibern von Windsor« und der »Liebe zu den drei Orangen».

Ein Blick zurück auf die Ära Karl Dönchs lehrt, wie ein reichhaltiger Spielplan aussehen kann, der im großen Konzert der Wiener Musiktheater seine unverwechselbare Stimme einbringt - keineswegs anbiedernd, sondern wenn nötig auch einmal gegen den deklarierten Willen der Abonnenten: Freilich, Dönch war »vom Fach«, ein echter Prinzipal und imstande, einem Gast, der sich über die Dissonanzen in Janaceks »Totenhaus« beschwerte, Paroli zu bieten. Er konnte das, weil er halt auch den »Zigeunerbaron« und das »Weiße Rössl« stets parat hatte. Nicht regietheaterlich verballhornt, sondern ganz echt.


31. August.



Zwischentöne


Nachruf auf eine der mächtigsten Musikagenturen


Am Beginn einer reduzierten Saison verabschiedet sich ein weltumspannendes Klassik-Management, ohne das einst gar nichts ging.

In Europa scheint die Nachricht, die am Samstag in den USA lanciert wurde, kaum jemanden interessiert zu haben. Dennoch: Daß Columbia Artists Konkurs angemeldet hat, scheint mir einer Betrachtung wert. Die Kurzformel »Cami«, die lieblich wie ein Kinderspielzeug klang, konnte Operndirektoren kalte Schauer über den Rücken jagen.

»Cami« war die mächtigste Künstleragentur auf dem Klassik-Markt. 90 Jahre hat es sie gegeben. Es begann ganz klein, wie sich's nicht nur in Amerika gehört, wuchs sich aber bald zu einem weltumspannenden Imperium aus. Wer im Business Karriere machen wollte, hatte mit dieser Agentur ziemlich gute Karten.

Leonard Bernstein war selbstverständlich unter Vertrag, James Levine ist mit dieser Agentur im Hintergrund zum Alleinherrscher der Metropolitan Opera aufgestiegen. Eugene Ormandy oder Otto Klemperer vertrauten auf das Managementgeschick, ebenso die Opernstars Leontyne Price, Renata Tebaldi, Elisabeth Schwarzkopf, Richard Tucker oder Jussi Björling.

Freilich: Wer mit solchen Namen auf der Liste stand, war »verkäuflich«, auch wenn er vielleicht selbst nicht ganz so berühmt war. Ein Geschäft gibt das andere. So war das, zumindest bis die Coronakrise das Geschäft zum Erliegen brachte.

Erst schloss die Met ihre Pforten, jetzt gaben die Cami-Manager auf. »Fieberhaft«, so ließen sie ihre Künstler am Samstag per Mail wissen, werde an Lösungen für die Vertragspartner gearbeitet. Und daran, die Gläubiger zu befriedigen.

Dergleichen hätte man Ronald Wilford prophezeien sollen, als er auf dem Höhepunkt seiner Macht stand: Der unauffällige Herr, den im Pausentrubel einer Opernaufführung kaum ein Musikfreund hätte identifizieren können, saß seit 1970 an den Schalthebeln der Klassik-Macht.

Herbert von Karajan war sein wichtigstes »Schlachtross« - nur der Sony-Chef Norio Ohga hatte ebenso viel Einfluß auf die Entscheidungen des Dirigenten; aber dessen Zeit begann bedeutend später.

Wilford hielt allüberall die Zügel in der Hand. Als etwa Ioan Holender einen Staatsopern-Musikchef suchte - mit großem Namen, aber wenig Ambition, sich in die Direktionsgeschäfte einzumischen -, wußte der Boss der Klassik-Bosse Rat: Seiji Ozawa, ohnehin schon einen Deut zu lange erfolgreich in Boston, wechselte nach Wien.

Bei raffinierten Lösungen war Wilford im Spiel. Bei weniger subtilen sowieso. Er starb 2015. Sein bester Mitstreiter, Jack Mastroianni, hatte längst eine eigene Agentur gegründet. Die Nachfolger rieben sich auf. Daß ohne Cami »nichts ging«, war bald nur noch Wunschtraum. Jetzt, wo gerade aus anderen Gründen nichts (oder wenig) geht, gibt es die Agentur nicht mehr.


28. August.



Geburt der Musik aus dem Geist der Religion


Beethoven-Jahr. Wer als ein Religionswissenschaftler sollte sich an die Missa solemnis wagen? Jan Assmann schrieb eines der besten Bücher zum Jubiläum.

Ein Buch über Beethovens Missa solemnis von einem Ägyptologen und Religionswissenschaftler? Wahrscheinlich ist das die einzige Möglichkeit, diesem Gipfelwerk der abendländischen Kulturgeschichte irgendwie beizukommen. Für die Musikologie steht dieses Opus 123 ja im Schatten der umgebenden Spätwerke, der raumgreifenden Neunten Symphonie und der späten Streichquartette, um die sich längst ein ganzer Sagenkreis von mehrheitlich populärwissenschaftlicher Literatur gesammelt hat. Was diese angeblich so schwer verständliche Musik in der Aufführungsstatistik längst vor die sogenannten frühen und mittleren Quartette katapultiert hat.

Die Missa freilich hat ihren einsamen Platz auf dem musikhistorischen Denkmalsockel. Jeder Musikfreund weiß, daß es sie gibt, aber kaum einer hat viele (und vor allem denkwürdige) Aufführungen erlebt.

Das hat schon etwas mit dem enormen Respekt zu tun, mit dem man liturgischer Musik begegnet, die rätselhafterweise schon aufgrund der schieren Länge der Komposition dem liturgischen Gebrauch entrückt ist. Von einem Komponisten noch dazu, der nicht gerade als das bekannt war, was man in Wien einen Kerzelschlucker nennt - oder genannt hat; die Spezies derer, die sich darüber mokieren, daß es religiöse Menschen gibt, ist ja ausgestorben.

»Kunstwerdung« des Gottesdienstes

Längst gilt der normalatheistische Blick auf das Kunstwerk als - sagen wir ruhig: sakrosankt. Im Fall der Missa solemnis hilft es auch, daß Theodor Adorno, der sich auf alles einen Reim machen konnte, just im Fall dieses Werks einen zweckdienlichen argumentativen Schwächeanfall erlitten hat, dessen Verstiegenheiten der Zunft der Programmheft-Autoren heutzutage mehrheitlich als einzige Informationsquelle genügen.

Und jetzt fegt Assmann die Vorstellung, man könne einem Werk wie diesem mit solch neuzeitlich-unheiliger Analytiker-Attitüde beikommen, nachhaltig vom Tisch. Der Untertitel seines Buchs bezeichnet »Beethovens Missa solemnis als Gottesdienst.«

Wer sich das Vergnügen macht, seine Beweisführung zu studieren, die - wo sonst sollte Assmann auch anfangen? - mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten beginnt, der findet sich bald in einem Kosmos kultur- und religionshistorischer Betrachtungen gefangen. Beethoven, so erfährt man da, der sich für die Vorbereitung seiner Arbeit nicht nur in der Geschichte der geistlichen Vokalmusik bis in die Renaissance-Zeit zurückgearbeitet hatte, war auch firm in liturgischen Fragen und hat sich beim Entwurf des architektonischen Plans für den Riesenbau bald weit entfernt vom ursprünglichen Projekt, seinem Schüler Erzherzog Rudolph zur Inthronisation als Bischof von Olmütz den Festgottesdienst musikalisch auszugestalten.

Die Messe wuchs ihm über den Kopf, nahm außerliturgische Dimensionen an und wurde zu einem der bemerkenswertesten Resultate jener allmählichen »Kunstwerdung des Gottesdienstes«, die Assmann »früh und überall auf der Welt« ortet.

Dieser »Kunstwerdung« spürt der erste Teil des Buchs nach, der Herkunft der Zelebrationen und der Geheimnisse der christlichen Liturgie, der Abendmahls-Symbolik vor allem über das Judentum bis zurück zu heidnischen Kulten.

Kant und Schiller auf dem Schreibtisch

Virtuos, wie danach der oft diskutierten Frage über Beethovens Religionsverständnis eigenhändige Notizen und Exzerpte des Komponisten entgegengehalten werden, ein »Glaubensbekenntnis« nach einem Schiller-Text, das hinter Glas gerahmt auf seinem Schreibtisch stand, aber auch - und vor allem - ein Kant-Zitat über den »immateriellen Gott«, der »ewig, allmächtig, allwissend, allgegenwärtig ist». Diesen Text notierte sich Beethoven unter dem Titel »Hymne« - während er die »Hymnen« seiner Missa solemnis schrieb. Mit Plänen, »fromme Gesänge« und ein »Herr Gott dich loben wir« in eine Symphonie einzubinden, trug er sich schon, bevor er seine Messe zu entwerfen begann.

Assmanns musikhistorische Leistung besteht darin, daß er im zweiten Teil seines Buchs Adornos verstiegenen Thesen vom »regressiven Archaismus« der Missa seine klare Sichtweise vom Aufbau des gesamten Werks entgegenhält: »Nicht die musikalischen Themen, die es zu entwickeln gilt, geben ihm den Weg vor, sondern der Text, den es in allen semantischen, das heißt theologischen Nuancen auszuleuchten gilt.«

Wie das geht, zeichnet Assmann in der Folge auch unter Einbindung vieler Notenbeispiele nach - und findet bei Thomas Mann noch einen Zeugen, der ausreichend über die »Trennung der Kunst vom liturgischen Ganzen« zu philosophieren weiß.


25. August.



Neujahrskonzert vor leerem Saal?


Philharmonische Sorgen. Der Orchestervorstand von Wiens Meisterorchester blickt besorgt in die nähere Zukunft. Er möchte Salzburger Erfahrungen auch in Wien nutzen.

Die neue Normalität im Kulturbereich? Die Philharmoniker machen sich Sorgen. Sie haben zwar als wichtigstes Orchester der Salzburger Festspiele den Bann gebrochen und bewiesen, daß man in Coronazeiten im Festspielbezirk auch »Elektra« von Richard Strauss spielen kann - es gibt kaum eine Oper, die nach einer größeren Orchesterbesetzung verlangt.

Und doch: Vom gewohnten Konzertbetrieb sind wir so weit entfernt wie von voll besetzten Opernhäusern. Die neue Staatsopern-Direktion verkauft nur einen Teil der Eintrittskarten, hat aber sogar für die Stehplätze eine Lösung gefunden: Sie werden zu billigen, nummerierten Sitzplätzen.

Die Philharmoniker in ihrer Eigenschaft als Orchester der Staatsoper werden also beinah die gewohnte Situation vorfinden. Zu Beginn der neuen Ära gibt es sogar eine Premiere, Puccinis »Madame Butterfly« mit Staatsopern-Debütantin Asmik Grigorian und dem neuen Musikdirektor Philippe Jordan am Pult. Aber Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer ist dennoch vorsichtig, wenn es um Prognosen geht. Das Konzert im Schlosspark von Schönbrunn, das im Juni abgesagt werden mußte, holt man jetzt am 18. September nach; vor geladenem Publikum, vor allem als TV-Spektakel. Und auch das Neujahrskonzert könnte zum reinen Medien-Ereignis werden: Noch weiß keiner, was Ende des Jahres möglich sein wird.

Bis jetzt alle Tests negativ

Froschauer über die Zeit des Shutdowns, in der das Orchester 31 Konzerte absagen mußte: »Wir haben nie eine Zeit gehabt in 179 Jahren Geschichte unseres Orchesters, in der die Philharmoniker dreieinhalb Monate nicht miteinander gespielt haben.«

Die Salzburger Sicherheitsmaßnahmen werde man in Wien jedenfalls modifiziert beibehalten: »Bevor ein Konzertblock anfängt, testen wir am Tag davor. Das sind stressvolle Stunden, bis der Test zurückkommt, aber bis jetzt waren alle immer negativ. Einmal war ein Test nicht eindeutig, und der Betreffende durfte sofort die Probe nicht spielen. Da hat man schon gesehen: Das ist alles nicht zum Spaß.«

Auch die sozialen Kontakte mußten die Musiker drastisch reduzieren. Sie hoffen nun, »daß wir auch an der Staatsoper wöchentlich Tests haben und genauso auf alles geachtet wird.« Die Zusammenarbeit mit der neuen Direktion funktioniere im Übrigen zufriedenstellend. Zwar mußte die für Herbst geplante Asien-Tournee abgesagt werden, aber was die hoffentlich wieder anlaufende Reisetätigkeit der Philharmoniker betrifft, hofft der Vorstand, daß mögliche »Knackpunkte« bei Verhandlungen nicht zu Stolpersteinen werden. Der neue Opernchef Bogdan Roscic sei ja »lösungsorientiert».

Der neue Musikdirektor und scheidende Symphoniker-Chefdirigent Philippe Jordan »war jetzt lang nicht bei uns«, sagt Froschauer, »aber wir sind da offen. Jordan bringt viel Erfahrung von der Pariser Oper mit. Wir Philharmoniker arbeiten gern, um uns zu verbessern. Wenn jemand sich konstruktiv einbringt, sehen wir das positiv.« Im Konzertbetrieb sei das Orchester ohnehin daran gewöhnt, keinen Chefdirigenten zu haben und sich seine Dirigenten auszusuchen.


18. August.



Kein Regen, nur der Bach rauschte für Schuberts Müllerin


Festival Grafenegg. Nach Startschwierigkeiten musiziert man nun doch im Wolkenturm: Jubel um Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch.

Da konnten sogar Erinnerungen wach werden. Das Festival in Grafenegg blickt nun schon auf eine gute Tradition zurück, und gerade Franz Schuberts »schöne Müllerin« spielte darin eine Rolle: Der Hausherr selbst, Rudolf Buchbinder, begleitete einst bei einer frisch zupackenden, menschlich berührenden Wiedergabe des Liederzyklus durch Michael Schade - im damals recht neuen Festspielhaus. Und man staunte damals, wie gut sich diese eigentlich für den kammermusikalischen Hausgebrauch maßgeschneiderte Liederfolge im großen Saal machte.

Von Intimität konnte diesmal ebenso wenig die Rede sein wie damals: Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch erschienen auf dem Podium des Wolkenturms, Barbara Rett moderierte für die vielen Zuschauer, die live via ORF III dabei waren.

Und doch stimmten die Dimensionen irgendwie. Denn Kaufmann ist ein Tenor, der auch die sprichwörtlichen »kleinen Dinge«, die Hugo Wolf in ähnlich feinsinnigem Ton besungen hat, ins Große zu wenden vermag, ohne daß sie dabei ihre Form verlieren. Sein Pianissimo-Hauch macht sich den Hörern schließlich auch via Mikrofon als Mittel inniger Introspektion verständlich.

Intimität mal tausend

Überdies kommt Kaufmanns Schubert-Gesang eher aus jenen stilistischen Regionen, die einst Bariton-Kollege Dietrich Fischer-Dieskau besetzte. Von der improvisatorischen Natürlichkeit des vom Volkslied herkommenden, wenn auch vollkommen veredelten Liedgesangs - den man sich zu Schuberts Zeiten noch häufig mit Gitarrebegleitung in kleinstem Kreis dachte - sind wir schon dank Kaufmanns eigenwilliger, vollkommen kalkulierter Gesangstechnik mit ihren kehligen Abmischungen von Kopf- und Bruststimme weitestmöglich entfernt. Und doch »geht« die »schöne Müllerin« im Wolkenturm. Denn Kaufmann und sein kongenialer Partner modellieren den Zyklus als Produkt höchster Kunstfertigkeit - und zwar so klar und deutlich, daß der Hörer jede Silbe des Textes verstehen und ihre musikalische Umsetzung erfassen kann.

Die Wortdeutlichkeit Kaufmanns ist exzeptionell, wenn nicht einzigartig. Wenn auch diese Tugend sich für die Festivalbesucher in der weiten Parklandschaft im Wind verlieren mag, er kann die Geschichte vom verliebten Müllerburschen mit allen Nuancen »erzählen« und darf sich auf Helmut Deutsch verlassen, der dazu Schubert spielt, mit den nötigen, sprechenden Modulationen - nicht nur in harmonischer Hinsicht: Man höre, wie er die bange Frage des Sängers in den »Trockenen Blumen« mit einer behutsamen Temporückung in der Echo-Phrase des Klaviers »beantwortet».

Manch dramatische Aufwallung hatte da längst Applaus mittendrin provoziert, aber die Konzentration des vollzählig erschienenen Publikums nicht beeinträchtigen können. Zwei Tage zuvor hatte man noch nach Abspielen einer Beethoven-Ouvertüre Hals über Kopf flüchten müssen, weil die Regengüsse sintflutartig wurden und damit sowohl die zur Festspiel-Eröffnung geplante Uraufführung als auch die Aufführung von Beethovens Tripelkonzert mit Emmanuel Tjeknavorian, Harriet Krijgh und dem Hausherrn Buchbinder verhinderten.

Ab Donnerstag geht es - so die Witterung sich als gnädig erweist - weiter: Im Wolkenturm werden nebst Buchbinder Piotr Beczala, Camilla Nylund und Julian Rachlin erwartet.


15. August.



Kronprinzen sind oft nicht die Thronfolger, auch nicht in Salzburg


Riccardo Muti galt als Karajans logischer Nachfolger in Salzburg. Doch er »erbte« vom Salzburger Alleinherrscher lediglich dessen traditionellen Konzerttermin mit den Philharmonikern. Muti war nicht der einzige Festspiel-Favorit, der nicht zum Zug kam. Das Spiel begann viel früher und war zu Zeiten politisch.

Mariä Himmelfahrt! Das war für Musikfreunde viele Jahre lang ein Feiertag, der zu einer Wallfahrt verlockte. Da dirigierte nämlich Herbert von Karajan die Wiener Philharmoniker in Salzburg.

Es waren in der Regel drei Konzerttermine, die der Maestro assoluto für das Festspielpublikum reservierte: Zwei Abende mit seinen Berliner Philharmonikern, die Jahr für Jahr Ende August quasi ihren vorgezogenen Saisonbeginn zelebrierten - mit Programmen, die sie danach auch in Berlin zum Besten gaben.

Und dann eben das eine, viel begehrte Konzert mit den Wiener Philharmonikern. Deren Auftritt am Marienfeiertag gehört heute noch zum Ritual. Und ebenso rituell lautet der Name des Dirigenten seit vielen Jahren Riccardo Muti.

Das ausverkaufteste Konzert. Das Konzert ist notorisch ausverkauft, es muß meist sogar dreimal rund um den 15. August gegeben werden. Daß es Mutis Erbpacht wurde, hat mit der Salzburger Festspielgeschichte zu tun und mit der Tatsache, daß viele Musikfreunde diesen Dirigenten für den legitimen Erben Karajans hielten.

Oder genau genommen für den Festspiel-Kronprinzen, der selbstverständlich ein Anrecht darauf gehabt hätte, die künstlerische Leitung der Festspiele zu übernehmen. Was wiederum nicht einmal nur etwas mit Karajan zu tun hatte. Es wurzelte tiefer in der Salzburger Tradition.

Es gab ja, was viele schon vergessen haben, nicht einen, sondern zwei Salzburger Regenten. Karajan, versteht sich, aber auch noch Karl Böhm, der seit den späten Fünfzigerjahren sozusagen naturgemäß das Salzburger Operngeschehen mitbestimmte.

Böhm galt als Sachwalter der Mozart-Spieltradition und war jedenfalls verbrieft einer der bevorzugten Uraufführungsdirigenten von Richard Strauss gewesen - immerhin einer der Festspielgründer . . .

Noch näher als Böhm, graben wir in unseren Betrachtungen ruhig noch ein wenig weiter zurück, stand Strauss übrigens Clemens Krauss. Ihn betrachtete er tatsächlich als seinen Kronprinzen, was das Festspielgeschehen betraf. Krauss war in seiner Zeit als Direktor der Wiener Staatsoper der rechte Mann, um fortzusetzen, was Strauss begonnen hatte: Opernaufführungen auf mustergültigem Niveau im Salzburger Sommer zu veranstalten, bei denen das Ensemble der Wiener Oper beweisen sollte, was es unter besten Bedingungen zu leisten imstande war.

Auf diesen Kurs versuchte Strauss seinen Adlatus Krauss einzuschwören. Das funktionierte ganz gut, solang die Politik nicht dreinpfuschte, wenn dieses harmlose Wort in Verbindung mit den Umstürzen der Dreißigerjahre überhaupt erlaubt ist. Doch es kam 1933, es kam die Berufung von Krauss ins nationalsozialistische Berlin - wodurch er in Österreich zur Persona non grata wurde. Und es ereignete sich im Gegenzug - und dieses Wort ist tatsächlich nicht falsch gewählt - ein einzigartiger Glücksfall für Salzburg.

Arturo Toscanini nämlich weigerte sich als glühender Antifaschist, nach Hitlers Machtübernahme noch bei den Bayreuther Festspielen aufzutreten. Er wählte Salzburg - und sorgte hier für vier kurze, aber weltweit beachtete Festspielsommer, für künstlerische Höchstleistungen, die erstmals wirklich aus aller Welt - Deutschland natürlich ausgenommen - Publikum anlockten. Die Festspiele wurden glamourös.

Die neue Internationalität wurde 1938 bekanntermaßen rüde unterbrochen. Toscanini mußte sich um einen Erben nicht kümmern. Denn Clemens Krauss wurde wieder in seine Rechte gesetzt - und durfte als künstlerischer Leiter die nunmehr »deutschen« Festspiele planen.

Unter den gegebenen, wahrhaft widrigen Umständen gelang es ihm immerhin, seine Kronprinzenfunktion in Sachen Richard Strauss wahrzunehmen, indem er die letzte Strauss-Opernuraufführung einstudierte. Die Produktion brachte es trotz der Proklamation des »Totalen Kriegs« bis zur halb öffentlichen Generalprobe. Strauss konnte seine »Liebe der Danae« also tatsächlich noch in einer mustergültigen Aufführung auf der Bühne erleben.

Die eigentliche Uraufführung, 1952, fand dann zwar auch bei den Festspielen statt. Doch da war Strauss nicht mehr am Leben. Sein Kronprinz durfte, weil der Komponist sich das gewünscht hatte, diese Aufführung dirigieren. Im Übrigen aber waren sich die Festspielmacher einig, mit Clemens Krauss nichts mehr zu tun haben zu wollen.

Der starb zwei Jahre später, da waren sich seine Freunde sicher, an gebrochenem Herzen, weil man ihn auch in Wien nicht mehr hatte zum Zug kommen lassen.

Galionsfigur Furtwängler. In Salzburg aber dominierte bald ein Mann, der nach 1945 zu den »belasteten« Künstlern gezählt werden mußte, aber weltweit doch als der eigentliche Gegen-Toscanini galt: Wilhelm Furtwängler. Er hatte 1944 übrigens das einzige wirklich offizielle Festspielkonzert des Sommers in Salzburg dirigiert, Bruckners Achte mit den Wiener Philharmonikern. Er war 1938 auch nach Salzburg gekommen, um die »Meistersinger von Nürnberg« zu übernehmen, die Toscanini hätte dirigieren wollen, wenn nicht . . .

Ab 1948 war Furtwängler die Salzburger Galionsfigur. Für die Kritiker, das Publikum, die Festspiel-Verantwortlichen, vor allem aber für die Philharmoniker, damals noch unangefochten das Festspielorchester, der einzige zugkräftige Erfolgsgarant.

Furtwängler war viel zu sehr auf sich selbst bezogen, als daß er je darüber nachgedacht hätte, ob es für ihn einen Nachfolger geben könnte. Als er starb, kürten sowohl die Berliner Philharmoniker als auch die Salzburger Festspiele jenen Mann zu seinem Erben, den er selbst als Einzigen ganz kategorisch immer ausgeschlossen hatte: Herbert von Karajan übernahm auf diese Weise, auch weil er bald zum Wiener Staatsopern-Direktor wurde, die Macht über die wichtigsten Schaltzentralen des europäischen Musiklebens.

In Salzburg, seiner Geburtsstadt, gab er diese Macht bis zu seinem Tod, 1989, nicht mehr ab. Dabei hatte es zuvor so ausgesehen, als ob die Festspiele einen radikal neuen Kurs fahren könnten, der keine Dirigenten-Galionsfigur mehr nötig gehabt hätte. Von Furtwängler gefördert, versuchte der Komponist Gottfried von Einem - engagierter Karajan-Gegner -, Salzburg zum Zentrum für Uraufführungen neuer Theaterstücke und Opern zu machen.

Er scheiterte an seinem Engagement für Bertolt Brecht, der als »Kommunist« für die österreichische Politik untragbar schien.

Uraufführungen als Dogma. Doch Uraufführungen von Carl Orff bis Rolf Liebermann bildeten eine Zeit lang das Rückgrat des Programms - und blieben bei Karajan wichtig. Jedenfalls konnte er in seiner angeblich vollkommen aufs klassische Repertoire konzentrierten Ära mehr bedeutende Weltpremieren herausbringen, als es danach je wieder möglich wurde. Doch wäre niemand auf die Idee gekommen, sein Nachfolger könnte einer sein, der sich nicht zuallererst um die Pflege des großen Repertoires kümmern würde.

Da schien Muti der Rechte: Seine Einstudierung von »Cosi fan tutte« nach Karl Böhms Tod wirkte wie ein Befreiungsschlag: In Originalklangzeiten war es noch möglich, Mozart »wienerisch-philharmonisch« aufzuführen und damit neue Maßstäbe zu setzen.

Das hätte der Mann sein müssen, der nach Karajan die Zügel in die Hand nimmt. So dachten viele. Doch die Politik wählte Gerard Mortier, der Muti nur für eine Opernproduktion halten konnte, und der auch Nikolaus Harnoncourt (den viele für den anderen möglichen Festspiel-Leuchtturm hielten) relativ schnell verlor. Die Mozart-Kompetenz der Festspiele sank in Mortiers Ära gegen null. Ein wenig aufgeblüht ist sie danach nur unter Peter Ruzicka - womit noch einmal ein Komponist als Festspielmanager reüssierte.

Muti freilich kehrte nur sporadisch als Operndirigent zurück - kommt aber pünktlich jeden »Ferragosto« zum philharmonischen Konzert. Immerhin.

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13. August.



Wie süße Träume eines Offiziers produktiv werden


Hans Werner Henzes »Prinz von Homburg« in Ingeborg Bachmanns Textfassung: ein Livemitschnitt aus Stuttgart.

In der Partitur findet sich die Widmung an Igor Strawinsky. Für einen deutschen Komponisten der Jahre um 1960 war das keine Selbstverständlichkeit. Für Hans Werner Henze zumal, der ja mit eigenwilligen Anverwandlungen der Schönbergschen Zwölftonmethode Furore gemacht hatte.

Doch schon die Bezeichnung »deutscher Komponist« hätte Henze damals weit von sich gewesen. Italien war längst seine Wahlheimat, gegen Deutschland hegte er heftige Vorbehalte. Im Süden fühlte er sich wohl, dort fragte keiner nach Vorlieben, musikalisch so wenig wie in Herzensdingen. In Italien konnte er künstlerische Visionen ausleben, Visionen von einer Musik, die sich zwar der Mittel der Avantgarde bediente, doch die den Gesetzen eines neuen, eines reicheren, farbigeren, nicht nur von Terzen und Sexten geprägten Schönklangs gehorchte.

Das hatte schon gelegentlich der Uraufführung der Märchenoper »König Hirsch«, 1955, heftige Kritik heraufbeschworen: »Wir schreiben heute keine Arien mehr«, beschied man ihm. Darauf antwortet er ausgerechnet mit Kleists »Prinz von Homburg«, von des Komponisten »Lebensmenschen« Ingeborg Bachmann feinsinnig fürs Vertonen eingerichtet; Henze fand hier eine Parabel vom allseits unverstandenen Träumer.

Er schrieb: »Im ,Prinz von Homburg' handelt es sich um die Verherrlichung eines Träumers, um die Zerstörung des Begriffs vom klassischen Helden.« Musikalisch bedeutete das die Zerstörung des Begriffs von der »Neuen Musik« - nicht nur Schönberg durfte das Leitbild sein, obwohl sich auch im »Homburg« zwölftönige Passagen finden. Auch Strawinsky darf zu Ehren kommen, sein neoklassizistischer Tonfall schimmert immer wieder durch Henzes Klangkontinuum hindurch.

Wie klingen Nelken und Levkojen?

»Es geht gegen die blinde, phantasielose Anwendung der Gesetze und um die Verherrlichung menschlicher Güte, . . . . . .ie einem Menschen seinen Platz in dieser Welt einräumen will, obwohl er ein Schwärmer ist und ein Träumer, oder vielleicht gerade deswegen«, analysierte Henze seinen Kleist.

Seine unfehlbare Theater-Pranke bewahrte Henze davor, allzu »verträumt« ans Werk zu gehen - die Klangkulisse ist den Vorgängen auf der Bühne mehr adäquat, treibt die Handlung voran, kennt aber auch Oasen der Stille, wo Streichersolisten und Holzbläserakkorde zerbrechliche Klänge malen, um gelegentlich auch einmal den Duft von Bachmann/Kleists »Levkojen und Nelken« akustisch widerspiegeln.

Es gab von diesem Werk vor einigen Jahren eine mustergültige Produktion im Theater an der Wien, die - wie so manches - nicht aufgezeichnet wurde, weil man im TV doch lieber wahnsinnig gewordene Beethoven-Tenöre und Jubelchöre aus dem Off in der x-ten »Fidelio»-Regieperversion zeigt, statt das Repertoire klug aufzuforsten.

Nun liegt immerhin eine CD-Aufnahme aus Stuttgart vor, von Cornelius Meister dirigiert und einem von Robin Adams angeführten, engagierten Sängerteam eindrucksvoll gestaltet. Schon die ersten Takte sind bezeichnend, verwandeln in kühnem Schwung martialische Schärfe in Poesie. Die Spannung hält 110 Minuten lang.


10. August.



Zwischentöne

Mit der linken Hand gespielt, aber keine Halbheiten gemacht


92-jährig starb kürzlich der amerikanische Pianist Leon Fleisher, der auch bei den Salzburger Festspielen Interpretationsgeschichte schrieb.

In vollem Gang sind allen Unkenrufen zum Trotz die Salzburger Festspiele. Sie erfüllen im Jubiläumsjahr, wenn auch in zeitbedingt reduzierter Form, eine ihrer vornehmsten Aufgaben: Man diskutiert über Mozart-Interpretation.

Das war beinah von Anbeginn so. Schon 1922 spielte man Mozart-Opern, und bald schon schrieb man auch im Konzertsaal Mozart-Interpretationsgeschichte. Gottlob ist viel von dem, was da geschehen ist, dokumentiert. Darauf wurden Musikfreunde wieder aufmerksam, als sie die Meldung vernahmen, der amerikanische Pianist Leon Fleisher sei gestorben.

Fleisher war einer der bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts, obgleich es ihm das Schicksal schwer gemacht hat. Wenige Jahre nach dem spektakulären Sieg beim Brüsseler Reine-Elisabeth-Wettbewerb und ersten epochemachenden Schallplattenaufnahmen laborierte Fleisher an Lähmungserscheinungen der rechten Hand.

Das hätte das vollkommene Aus für seine Karriere bedeuten können, doch arbeitete der Künstler weiter - und etablierte sich als Spezialist für das gar nicht so arme Repertoire an Klaviermusik für die linke Hand. Nicht nur dank der Auftragsarbeiten, die Paul Wittgenstein nach seiner Kriegsverletzung an bedeutende Komponisten der Moderne vergeben hatte, fand Fleisher ein erstaunlich reiches Betätigungsfeld.

Er war auch die logische Wahl, als es galt, die Wiener Erstaufführung der wieder aufgefundenen Konzertmusik op. 29 von Paul Hindemith zu musizieren. Fleisher tat es mit dem RSO unter Bertrand de Billys Leitung mit dem nötigen Impetus.

An diesem Abend beeindruckte er aber auch mit Mozart - man schrieb das Jahr 2005 und die medizinische Kunst war so weit fortgeschritten, daß komplizierte Behandlungsmethoden Fleishers rechte Hand wieder »zum Leben erweckt« hatten. So erwies er sich als feinsinniger Interpret von Mozarts A-Dur-Konzert, KV 414.

Mit Salzburg hatte das insofern zu tun, als eine der brillantesten aller denkbaren Wiedergaben des C-Dur-Konzerts, KV 503, bei den Festspielen 1957 entstanden - Fleisher im geistreichen Dialog mit den Berliner Philharmonikern unter George Szell; ein Beispiel für unverzärteltes, hoch differenziertes, kraftvolles Mozart-Spiel der Ära vor Ausbruch des Originalklangwahns. Man sollte die CD gehört haben. Es ist auch die beste Art, sich eines Meisterpianisten zu erinnern.


6. August.



Des Kaisers Tafeldecker erklärt die Festspiele


ORF-Dokumentation. Beate Thalbergs hintergründiger Salzburg-Film ist noch drei Tage online abrufbar.

Dieser Tage ist viel über die Salzburger Festspiele zu lesen, zu hören, zu sehen. Daß der Veranstaltungsreigen überhaupt stattfinden kann, wird allenthalben gebührend gefeiert. Daß die Geschichte des Festivals vielschichtiger ist, als sie derzeit gern dargestellt wird, ließ sich jüngst immerhin erahnen: Am Abend der Festspieleröffnung lief im Rahmen der Schwerpunkt-Sendungen in ORF 2 Beate Thalbergs »Das große Welttheater - Salzburg und seine Festspiele».

Für alle, die das versäumt haben: Bis Freitagabend läßt sich der Film in der TV-Thek noch anschauen. Es lohnt sich. Denn Thalberg, der schon sensible mediale Aufarbeitungen wie jene des Lebens - oder jedenfalls eines Lebensabschnitts - von Gustav Mahler gelungen sind, schürfte auch diesmal wieder tiefer als die heute üblichen, unter Absingen von hochtrabenden Moderatoren-Texten auf 45-Minuten-Länge aufgeblasenen Kompilationen von Archivmaterial.

Thalberg erzählt Geschichte - in Bildern, Filmfragmenten und Episoden. Und sie läßt einen Zeitzeugen wieder lebendig werden, der tatsächlich überall dabei war: Franz Swatosch, der einst als oberster Tafeldecker des Kaisers fungierte - und nach 1918 nicht arbeitslos wurde, weil ein neuer Kaiser, der Regisseur und Festspielgründer Max Reinhardt, unumschränkter Herrscher der Schauspielbühne seiner Ära, ihn zu seinem Kammerdiener machte.

Er war Reinhardts Zeremonienmeister

Swatosch war der Zeremonienmeister der legendären Feste in Reinhardts Privatbesitz zu Füßen des Mönchsbergs, Schloss Leopoldskron. Das ist ebenso wahr wie alle Geschichten, die uns Florian Teichtmeister in der Rolle dieses Franz Swatosch in Thalbergs Film berichtet.

Daß die Sendung unter der Rubrik »Doku & Reportage« abrufbar ist, darf als gelinde Untertreibung bezeichnet werden. Sie ist ein Kunstwerk, in dem historische Film- und Bilddokumente nahtlos in neu gedrehte Szenen übergehen, in dem der Kammerdiener mit uns heimlich Dialoge belauscht, die wirklich stattgefunden haben, in dem die Festspielgeschichte sich spiegelt in vielfachen Brechungen - aus der Sicht des illustren Publikums, der Fotographen, der Festspielmacher, der Historiker.

Daß ein Mann wie Richard Strauss bei solcher Aufarbeitung der Geschichte etwas schlechter wegkommt, als er das vielleicht verdient hätte, daß ein wichtiger Festspiel-Leiter wie Clemens Krauss, der sogar in Leopoldskron wohnen durfte, als man Reinhardt längst ins Exil getrieben hatte, gar nicht vorkommt, während die schöne Margarete Wallmann eine viel größere Rolle spielt als ihr, genau genommen, zukäme - das sind Details, über die es sich lohnen würde zu diskutieren.

Ja, wir sollten über Salzburg reden - nicht die üblichen Phrasen austauschen. Eine solche weiterführende Diskussion angestoßen zu haben ist Verdienst dieser Produktion.


1. August.



Was kann Salzburg, was Bayreuth nicht kann?


Festspiele. Richard Wagners Festspiele waren die ersten in Europa. Daß die Salzburger den Bayreuthern so erfolgreich Konkurrenz gemacht haben, liegt vor allem an Arturo Toscanini und Herbert von Karajan.

Festspiele? Es gibt nur zwei, die in der ersten Liga spielen: Bayreuth und Salzburg. Richard Wagners egomanisches Projekt war einem kulturpolitischen Gedanken entsprungen: Der Dichter-Komponist, bewegt vom revolutionären Geist des Jahres 1848, wollte sein welterlösendes Spiel vom Untergang der Götter und der Hoffnung auf eine neue Welt in einem kühnen künstlerischen Akt präsentieren. Das eigens für diesen Zweck errichtete Festspielhaus am Rhein sollte unmittelbar nach der Aufführung wie die alten Götter in Flammen aufgehen.

Das schließlich realisierte Bayreuther Festspielhaus überlebte sogar zwei Weltkriege. Auch die politischen Konnotationen entfernten sich oft ziemlich weit von den ursprünglich formulierten.

Zeitgeist und Weltpolitik trieben auch die Salzburger Festspielgründer an. Hugo von Hofmannsthals Vision von einem künstlerischen »Friedensprojekt« entstand unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie. Und hob einen alten Salzburger Festspiel-Gedanken in neue, höhere intellektuelle Sphären.

An sommerliche Theater- und Musikveranstaltungen hatte man an der Salzach schon viel früher gedacht; und zwar durchaus nach Bayreuther Vorbild. Es war Hans Richter, der Uraufführungsdirigent des »Rings des Nibelungen« von 1876, der wenig später anlässlich eines Salzburger Mozart-Fests meinte, was im Fränkischen für Richard Wagner gelungen sei, sollte doch an der Salzach für Mozart möglich sein.

Viel mehr als »nur Mozart»

Mozart-Feste hatten die Salzburger seit den Feiern zur Errichtung des Mozart-Denkmals immer wieder veranstaltet. Doch die Festspielgründer dachten in weiteren Dimensionen. Nur daß Salzburg in der Wahrnehmung der Welt zum bedeutendsten Musikfestival werden konnte, schien zunächst keineswegs ausgemacht.

Wenn heute das Festspiel-Jubiläum gefeiert wird, dann zelebrieren wir in Wahrheit 100 Jahre »Jedermann« auf dem Domplatz. Denn erst 1922 erklang die erste Oper im Rahmen des Salzburger Sommerspektakels. Und erst ab 1925 war überhaupt ein regelmäßiger Spielbetrieb gesichert.

Von da ab herrschte freilich die Musik - und programmgemäß nicht nur die Musik Mozarts. Max Reinhardts Schauspielproduktionen markierten zwar einen viel beachteten Theaterschwerpunkt im Festspielplan. Doch die eigentlich tonangebenden Figuren in der internationalen Wahrnehmung wurden bald - und im wahrsten Sinn des Wortes - die Dirigenten.

Der Name Herbert von Karajan fällt vermutlich den meisten Menschen als erster ein, wenn es darum geht, den alles überragenden Festspielmacher der 100-jährigen Geschichte zu benennen. Tatsächlich war Karajan drei Jahrzehnte lang die unumstrittene Galionsfigur.

Und das Schicksal wollte es, daß er - noch als Heribert von Karajan - schon in den ersten Jahren der Festspiele dabei war: Bei den legendären Soireen, zu denen Festspielgründer Reinhardt in sein Schloss Leopoldskron bat, sorgte das junge, aufstrebende Talent am Klavier für die musikalische Untermalung. 1933 war Karajan dann einer der Dirigenten der Schauspielmusik zum legendären »Faust»-Projekt Reinhardts mit Ewald Balser und Paula Wessely in der von Clemens Holzmeister in die Felsenreitschule gebauten »Faust-Stadt».

Daß Holzmeister für ihn später einmal das Große Festspielhaus in den Mönchsbergfelsen hauen lassen würde, konnte selbst der notorisch ehrgeizige Karajan damals nicht ahnen. Er erlebte freilich mit, wie sein großes Vorbild Arturo Toscanini die Festspiele endgültig zur Bühne der großen Maestri machte.

Und wieder war die Politik im Spiel.

Und wieder ging es auch um Bayreuth!

Als Karajan den Taktstock in der Felsenreitschule schwang, um Reinhardts »Faust»-Inszenierung musikalisch zu untermalen, hatte in Deutschland Hitler schon die Macht übernommen. Der italienische Heißsporn Toscanini, der die Jahre davor unter großem Beifall aus aller Welt die Wagner-Festspiele dominiert hatte, weigerte sich daraufhin, in Bayreuth wieder aufzutreten. Deutschland war für ihn verloren. Das ständestaatliche Österreich bot ihm Gelegenheit, sich zu revanchieren: Salzburg wurde von 1934 bis 1937 Toscaninis Hochburg.

Als Salzburg »deutsch« geworden war

Musik von Wagner hatte vor ihm hier zwar schon der große Kollege Bruno Walter dirigiert: Der hatte 1933 eine Neuproduktion von »Tristan und Isolde« herausgebracht. Doch nun gab es neben Mozart und Beethovens »Fidelio« mit Toscanini die ursprünglich für Bayreuth geplante Einstudierung der »Meistersinger von Nürnberg».

Ebendieses Werk sollte 1938, als auch Salzburg »deutsch« geworden war und Toscanini sich fernhielt, Wilhelm Furtwängler an der Salzach dirigieren. Es ist eine der schmerzlichen Wahrheiten, daß künstlerische Qualität keine politischen Grenzen kennt. Auch unter dem Hakenkreuz machte man in Salzburg Musik auf höchstem Niveau. Und die Dirigenten dominierten.

Auf Toscanini und Walter folgten Furtwängler und Karl Böhm. Clemens Krauss war als Intimus des Festspielgründers Richard Strauss ohnehin seit den Zwanzigerjahren dabei gewesen - und sorgte nach dessen Vorgaben für eine Ausrichtung des Musikbetriebs nach Wiener Vorbild; nun übernahm er von Hitlers Gnaden die Führung und machte »deutsche Festspiele».

Nach 1945 konnten auch heftige Angriffe auf die sogenannten »Nazi-Dirigenten« nicht verhindern, daß mit Aufhebung des Dirigierverbots durch die Alliierten Furtwängler zurückkehrte und bis zu seinem Tod der große Mann der Salzburger Festspiele blieb. Karl Böhm stieg zum unverzichtbaren »zweiten Mann« auf - und sollte das bis zu seinem Tod, 1981, bleiben.

Die Wiederkehr des unzweifelhaft »ersten Manns« wurde zunächst durch Furtwängler verhindert: Herbert von Karajan konnte seinen Lebenstraum, die Festspiele in seiner Heimatstadt prägend zu gestalten, erst nach dem Tod jenes Dirigenten realisieren, der doch neben Toscanini sein bedeutendstes künstlerisches Vorbild war . . .

Dann aber gab es kein Halten mehr: Karajan, der während des Furtwängler-Vetos die Eröffnungsvorstellungen der 1951 wieder gegründeten Bayreuther Festspiele dirigiert hatte, übernahm in Salzburg die Macht. Im Wagner-Festspielhaus war Wieland Wagner sein übermächtiger Partner gewesen. Hier herrschte er unumschränkt.

Karajans Landnahme

Über Karajans Ära jubelte das Publikum und nörgelte die Kritik, sie war ihr zu glamourös, zu sehr an Mozart, Verdi und Starglanz orientiert. Wahrheitsgemäß sollte eine Chronik aber festhalten, daß es damals mehr bedeutende Uraufführungen gegeben hat, als das danach jemals wieder möglich wurde: Henze und Orff, Berio oder Penderecki komponierten neue Opern. Vergleichbares ist danach bestenfalls diskutiert, aber nie mehr realisiert worden.

Mit der Vertonung des »Baal« konnte überdies ein Österreicher, Friedrich Cerha, einen Welterfolg landen; und gleich auf charmante Weise den einst von Gottfried von Einem in Salzburg angezettelten »Fall Brecht« endgültig abhaken.

Auch war es unter Karajans Ägide, daß im Schauspielprogramm fünf Uraufführungen von Stücken Thomas Bernhards aufschienen - aber das ist schon wieder eine andere Salzburger (Erfolgs-)Geschichte . . .


29. Juli



Äußerst herbe Klänge für den lieben Gott


Mess-Kompositionen. Eine neue CD vereint Werke von Anton Bruckner und Igor Strawinsky. Diese beiden Komponisten haben scheinbar wenig miteinander gemein - und doch klingt hier manches rätselhaft verwandt.


Über Anton Bruckner hat sich Igor Strawinsky recht despektierlich geäußert, befand er doch, dieser hätte neun Mal dieselbe Symphonie komponiert. Strawinsky war es freilich gewohnt, von Stück zu Stück seinen Stil zu wechseln. »Petruschka« klang völlig anders als der »Feuervogel« - und beide schienen wenig mit dem unmittelbar folgenden »Sacre du printemps« zu tun zu haben.

Das Geniale daran: Ob spätromantisch, archaisch-modernistisch, neoklassizistisch oder zwölftönig: Welche Maske er tragen mochte, man konnte Strawinsky erkennen.

Auch der Messe für Chor und Blasinstrumente von 1948, unmittelbar vor Beginn der Arbeit an der Oper »The Rake's Progress« abgeschlossen, hört man den Autor in den ersten Takten schon an. Obwohl sich Strawinsky zu Zeiten als gläubiger orthodoxer Christ bekannt hatte, klingt seine Messe distanziert, kühl, klar disponiert, wie auf dem Reißbrett entworfen.

Zwar gab ein Antiquariatsfund von Mozart-Messen den Ausschlag zur Komposition, doch tönte es des Öfteren mehr nach mittelalterlicher Polyphonie, hie und da nach herber Avantgarde - und so gut wie nie nach Wiener Klassik. Die Mischung aus Vokal- und Instrumentallinien erzeugt dank des eigenwilligen Instrumentariums oft betörende, immer originelle Effekte.

Das Zusammenwirken von Sängern und Bläsern im Gottesdienst hat übrigens eine lange Tradition, an die auch Anton Bruckner bei der zweiten seiner drei Messen anknüpfte. Sie war für die Einweihung des ersten Bauabschnitts des neuen Linzer Doms gedacht, kam aber - weil dessen Fertigstellung sich verzögerte - erst zur Uraufführung, als der Komponist bereits nach Wien übersiedelt war.

Im Fall der Messen hätte sogar Strawinsky zugeben müssen, daß die drei Vertonungen des Ordinariums, die Bruckner vorgelegt hat, einander gar nicht ähneln. Die e-Moll-Messe unterscheidet sich von den Schwesterwerken in d-Moll und f-Moll schon durch die karge Besetzung und durch den vergleichsweise spröden Klangstil, der - wie später ganz ähnlich bei Strawinsky - auf die Hochzeit der niederländischen Vokalpolyphonie zurückzugreifen scheint.

Glasklare Intonation heikler Harmonik

Zwischendurch aber herrscht jener harmonische Reichtum, den der Wagner-Verehrer Bruckner schon kultiviert hatte, und der ihn bald als Symphoniker zu einem der progressivsten Meister seiner Zeit stempeln sollte.

Der Rundfunkchor und das Rundfunkorchester Berlin unter Gijs Leenaars erbringen auf dieser Neuaufnahme eine meisterliche Leistung, blitzsauber in der Intonation und durchaus stimmungsvoll in den Passagen, die - bei beiden Komponisten - von inniger Versenkung in den Text künden.


27. Juli



Zwischentöne

Was die Festspiele mit einem Wanderzirkus zu tun haben


Wenn Bayreuth nicht spielt, weiß sich der Wagnerianer mit Lektüre zu helfen: »Wagners vergessener Prophet« Angelo Neumann kam zu Ehren.

Als Ersatz für die Bayreuther Festspiele, die dieser Tag eröffnet worden wären, kommt heuer ein neues Buch gerade recht. Von Josef (»Angelo») Neumann (1838 -1910) wußte man bestenfalls, daß er viele Jahre lang dem »Deutschen Theater« in Prag zur Hochblüte verholfen hat. Und daß er noch zu Lebzeiten Wagners mit dem »Ring des Nibelungen« auf Europareise ging.

Jurist und Musikwissenschaftler Heinz Irrgeher hat nun die erste Biographie jenes musikalisch-theatralischen Energiebündels veröffentlicht, dem es gelang, dieses Wahnsinnsprojekt zu realisieren.

So gut wie jedes Detail mußte für Irrgehers Diplomarbeit, auf der dieses Buch beruht, neu recherchiert werden. Das beginnt mit dem Geburtsort, einem kleinen Dorf in der Nähe Pressburgs, des damaligen Pozsony in der ungarischen Reichshälfte.

Wie sein bedeutend jüngerer Kollege Gustav Mahler, in dessen Kapellmeisterleben er eine Rolle spielen sollte, war Neumann aus Karrieregründen Konvertit. Seine Herkunft schadete freilich nicht einmal seinem guten Kontakt zu Bayreuth. Richard Wagner und die besonders antisemitischen Seinen wußten ja auch im Fall des »Parsifal»-Uraufführungs-Dirigenten, Hermann Levi, was sie jüdischen Interpreten zu verdanken hatten.

Neumann, der es tatsächlich schaffte, die gesamte Nibelungen-Tetralogie auf einer Gastspielreise europaweit bekannt zu machen, war als Besucher der Wiener Hofoper zum glühenden Wagnerianer geworden. Als Kapellmeister in Wagners Geburtsstadt Leipzig, deren Bürger noch gar nicht von ihrem Landsmann eingenommen waren, brachte er den »Ring« - gegen Widerstände und Quertreibereien 1878, also nur zwei Jahre nach den Premieren zur Erstaufführung außerhalb Bayreuths.

Schwiegerpapa Franz Liszt richtete Wagner brieflich aus: »Neumann hat seine Sache teilweise sogar besser gemacht als Du in Bayreuth.«

Fesselnd zu lesen dann, wie Neumanns logistisches Geschick Sonderzüge auf Schiene brachte, die Sänger, Musiker und Dekorationen durch die Lande führten. Während eine Aufführung lief, rollten die Waggons der vorangegangenen schon zum nächsten Spielort.

Von Breslau (September 1882) fuhr der »Wagner-Zug« über Posen, Königsberg, Danzig, Hannover, Hamburg und, und, und bis nach Mailand, Triest, Budapest und Graz.

Schon weil nie wieder jemand so etwas zuwege bringen wird, war es wichtig, Neumanns Biographie zu schreiben. Daß Irrgeher seine Recherchen, wie damals 350.000 Menschen zu Wagnerianer wurden, auch noch launig lesbar zu Papier gebracht hat, macht sein Buch zur Pflichtlektüre (Leipziger Universitätsverlag).


25. Juli



Vier Mal Wissen, Humor, Musik


Veranstaltungen. Der »Presse«-Musiksalon findet im heurigen Herbst gleich an vier Abenden statt.

Wie viele andere Veranstaltungen in den Bereichen Kunst und Kultur mußten auch zwei Termine des »Presse»-Musiksalons aufgrund der aktuellen Situation abgesagt werden.

Damit Musikliebhaber aber auch in diesem Jahr voll auf ihre Kosten kommen, konnte Ersatz für diese beiden Termine gefunden werden - damit wird der »Presse»-Musiksalon 2020 zu einem Herbst-Highlight mit vier Terminen. Um die Sicherheit aller Gäste zu wahren, werden nicht mehr Karten als ursprünglich geplant verkauft. Auch bietet der großzügige Konzertsaal im MuTh genug Platz, um sicheren Abstand gewährleisten zu können. Einige wenige Abonnements dafür werden aber noch vergeben.

Was spielts? Und vor allem: Was ist wirklich sehens- und hörenswert - und warum? Das wird auch im Herbst wieder der renommierte Musikwissenschaftler und »Presse»-Musikkritiker Wilhelm Sinkovicz in »seinem« Musiksalon erklären, der den Gästen immer höchst unterhaltsame und tiefsinnige Vorschauen auf das bevorstehende Musikprogramm präsentiert. Dabei geht er auf die Highlights des Wiener Musikprogramms ein, plaudert über aktuelle und zukünftige Stars, erläutert Hintergründe und Zusammenhänge und kommentiert mit viel Wissen und Humor. Eindrucksvolles Bild- und Tonmaterial ergänzt diese lehrreichen und unterhaltsamen Veranstaltungen - und bei einem Glas Wein findet man sich dann im Dialog.

Mit dem MuTh - dem Konzertsaal der Wiener Sängerknaben - hat der Musiksalon ein interessantes Zuhause und eine Location mit brillantem Raumklang gefunden. Die technischen Möglichkeiten des MuTh - inklusive Riesenleinwand - schaffen das perfekte Ambiente, um Vorfreude auf die nächsten Opernpremieren zu wecken, sowie auf die vielen anderen Highlights, die Musikverein, Konzerthaus - und natürlich das MuTh - zu bieten haben.

Der Musiksalon startet jeweils um 19 Uhr, an folgenden Tagen: @KI Dienstag, 29. September 2020 @KI Dienstag, 20. Oktober 2020 (Ersatztermin statt 24.03.) @KI Dienstag, 17. November 2020 @KI Dienstag, 15. Dezember 2020 (Ersatztermin statt 28.04.)

Wer bereits ein Abonnement für den ursprünglichen Musiksalon 2020, mit fünf Terminen, hat: Diese Tickets behalten ihre Gültigkeit, es müssen keine neuen für die Ersatztermine gekauft werden.



23. Juli



Das ist erst der ganze Prokofieff


Klaviermusik und Lieder. Pianist Vadym Kholodenko und Mezzosopranistin Margarita Gritskova zeigen den russischen Meister der Moderne auch von ganz ungewohnten Seiten.

Sergej Prokofieff gehört unzweifelhaft zu den bedeutendsten Vertretern der musikalischen Moderne. Doch ragt nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs aus der Fülle seines Schaffens ins Bewusstsein der Musikwelt. Einige wenige Werke sind populär geworden und werden viel gespielt. Aber die Auswahl der Stücke, die es ins Repertoire geschafft haben, ist recht einseitig und vermittelt kein universales Bild dieser vielschichtigen Komponistenpersönlichkeit.

Gleich zwei neue CDs sind nun in den Handel gekommen, die hier Abhilfe schaffen können. Sie bieten sozusagen spannend zu absolvierende Hör-Crashkurse in völlig verschiedenen Genres.

»Das ist ja ein wildes Tier!»

Da ist einmal ein Solo-Recital des 1986 geborenen Pianisten Vadym Kholodenko, das ausgehend von der viel gespielten Klaviersonate Nr. 6 in einem Rückblick das Terrain von Prokofieffs Pianistik erobert, über seltsam verrätselte »Dinge an sich« op. 45 und verschmitzte Stilübungen op. 32, die in einen verträumten Walzer münden, um zuletzt den kurzen, ironischen Bagatellen das Feld zu räumen, die Prokofieff noch in seiner Bürgerschreck-Ära »Sarkasmen« taufte.

»Das ist ja ein wildes Tier«, rief ein Hörer während der Uraufführung des Zweiten Klavierkonzerts, 1913, und brachte damit die Meinung mancher wegen der wilden Dissonanzballungen in dieser Musik empörter Musikfreunde auf den Punkt.

Doch es gibt auch einen anderen Prokofieff, einen der größten Melodiker des 20. Jahrhunderts, den Kholodenko in Momenten des Klavierwerks aufspürt, wo man es gemeinhin nicht für möglich erachtet. Gewiss, nicht alles gelingt auf dieser CD mustergültig, die gefürchteten Quintolen im Scherzo der Sonate op. 82 sind nicht ganz ebenmäßig. Doch die klangliche Differenzierung und artikulatorische Finesse des Spiels hebt kontrapunktische Schichtungen ans Licht, die rasantere Interpreten in der Regel völlig »überspielen».

Märchenerzähler und Lyriker

Chronologisch führen uns Margarita Gritskova und ihre Klavierpartnerin Maria Prinz durch Prokofieffs Liedschaffen. Was in Kholodenkos Klavier-Aufnahmen sozusagen subkutan wirksam ist, wird hier zum Ereignis: Prokofieffs Sinn für Melodie. Zwar finden sich auch unter den Vokalkompositionen Beispiele für den »sarkastischen« Prokofieff, doch der Meister des Musikmärchens »Peter und der Wolf« erzählt auch die Geschichte vom »hässlichen kleinen Entlein« liebevoll in allen Details - Gritskova und Prinz machen daraus ein kleines vokal-pianistisches Kabinettstück.

Doch da sind vor allem auch ausdrucksvolle Gesänge auf expressionistische Gedichte von Balmont und im Gegenzug Vertonungen der glasklaren Lyrik Anna Achmatovas. Sie war damals, 1916, eine der Zukunftshoffnungen im russischen Kulturleben; und Prokofieff suchte Abwechslung von den eruptiv-unbarmherzigen Klängen seiner Arbeit an der Oper »Der Spieler». »Endlich glauben die Menschen nun, daß ich auch lyrische Musik schreiben kann«, freute er sich nach der Uraufführung des Achmatova-Zyklus, den Gritskova und Prinz inmitten ihrer Prokofieff-Auswahl leuchtkräftig realisieren.

Der Meister bewegte sich also in längst erobertem Terrain, als er nach seiner »Heimkehr« unversehens in die Mühlen des stalinistischen Kulturterrors geriet: Für den verordneten »sozialistischen Realismus« fand er daher auch höchst eigenwillige, unverwechselbare Töne.

Auch die Musik aus der Sowjet-Ära klingt vor allem einmal - nach Prokofieff . . .


22. Juli



Er war der sensibelste der Walzer-Brüder


Gedenktag. Heute vor 150 Jahren starb Josef Strauß. Der Ingenieur, der zur Musik quasi genötigt worden war, beschwor »Delirien« im Dreivierteltakt und dirigierte zündende Offenbach'sche Operettenklänge so gern wie Wagners »Tristan».

Josef Strauß? Man weiß, der mittlere der Wiener Walzer-Brüder war studierter Ingenieur und vom älteren Johann, dem »Walzerkönig«, quasi zur Musik genötigt worden. 1853 mußte er als Einspringer die Strauß-Kapelle leiten. Es war die Ära des mühsamen Aufschwungs nach der Revolution. Aber das Geschäft mit dem Dreivierteltakt war schon einträglich.

Auch wenn er damals auf dem Hernalser Kirtag seinen Walzer »Die Ersten und Letzten« nannte - es blieb nicht dabei. Das Debütstück mußte bei der Uraufführung sechsmal wiederholt werden. Grandiose, feinsinnig instrumentierte Tongemälde wie die »Delirien«, die »Sphärenklänge«, sollten folgen. Und die »Dynamiden«, deren Melodie Richard Strauss (nicht verwandt!) in den berühmten »Rosenkavalier»-Walzer verwandeln würde.

Der geigende Ingenieur

Aber zunächst fiel Josef nicht weiter auf. Bald nach seinem Debüt hatten alle ohnehin nur noch Augen und Ohren für eine Nachricht: Der junge Kaiser hatte sich mit der noch jüngeren Elisabeth Amalie Eugenie, Herzogin in Bayern, verlobt. Die »Sisi»-Legende lag in den Geburtswehen. Johann Strauß animierte im September schon wieder gewohnt schmissig als Vorgeiger seine Musikanten.

Der Bruder war vorerst noch kein Thema. Wiens oberster Stilhüter Eduard Hanslick sorgte sich vielmehr um »bedenkliche« Annäherungen von Johanns neuesten Walzern an die musikalische Moderne Marke Liszt und Wagner. Er sprach von »Walzerrequiem« und konnte nicht ahnen, was der jüngere Bruder des Walzerkönigs im Talon hatte!

Der Sommer 1856 markierte die Zäsur im Leben des gelernten Technikers Josef Strauß. Mittlerweile hatte er sich im Violinspielen so perfektioniert, daß er wie sein Bruder mit der Geige in der Hand vor sein Orchester treten konnte. Johann war erstmals monatelang auf Gastspielreise: Die russische Eisenbahngesellschaft hatte ihn mit immensen Gagen-Angeboten nach Pawlowsk bei St. Petersburg gelockt.

Derweilen formte Josef Strauß in Wien Programme nach seinem Sinn - und der stand nach musikalischer Revolution: Bei den Konzerten im Volksgarten stellte er vor eigenen Walzer- und Polka-Kreationen Franz Liszts Tondichtung »Mazeppa« und Ausschnitte aus Wagners »Lohengrin« vor, der für die Musikfreunde der Stadt noch völlig unbekannt war!

2000 Menschen waren gekommen und jubelten. Mitten unter ihnen Franz Liszt, der auch der Uraufführungsdirigent des »Lohengrin« in Weimar gewesen war - und gerade in Wien weilte, um zum 100. Geburtstag des Komponisten ein Mozart-Fest auszurichten.

Es wiederholte sich, wovon einst Wagner und Hector Berlioz bei vergleichbar »fortschrittlichen« Konzerten von Johann Strauß Vater geschwärmt hatten: Ein Komponist erlebte die perfekte Wiedergabe seines Werks. Die Strauß-Kapelle war dank akribischer Probenarbeiten das sicherste, das präziseste Orchester der Stadt.

Kein Wunder, daß Josef 1858 erstmals auch zu einem Hofkonzert in Schloss Schönbrunn gebeten wurde; und daß er mit seiner »Kapelle«, die in Wahrheit ein vollwertiges Symphonieorchester war, 1860 im Volksgarten erstmals Ausschnitte aus Wagners »Tristan und Isolde« präsentieren konnte.

Das Unmögliche wird möglich

»Tristan»! Das Werk galt damals als »unaufführbar». Die Hofoper versuchte sich erst zwei Jahre später an dieser Ikone der musikalischen Moderne - und scheiterte kläglich. Der Versuch, die Uraufführung für Wien zu sichern, mußte nach 77 Proben abgebrochen werden.

Josef Strauß hatte in der Zwischenzeit nicht nur die Erstaufführung einiger Ausschnitte aus dem Werk dirigiert, sondern 1861 sogar das von ihm erstellte »Tristan»-Arrangement in Anwesenheit von Richard Wagner wiederholt.

Übrigens stand auch Musik von Giuseppe Verdi - von der Kritik nicht minder herablassend behandelt als Wagner - auf den Spielplänen der Strauß'schen Soireen, ebenso natürlich die spritzigen Melodien von Jacques Offenbach, dessen Operetten damals gerade in Johann Nestroys Carltheater das Publikum eroberten. Von Operettenkompositionen waren die »Sträuße« damals noch weit entfernt.

Was Josef betrifft, kam es überhaupt erst posthum zu theatralischen Anverwandlungen: 1903 hatte die Operette »Frühlingsluft« Premiere, die Ernst Reiterer nach dem Vorbild des auf Johann-Strauß-Melodien aufbauenden Pasticcios »Wiener Blut« nach Walzer- und Polka-Themen von Josef Strauß arrangiert hatte.

Die heikle und nicht immer geschmackvolle Praxis, bestehende Melodien zu textieren, feierte in jener Ära fröhliche Urständ. Manche Eingebung von Josef Strauß erlangte Volkslied-Status: »Es muß ein Stück vom Himmel sein« textete Werner Heymann auf die Musik von »Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust». Und ein Lied wie »Wann i amal stirb«, das Friedrich Gulda so unvergleichlich interpretiert hat? Kaum jemand weiß, daß der in den Ausgaben als Autor genannte Carl Rieder seinen Text dem Josef-Strauß-Walzer »Flattergeister« unterlegt hatte . . .

Das war der Gegenpol zu den feinsinnigen Arrangements zeitgenössischer Meisterwerke, die Josef für seine Kapelle anfertigte. Über das Notenarchiv herrschte bald Zwietracht zwischen den Brüdern. Nach Josefs Tod wachte Johanns Ehefrau, Jetty, eifersüchtig über die Schätze, vor allem, um den jüngsten Bruder, Eduard, daran zu hindern, sie zu »plündern». Dieser hat sich als letzter Überlebender gerächt und das gesamte Material verheizen lassen, um »von zwei Uhr nachmittags bis sieben Uhr abends« im Lehnstuhl vor dem Ofen sitzend der »Straußdämmerung« zuzuschauen.

Josef war schon 1870 gestorben. Am Sterbelager der geliebten Mutter war er im Februar dieses Jahres zusammengebrochen, kränkelnd trat er seine letzte Konzertreise an - und stürzte in Warschau vom Podium; so die offizielle Version. Eine andere wurde von den Zeitungen immer wieder verbreitet: Josef Strauß, hieß es da, sei Opfer einer Gruppe betrunkener Offiziere geworden, die von ihm nächtens ein Ständchen forderten. Seine Weigerung hätte man mit einem Fenstersturz quittiert.

Aufgeklärt wurde der Fall nie. Nach offiziellen Berichten hat Bruder Johann den Sterbenden nach Wien geleitet, der am 22. Juli 1870 den Verletzungen erlag.

Seine Witwe führte, trotz untertäniger Bittbriefe der Tochter an Johann Strauß' Gattin, ein Hungerleiderdasein und starb, völlig verarmt, im November 1900 in Hainfeld. Im Sande verliefen bald alle Bemühungen, Josef, dem sensibelsten der »Sträuße«, ein Denkmal zu setzen. Der rechte Ort war mit dem Volksgarten längst gefunden . . .


20. Juli



Identität gesucht - liebevoller Prinzipal ersehnt


Volksoper. Die Bewerbungsfrist für die Nachfolge Robert Meyers ist zu Ende. Ob in diesem Lande jemand erkannt hat, was die Frage einer Neubestellung des Direktorenpostens in Wiens Haus am Gürtel für das Musikland bedeutet?

Die Frist ist um. Bis zum Wochenende konnten sich Interessenten für die Leitung der Wiener Volksoper bewerben. Wer da meint, ein Wagner-Zitat im Zusammenhang mit diesem Haus sei unpassend gewählt, irrt: »Der fliegende Holländer« steht in der kommenden Saison auf dem Spielplan. Womit die Liste der anstehenden Probleme schon beginnt.

Die Volksoper hat nämlich ein Problem. Das ist, daß sie kein Problem hat. Und zwar so lang nicht, wie Langzeit-Direktor Robert Meyer sich selbst, den beliebten Schauspieler, so oft wie möglich engagiert.

Die Volksoper existiert in Wahrheit aber gar nicht mehr. Steht der Direktor nicht selbst auf der Bühne, wüsste keiner mehr zu sagen, welche Rolle dieses Haus im Wiener Kulturleben überhaupt spielt.

Der »fliegende Holländer« ist ein Symptom dafür. Der Opern-Spielplan des Hauses am Gürtel besteht zu weiten Teilen aus Werken, die im großen Schwesterhaus an der Ringstraße zum Festbestand des Repertoires gehören. 2020/21 - Gott geb's, daß überhaupt gespielt werden kann - gibt es in der Volksoper neben Wagner noch Puccini und Verdi: und zwar »Turandot« sowie »Rigoletto« und »Traviata»; und das auf Italienisch. Von Verdi wird man in deutscher Sprache »Die Macht des Schicksals« in einer konzertanten Version erleben. Wie sinnvoll das ist, darf diskutiert werden.

Großes Repertoire? Ja, aber auf Deutsch

Die gute Gepflogenheit, Meisterwerke des Repertoires auf Deutsch einzustudieren, übt man nur bei »Carmen« und Brittens »Tod in Venedig». Eine eigenwillige Mixtur aus Deutsch und Italienisch bietet man bei Mozarts »Don Giovanni».

Da müsste ein sinnvolles Konzept für eine gedeihliche Volksopern-Zukunft ansetzen: Selbstverständlich kann man beliebte Stücke an beiden Wiener Opernhäusern spielen - oder, wie es bei der »Zauberflöte« schon vorgekommen ist, an allen dreien - nur: Dann bedürfte es einer verpflichtenden Koordination. »Traviata« in der Originalsprache in zwei Wiener Häusern ist pure Geldvernichtung.

Noch dazu, wenn am Gürtel die eigentliche Aufgabe nicht wahrgenommen wird, die einst imagebildende »Spieloper« in Ehren zu halten: Davon blieb 20/21 Lortzings »Zar und Zimmermann». Was in diesem Genre brachliegt, füllt Bände: von E. T. A. Hoffmann (»Undine») über Nicolai und Flotow bis zu Cornelius (»Barbier von Bagdad») und Hugo Wolf (»Corregidor») - und in der Nachfolge der Gattung über Kienzl, Zemlinsky, d'Albert etc. bis zu deutschem Verismo.

In diesem Haus genossen einst Stücke von Wolf-Ferraris »Vier Grobianen« bis Blachers »Preußischem Märchen«, von Weinbergers »Schwanda, der Dudelsackpfeifer« bis Prokofieffs »Liebe zu den drei Orangen« Heimatrecht. Bis in die Achtzigerjahre standen, gefühlt, mindestens doppelt so viele Titel pro Saison auf dem Programm wie heute. Freilich bei intakter Ensemblestruktur.

Daß die Volksoper in dieser Hinsicht vollkommen blind geworden ist, hat die Wiener Opernszene verarmen lassen. Zumal auch das Theater an der Wien die Kunst der Repertoire-Verdoppelung und -Verdreifachung ohne Rücksicht übt.

Dieses »Opernhaus der Stadt« Wien geht überdies demnächst in die Hände eines genialischen Regie-Narziß. Bezugnahme auf Befindlichkeiten einer »Wiener Dramaturgie« ist dort also nicht zu erwarten.

Korrektur des Spielplans

Bleibt die letzte Hoffnung: Die Entscheidungsträger finden unter den Bewerbungen die eine oder andere vor, die für die Volksoper ein unverwechselbares Profil jenseits direktorialer Selbstdarstellung garantieren, einen Prinzipal, eine Prinzipalin, die für ihre Künstler da sind und sich liebevoll um deren Fortkommen bemühen.

Nebst der dringenden Korrektur des Opernspielplans gehört dazu ja die nicht gerade leichte, aber zentrale Übung, dem Haus seinen Stellenwert als erste Operettenbühne des Landes zurückzuerobern.

Die Formung eines wendigen jungen Ensembles, überhaupt Fragen der musikalischen Kompetenz bedürfen der dringenden Intervention. Die kann nur gelingen, wenn ein vielfältiger Spielbetrieb dieses Ensemble konsequent fordert, nicht, wenn wie derzeit ein unseliges Semi-Stagione-System das Angebot an Titeln drastisch reduziert und ein allzu großes Schwergewicht auf dem Musical liegt. Die fehlende Balance wiederherzustellen wäre die wichtigste Aufgabe.

Ob es eine türkis-grüne Kulturpolitik gibt, die nach dem roten Kahlschlag verantwortungsbewusst in die Zukunft schaut?


20. Juli



17

Zwischentöne


Wir brauchen sie, die sogenannten schlechten Plätze


Alle architektonischen Bemühungen um Häuser, in denen alle demokratisch-gleichberechtigt gut sitzen sollten, waren zum Scheitern verurteilt.

Zeit zum Umdenken. Kein Mensch kann sagen, ob wir in absehbarer Zeit zu einem »normalen« Kulturleben zurückkehren können. Oder ob es nach der Pandemie überhaupt je wieder so sein wird wie zuvor.

Zu dieser »Normalität« würde das gemeinschaftliche Erlebnis gehören, im Theater, im Konzertsaal. Angesichts des kleinen Häufleins Aufrechter, die zuletzt in den riesigen Hallen der Staatsoper oder des Musikvereins den Sonderkonzerten beiwohnen konnten, erinnerte ich mich an die Diskussion um die sogenannten schlechten Plätze.

Die gab es in allen alten Theatern und in den Konzertsälen. Und es hat sich immer wieder herausgestellt, daß alle architektonischen Bemühungen um Häuser, in denen alle demokratisch-gleichberechtigt gut sitzen sollten, zum Scheitern verurteilt waren. Schubladen-Häuser wie die Deutsche Oper Berlin oder die Opera Bastille in Paris - um nur zwei Beispiele zu nennen - »klingen« nicht.

Warum, könnten nur Akustiker erklären, die aber regelmäßig scheitern, wenn ihre Theorien in die Praxis umgesetzt werden. Die besten Häuser hat man gebaut, als es noch keine Akustiker gab. Und in diesen Häusern kommen nicht nur die Stimmen gut zur Geltung, es kommt auch Stimmung auf. Ob das etwas mit den »schlechten Plätzen«, den hinteren Logensitzen, dem »Juchhe« auf der Galerie zu tun hat, kann ich nur vermuten.

Die Mischung muß offenbar stimmen. Wie gesagt, ob wir die in absehbarer Zeit wieder ausprobieren können, steht in den Sternen. Ein Salzburger Festspielhaus wird ja auch armselig leer aussehen, wenn 1000 Leute darin sitzen. Immerhin dürfen sie das ab 1. August vielleicht wieder.

Am wenigsten gefährdet von Restriktionen sind im Moment jedoch Freiluftveranstaltungen - vom Salzburger »Jedermann« bis zu kurios anmutenden Neo-Festivals, die noch vor wenigen Wochen völlig undenkbar gewesen wären; man spielte Wagner in Nikolsburg und Beethovens »Fidelio« in den Kasematten von Graz.

Und es sind allüberall Weltstars mit von der Partie: Im Amfiteatr Mikulov begegnet man Rene Pape oder Günther Groissböck wieder, in Graz gibt sich Sir Bryn Terfel die Ehre, an der Seite von Peter Seiffert!

Und es gibt ein Wiederhören mit Reiner Goldberg, einst Bayreuther Siegfried, jetzt der »erste Gefangene»! (20., 22. und 23. August - Informationen unter: www.spielstätten.at)

Und nicht zu vergessen: Das Streaming von Musik und Musiktheater feiert fröhliche Urständ. Das findet auch schon in Preisverleihungen Niederschlag. Im Zuge der Verleihung des österreichischen Musiktheaterpreises wird heuer ein Medien-Sonderpreis an Günther Groissböck vergeben: Für seine internationale Tätigkeit als österreichisches Aushängeschild - und das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, daß er bei Auftritten wie jenem Live-Stream aus der Staatsoper, bei dem er erstmals Fragmente seiner Wotan-Deutung präsentierte, so gute Figur gemacht hat . . .

 


14. Juli



Klein-Bayreuth liegt im Weinviertel


Wagner-Festival. Der Tenor Peter Svensson wird zum Impresario: Als Antwort auf die vielen Festspiel-Absagen angesichts der Pandemie spielt er den »fliegenden Holländer« und »Tristan».

Unmittelbar an der österreichischen Grenze liegt das tschechische Städtchen Nikolsburg, das in den kommenden Wochen zu einer Art Klein-Bayreuth mutieren wird. Im nicht einmal fünf Kilometer vom Grenzübergang Drasenhofen entfernten »Amfitheatr Mikulov« findet ab 2. August erstmals ein sogenanntes Weinviertler Wagner-Festival statt. Der Tenor Peter Svensson hat es, so sein Kompagnon Matthias Fletzberger, »aus dem Boden gestampft». Und zwar als Antwort auf die Coronakrise und deren desaströse Auswirkungen auf den internationalen Festspielbetrieb.

Die auf den ersten Blick verrückt wirkende Idee entpuppte sich rasch als erstaunlich tragfähiges Konzept für eine Veranstaltungsserie, die mit einem Galakonzert beginnen wird und dann Aufführungen von Wagners »Der fliegende Holländer« und »Tristan und Isolde« bieten soll.

»Das ist toll, daß ihr anruft«, beschreiben die Initiatoren die Reaktion eines berühmten Wagner-Interpreten, »ich sitze nämlich völlig untätig hier herum.« Kein Geringerer als Rene Pape war es, der so reagierte.

Pape wird alternierend mit Günther Groissböck den König Marke in den »Tristan»-Aufführungen singen, die Fletzberger am 13., 15., 17. und 19. August dirigiert. Die Veranstalter können also große Namen auf ihre Plakate schreiben. Und daß Groissböck mit von der Partie ist, holt tatsächlich ein wenig vom Bayreuther Geist ins mährisch-österreichische Grenzland. Wird doch mit Groissböck jener Mann auf der Nikolsburger Freiluftbühne stehen, der heuer bei den Wagner-Festspielen als Wotan in der geplanten, nun auf 2022 verschobenen Neuinszenierung der »Ring»-Tetralogie gesungen hätte.

Neo-Intendant Peter Svensson gibt alternierend mit Daniel Kirch den Tristan, Martina Serafin und Magdalena Anna Hofmann wechseln einander als Isolde ab. In »Der fliegende Holländer« bietet man als Festspielstars Interpreten wie Tomasz Konieczny, Franz Hawlata oder Anna Gabler, alle miteinander staatsopernerprobt.

Den Dirigentenstab übernimmt an einigen Abenden Fletzbergers junger ungarischer Kollege Levente Török, derzeit Erster Kapellmeister des Opernhauses Ulm.

In ungewohntem Ambiente

Török hat schon Erfahrungen mit Wagner-Festivals an ungewöhnlichen Orten sammeln können: 2014 war der 1993 geborene, in Wien ausgebildete Künstler Assistent bei der »Lohengrin»-Einstudierung in Wels.

Siegwulf Turek entwirft für beide Produktionen die Bühnenbilder. Regie führen Isao Takashima (»Holländer») und Edmund Emge (»Tristan»). Und damit die Sache richtig grenzüberschreitend wird, bekommt das nahe gelegene Poysdorf seine Wagneriade: Intendant Svensson führt ein Sängerensemble in einem Konzert unter dem Titel »Best of Wagner«, begleitet von einem Kammerorchester »Corona Style». Fletzberger, der den Abend musikalisch leitet, weiß zu berichten: »Wir haben das ausprobiert und es ist faszinierend, wie wunderbar Wagner klingt, auch wenn nur 23 Musiker spielen!»

Die Probe aufs Exempel können Wagnerfreunde am 7. und 8. August (20 Uhr) in Poysdorf machen. Und die jüngsten Musikbegeisterten, die bald richtige Wagnerianer sein möchten, kommen ebenfalls auf ihre Rechnung. Das neue Festival denkt auch an die Kinder und bietet in Poysdorf am 8. und 9. August (jeweils um 11.30 und 14.30 Uhr) »Siggis Abenteuer«, eine Produktion von oper@tee.

Nicht nur Wagner gibt's übrigens zur Eröffnung am 2. August, bei der auch Valentina Nafornita, Daniela Fally und die Brüder Edelmann mit von der Partie sind.

Info: www.weinviertler-festspiele.com


13. Juli



Zwischentöne


Der bayrische Dramatiker mit dem Hang zur Antike


Daß die Musikwelt auf den 125. Geburtstag von Carl Orff »vergessen« hat, ist kein Zufall. Dessen »Carmina Burana« spielt sie quasi »trotzdem».

Es hat nicht des Coronavirus bedurft, daß Carl Orff nicht gefeiert wurde. Des Komponisten Geburtstag jährte sich dieser Tage zum 125. Mal - aber jenseits von seiner Heimatstadt München waren Gedenkfeiern oder gar Aufführungen von Orffs Werken nirgendwo geplant.

Abgesehen von den »Carmina Burana«, versteht sich, die nicht wegzudiskutieren sind aus den internationalen Konzertsälen - auch durch das Argument nicht, daß dieses Werk während der Nazi-Zeit zur Uraufführung gekommen sei und der Komponist zu denen zählt, die damals nicht ausgewandert sind . . .

Außerdem hatte sich ja das pädagogisch so überaus effektive »Orff-Schulwerk«, eine von der Kraft des Rhythmus ausgehende musikalische Grunderziehung, im Dritten Reich etablieren können.

Aber sogar andere als politisch-pseudomoralische Argumente finden sich zur Genüge, um Carl Orff verdächtig erscheinen zu lassen. Seine bewußte Abwendung vom expressionistischen Stil der Zwanzigerjahre, die Entwicklung eines einzigartigen, perkussiven Stils, harmonisch auf archaischen, zyklopischen Dur- und Moll-Akkorden aufbauend, reichte bald, um ihn als »Strawinsky für arme Leute« zu denunzieren.

Dabei hatte Orff, der gewiefte Bühnenpraktiker, seine theatralisch höchst wirksame Klangsprache zur Verstärkung der szenischen Wirkung sowohl in deutschen Märchen (»Der Mond«, »Die Kluge») wie im »bairischen Stück« namens »Die Bernauerin« (zuletzt mit Sunnyi Melles und Tobias Moretti an der Volksoper) ebenso erprobt wie an musiktheatralischen Anverwandlungen antiker Texte. Die mit »Carmina Burana« beginnende Trilogie »Trionfi«, 1953 an der Mailänder Scala unter Herbert von Karajans Leitung uraufgeführt, speist sich aus mittelalterlicher Vagantenlyrik, Catull-Gedichten und altgriechischer Poesie gleichermaßen.

Im Zentrum von Orffs Schaffen stehen aber diese erotisierenden »Carmina«, vor allem deren populärer erster Teil, nur in der Publikumswahrnehmung. Für Orff galt das Antiken-Triptychon »Antigonae«, »Oedipus der Tyrann« und »Prometheus« als Hauptwerk - nach den dunklen Hölderlin-Übersetzungen (apropos Gedenkjahr!) geschaffen die ersten beiden, im griechischen Original die letzte der Tragödien - also textlich selbst für alphabetisierte deutschsprachige Normalverbraucher unverständlich alle drei . . .

Noch verwirrender Orffs letztes Werk, »De temporum fine comoedia«, 1973 in Salzburg wieder unter Karajan uraufgeführt. Da wird griechisch und deutsch gesungen, gerufen, geschrien vom Weltuntergang, bis der Teufel auf Latein um Vergebung der Sünden bittet und Stimmen (damals im Festspielhaus jene Christa Ludwigs und Peter Schreiers) Erlösung verkünden.

Schon die Textvorlagen schienen den Kommentatoren verwerflich, die reduzierte, von immensen Schlagzeuggruppen angeheizte Musik galt der Wissenschaft rettungslos unzeitgemäß. Dabei würde sie sich als ebenso immens theaterwirksam erweisen. Wenn man sie nur spielte. Wie gesagt: Nicht nur Corona ist schuld . . .


11. Juli



Die »Zeit»-Saison 2020/21 im Brucknerhaus Linz


Brucknerhaus Linz: In der Saison 2020/21 erwartet das Publikum im Brucknerhaus eine musikalische Zeitreise mit österreichischen und internationalen Spitzenensembles.

Eine tief philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema wird nicht von ungefähr am Ende des »großen Abonnements« der neuen Spielzeit stehen: Georg Friedrich Händels letztes Oratorium, »The Triumph of Time And Truth«, eine Kompilation aus ähnlichen, italienischsprachigen Werken aus den Jahren 1. Juli und 1737, versetzt mit neuen Nummern.

Notwendige Fragen

Das Werk, das Ruben Dubrovsky (16. Juni 2021) dirigieren wird, stellt so etwas wie die Summe von Händels Schaffen dar - und soll den Glauben daran festigen, daß mit der Zeit stets auch die Wahrheit triumphieren müsse.

Die notwendigen Fragen, die damit einhergehen, stellen die Programme, die in der Konzertreihe vorangehen. Lassen wir sie chronologisch nach Entstehungszeit der Werke Revue passieren: In der musikalischen Romantik war es Franz Liszt, Abbe und Lebemann in Personalunion, der immer wieder metaphysische Themen in den Konzertsaal holte: Martin Haselböck und sein Orchester Wiener Akademie konfrontieren am 7. Oktober die »Hunnenschlacht«, eine Tondichtung nach Wilhelm Kaulbachs Berliner Monumentalgemälde, mit der Symphonie nach Dantes »Divina Commedia»; und - apropos Vergänglichkeit - mit der »Orgelsymphonie« eines Liszt-Zeitgenossen, der im österreichischen Musikleben jener Epoche eine eminente Rolle spielte, den die Nachwelt aber vergessen hat: Johann von Herbeck.

Historische Konfrontation

Zwischen den Liszt'schen Tondichtungen und Herbecks Symphonie, 1866, erblickten das beliebte 1. Violinkonzert von Max Bruch und der symphonische Erstling von Peter Iljitsch Tschaikowsky das Licht der Musikwelt, er bedurfte noch einiger Revisionen, ehe daraus die endgültigen »Winterträume« wurden, die Mikhail Pletnev am 5. November mit seinem russischen Nationalorchester präsentiert.

Noch einmal elf Jahre später kam es in Wien innerhalb weniger Tage zu einer historischen Konfrontation, deren Ausgang zunächst eindeutig schien: Anton Bruckner fiel mit der Zweitfassung seiner Dritten Symphonie durch, Johannes Brahms feierte mit seiner Zweiten einen Triumph und galt den ZeitgenossInnen als größter lebender Symphoniker.

Die Nachwelt weist beiden Meistern einen gleich hohen Rang zu. Spannend, einmal die beiden Werke am selben Abend hören zu können: Markus Poschner wagt es zum Saisonstart (24. September) mit dem Bruckner Orchester. Er hat die frühere, kühnere Version der Richard Wagner gewidmeten Bruckner-Symphonie schon auf dem Programm gehabt, ebenso die später noch weiter gestraffte dritte Fassung. Diesmal erklingt in Linz jene mittlere Version, die Bruckner damals so wenig Glück gebracht hat: Am Ende der Vorstellung waren nur noch zwei Dutzend Menschen im Saal.

Große Vorbilder

Einer davon war immerhin der Teenager Gustav Mahler, der sich erbötig machte, den Klavierauszug des Werks anzufertigen - was er dann auch realisierte.

Bruckner wie Brahms blieben für Mahler die großen Vorbilder; er zog seine eigenen Schlüsse aus deren künstlerischen Lösungen des symphonischen Formproblems - und orientierte sich nicht selten auch an Musik eines Komponisten, an den im Zusammenhang mit Mahler heutzutage kaum noch jemand denkt: Peter Iljitsch Tschaikowsky spielte im Repertoire des Dirigenten Mahler eine große Rolle. Spannend, wenn im Linzer Abonnement-Zyklus nun dessen Fünfte (1888), gespielt von der Staatskapelle Weimar unter Eugene Tzigane (27. Mai), und Mahlers Siebente (9. April) mit dem Orchester der Mailänder Scala unter Riccardo Chailly miteinander konfrontiert werden.

Erstaufführungen

Musik dreier Komponisten, die eng mit Mahler verbunden waren, erklingt am 16. Dezember im Konzert der Ungarischen Nationalphilharmonie unter Zsolt Hamar: Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücke op. 16, Sergej Rachmaninows Drittes Klavierkonzert (mit Olga Kern) und die Zweite Symphonie Alfredo Casellas, die damit ihre österreichische Erstaufführung erlebt.

Ohne Mahler undenkbar wäre die Musik Dmitri Schostakowitschs, der gleich zweimal zu Ehren kommt: Am 25. Jänner musiziert Alexei Volodin mit dem RSO Prag unter Alexander Liebreich beide Klavierkonzerte, am 22. Februar dirigiert Michail Jurowski die beiden von politischen Ereignissen inspirierten, dramatischen Programmsymphonien Nr. 11 und 12.

Den Gegenpol zu Händels Betrachtungen über Zeit und Wahrheit markieren dann der Slowakische Philharmonische Chor, die St. Florianer Sängerknaben und das Bruckner Orchester mit einem von Camilla Nylund angeführten Solistenquartett unter Neeme Järvi mit Paul Hindemiths Oratorium »Das Unaufhörliche« - die Texte Gottfried Benns, die Hindemith hier vertont hat, wenden sich gegen den unbedingten Fortschrittsglauben und gegen jede Art von politischem Heilsversprechen. 90 Jahre nach seiner Entstehung erlebt das Werk am 18. März 2021 seine Linzer Erstaufführung.

8. Juli



»Don Quixotes Tod, das vergesse ich nie»


Interview. Nach 32 Jahren verläßt Thomas Angyan den Musikverein. Im Gespräch erinnert er sich an emotionale Momente.

Zweiunddreißig Jahre lang hat Thomas Angyan als Generalsekretär, später als Intendant die Geschicke der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien geleitet. Geht man mit ihm noch einmal durchs Haus, erinnert er sich an seinen allerersten Eindruck vom »Goldenen Saal». Er war noch ein Kind, als ihn die Eltern in ein Konzert mitnahmen - und es waren nicht die Karyatiden, die Klein Thomas besonderen Eindruck machten, sondern die Musik. Und das gar nicht plangemäß: »Es gab damals«, erzählt Angyan, »eine Programmänderung. Man spielte Bruckners Neunte.« Gerade kindergerecht war das nicht. Aber das sagt man ja auch von der Märchenoper »Hänsel und Gretel« von Engelbert Humperdinck. Die stand auch auf dem Kulturplan der Familie Angyan: »Das wäre mein erster Besuch in der Volksoper gewesen«, sagt Angyan, »und auch dort änderte man im letzten Moment die Vorstellung: Man gab ,La Boheme'».

Daß Angyan schon als Kleinkind mit Livemusik konfrontiert wurde, verstand sich bei der musikaffinen Familie von selbst. Und wenn auch die allerersten Versuche nicht ganz nach dem pädagogischen Plan verliefen = »die Musik hat man mir damit nicht ausgetrieben». Ganz im Gegenteil. Sie blieb seine Leidenschaft, auch während des Jusstudiums. »Ich erinnere mich noch gut an die Zeit zwischen meinen Staatsprüfungen. Da arbeitete ich in einer Bank in London. Das war 1973, und es brach die erste große Erdölkrise aus. In den Büros wurde nur drei Tage pro Woche gearbeitet. Ich hatte also viel Zeit, im South Bank Center - das Barbican gab es noch gar nicht - Konzerte zu besuchen. Die billigsten Plätze waren dort hinter dem Orchester. Da konnte ich die Dirigenten genau beobachten - und da war meine Entscheidung gefallen: Nicht die Bankenwelt, die Musik muß meine Profession werden.«

Als Rostropowitsch zürnte

Und wo hat der spätere Musikvereins-Kapitän begonnen? Im Konzerthaus! Peter Weiser brauchte damals für die Festwochen einen Assistenten. Da kam ihm der junge Thomas Angyan gerade recht. »Der Zufall wollte es, daß damals gerade Lisa Leonskaja aus der Sowjetunion emigrierte - und daß Mstislav Rostropowitsch und seiner Frau Galina Wischnewskaja bei der Ausreise aus Russland die Pässe abgenommen wurden. Rostropowitsch dirigierte damals die Festwochen-Premiere der ,Fledermaus' und spielte im Konzerthaus Bachs Cellosuiten. Ich durfte ihn betreuen.«

Das sollte sich später noch bezahlt machen. Die schlechten Rezensionen, die Rostropowitsch für sein Johann-Strauß-Dirigat erhielt, bewogen den Weltklassemusiker dazu, Wien den Rücken zu kehren: »Er meinte, er würde nie wieder hier auftreten«, erinnert sich Angyan, und tatsächlich bezeichnete es Albert Moser, Angyans Vorgänger als Musikvereins-Generalsekretär, bei seinem Abschied als größten Schmerz, Rostropowitsch nicht wieder zu einem Konzert überredet zu haben.

Angyan gelang es dann. Nach der kompliziertesten Aufgabe seiner Musikvereins-Zeit befragt, meint er: »Ich bin Rostropowitsch buchstäblich nachgefahren. Wie ich es übrigens auch bei Celibidache gemacht habe, der ja auch nie wieder in Wien erscheinen wollte. Nur, bei Celibidache mußte man nur nach München pilgern. Rostropowitsch aber habe ich bei Auftritten in Burgund erlebt, dann wieder in Cagliari, manchmal irgendwo ,in the middle of nowhere'.«

Das letzte Glissando

Steter Tropfen höhlt den Stein: »Schließlich ist Rostropowitsch zurückgekehrt und hat sogar mit Studenten der Musikuniversität im Musikverein gearbeitet.« Die Frage nach den schönsten Erinnerungen an die Intendanten-Zeit ist damit zu einem Teil beantwortet: »Richard Strauss' ,Don Quixote' unter Seiji Ozawa mit Rostropowitsch sozusagen in der Titelrolle: Da war gewiß nicht mehr alles perfekt; aber das letzte Glissando, Don Quixotes Tod, das vergesse ich nie; da läuft es mir heute noch kalt über den Rücken, wenn ich daran denke.«

Der emotionalen Momenten gab es freilich viele: »Eine der herrlichsten Erinnerungen ist Johann Strauß' ,Libelle' im Neujahrskonzert unter Carlos Kleiber. Das war ein beglückender Moment - man hatte das Gefühl, man bekommt selbst Flügel.«

Kleiber wäre einer der Wunschkandidaten gewesen, die Angyan gern öfter auf dem Musikvereins-Podium begrüßt hätte. Wobei die meisten der Big Player im internationalen Musikbusiness sich die Türklinke des Musikvereins in die Hand gegeben haben.

Angyan ist aber auch froh, daß es ihm gelungen ist, den aufstrebenden jungen Talenten eine Basis zu schaffen. »Mit dem Bau der Neuen Säle hatten wir da plötzlich viel mehr Möglichkeiten. Und es ist wirklich so, daß mir Künstler wie die Brüder Capucon immer wieder versichern, wie wichtig es für sie war, nicht nur einmal am Beginn ihrer Karriere, sondern regelmäßig bei uns aufgetreten zu sein.« Ein Engagement im Musikverein, das ist auch eine Visitenkarte.

Rechnet man die zehn Jahre dazu, die Thomas Angyan vor seiner Übersiedlung ins Intendantenbüro der Gesellschaft der Musikfreunde für die Jeunesse tätig war, konnte er mehr als vier Jahrzehnte lang die Karrieren unzähliger großer Künstler sozusagen ab ovo miterleben und mitgestalten. Daß das mit seinem Abschied vom Musikverein nun nicht zu Ende gegangen ist, garantiert sein Engagement als Vorsitzender des Kuratoriums der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung. »Da werden immerhin jährlich 3,6 Millionen Euro ausgeschüttet. Und heuer sind es im Zuge der Coronakrise noch einmal 2,8 Millionen zusätzlich: Die kommen Musikstudenten zugute, die sonst nicht imstande wären, ihr Studium fortzusetzen - und Ensembles, die um ihre Karriere fürchten müssen, weil derzeit alle Engagements auf Eis liegen.«


6. Juli



Zwischentöne


Die kundigen Musikfreunde sind Dominique Meyer dankbar


Dem scheidenden Wiener Opernchef gegenüber hat sich das sogenannte Kulturland wieder einmal »von seiner besten Seite« gezeigt.

Kein Vertreter der aktiven Kulturpolitik beim Abschied von Dominique Meyer. Bezeichnend für dieses Land auch das unsägliche Gekläffe von Leuten, »die es wissen müssen». - Selten noch hat sich die Meinung des Publikums, das dem scheidenden Opernchef minutenlange Standing Ovations bereitet hat, so weit von Kommentaren einiger Wortführer, die sozusagen »vom Fach« sind - oder sein sollten -, geschieden.

Einer erklecklichen Zahl von Rezensenten, die vermutlich nicht einmal Noten lesen können, haben ebenso »wissende« Intendanten längst erklärt: Nur die Regie könne Musiktheater heute »relevant« erscheinen lassen. Das stimmt insofern, als bei szenischen Verdrehungen aller Art tatsächlich alle mitreden können. Schon daß er sich von diesem Zeit(un)geist nicht hat abhalten lassen, einen grundlegend »musikalischen« Kurs zu steuern, sichert dem scheidenden Opernchef einen Spitzenplatz in der Rangliste der erfolgreichen Wiener Intendanten. Daß seine Einnahmen weit »über Budget« lagen, hat der Rechnungshof bestätigt. Daß das mit einem riskanten Spielplan gelang, ist bewundernswert: Wenn »Orlando« und »Die Weiden« die Bilanz nicht drücken, kündet das vom Vertrauen des Publikums.

Dieses Vertrauen ist aber nicht anders als mit künstlerischer Qualität zu gewinnen. Wegen guter Auslastungszahlen kommt ja niemand ins Haus. Schon gar nicht 30 Prozent Gäste aus dem Ausland. Deren Anwesenheit bekritteln kurioserweise dieselben Nörgler, die von mangelnder »Relevanz« reden. Dabei wäre es ja auch eine Kunst, mit irrelevanten Angeboten 200.000 Menschen pro Jahr zu einem Wien-Aufenthalt zu verführen . . .

Apropos Finanzen: Schon Meyers Vorgänger galt ja als Spar- und Rechenmeister. Er verdankte sein Amt nicht zuletzt dem finanziellen Desaster, das Claus Helmut Drese - gewiß in allerbester Absicht - an der Seite Claudio Abbados zu verantworten hatte.

Erinnern wir uns noch an Eberhard Waechters Rettungsidee, wieder an den Wiener Ensemblegedanken anzuknüpfen? Die Früchte konnte der früh verstorbene Publikumsliebling auf dem Direktorensessel nicht ernten. Aber sein Compagnon Ioan Holender wurde, indem er Waechters Konzept teilweise weiterführte, zum längstdienenden Staatsoperndirektor.

Dominique Meyer gelang es in der Folge, die Schlagkraft des Ensembles auf ein zuvor jahrzehntelang nicht mehr geahntes Niveau zu heben. Zuletzt hatte die Wiener Staatsoper anzubieten, was kein anderes Haus mehr kann: ein immenses Repertoire vom Barock bis zur zeitgenössischen Oper, regelmäßige Gastspiele aller bedeutenden Stars; aber auch eine Sängerriege, fix ans Haus gebunden, die mit diesen Stars auf Augenhöhe kommunizieren konnte.

Und nach Jahrzehnten wieder: Mozart-Opern ohne Gäste, aber auf höchstem Niveau! Daß das möglich sein könnte, wollte einst Eberhard Waechter niemand glauben. Dominique Meyer hat es realisiert. Das ist für die Wiener (und die ausländischen) Musikfreunde relevant!

Die Beweise des Gelingens liegen im Archiv des - apropos »Oper 4.0« - hauseigenen Streamingdienstes. Längst verstummt die müßigen Diskussionen, ob man zu alledem einen Musikdirektor am Hause braucht oder nicht. Es kann nichts schaden, wenn man einen guten hat. Es genügt aber auch ein Intendant, der über ein profundes Musikwissen verfügt und Stimmen liebt. Als solcher hat Dominique Meyer zehn Jahre lang das Haus geprägt, als solchen werden wir ihn dankbar in Erinnerung behalten.


5. Juli



Oper und Konzert, am liebsten mit Picknick


Der österreichische Festspielbetrieb kommt wieder in Gang. Veranstalter, die Freiluftspektakel anbieten können, sind heuer eindeutig im Vorteil.

Unter freiem Himmel dürfen sich schon wieder weitaus mehr Leute zu kulturellen Veranstaltungen zusammenfinden als zuletzt. Damit wird auch ein Festspielbetrieb im Land wieder möglich; wenn auch reduziert.

Den Auftakt markierte, wie berichtet, die Grazer Styriarte unter den Augen mancher Bundespolitiker mit einer eigens für diesen Anlass komponierten Uraufführung. Aus der geplanten szenischen Wiederbelebung von Johann Joseph Fux' »Ossqui della Notte« wurde freilich eine konzertante Präsentation von Fragmenten der Partitur.

Doch finden viele der Styriarte-Konzerte, die unter dem Motto »Geschenke der Nacht« für das diesjährige Festival angekündigt waren, statt; allerdings gekürzt, ohne Pause und vielfach in zwei oder sogar drei Tranchen.

»Schönwettergladiatoren». Auch in Gars am Kamp fiel die szenische Produktion dem Virus zum Opfer. Eigentlich wollte man in der Burgruine Bizets »Carmen« zeigen. Stattdessen bietet man bis 4. September jeden Freitag um 20 Uhr einen Mix aus Musik und Literatur. Die Spannweite reicht dabei vom Wienerlied zur Schubertiade. Intendant Johannes Wildner garantiert »ein vielfältiges Angebot an die Menschen, die im Frühjahr plötzlich die Erfahrung machen mußten, daß nichts mehr geht, und die nun langsam wieder Konzertabende genießen dürfen.«

Künstler sollten ja, so Wildner, »keine Schönwettergladiatoren sein, die nur bei günstigen Bedingungen agieren und sich bei Problemen hinter dem Ofen verstecken.«

Die Garser Veranstaltungen seien daher alles andere als ein »Ersatzprogramm«, ergänzt der Intendant, sondern »in jeder Faser von der Liebe zu unserer Burg, der Liebe zur Kultur und nicht zuletzt der Liebe zum Leben inspiriert. Die Klangburg Gars möchte zeigen: Resignation ist keine Option.«

Das meinen auch die Organisatoren in Kärnten: Der »Theaterwagen Porcia« ist bereits unterwegs und gastiert wie einst die fahrenden Komödianten auf Marktplätzen und in Strandbädern. Wie geplant, zeigt man »Dame Kobold«, hat aber das Angebot um Auftritte verschiedener Solisten und Theatertruppen der Kärntner Szene zur »Coromödie 2020« erweitert.

Kreativ reagiert auch der Schauspielchef des Salzburger Landestheaters auf die Krise: Carl Philip von Maldeghem läßt in »Elves and Errors« Figuren aus Shakespeare-Stücken in neuen Konstellationen aufeinandertreffen - und zwar im Park von Schloss Leopoldskron, der einstigen Residenz von Festspielgründer Max Reinhardt.

Halb im Freien kann ja auch das Ensemble des Badener Stadttheaters spielen - weshalb Intendant Michael Lakner eine ganz spezielle Fassung von Franz Lehars »Die blaue Mazur« erarbeitet hat, die am 31. 7. Premiere haben wird und bis 5. September in der Sommerarena auf dem Programm steht - dem Coronazeitgeist geschuldet »ohne Ballett, ohne Pause, aber mit viel Drive«, wie Lakner versichert.

Buchbinder im Park. Einen absoluten Startvorteil hat Rudolf Buchbinder: Seinem Festival in Grafenegg steht ja mit dem sogenannten Wolkenturm eine großzügige Freiluftarena zur Verfügung; umgeben von einem noch viel großzügigeren Park.

In Grafenegg reagiert man auf die immer noch kritischen Bedingungen mit einer Beschallung des gesamten Areals rund um das Schloss. Damit haben etwa beim Eröffnungskonzert am 14. August mehr Menschen als irgendwo sonst die Chance, live dabei zu sein - und dort vielleicht ein Picknick zu machen; anders als im legendären englischen Glyndebourne nicht in der Pause, denn es wird keine geben, sondern sogar während der Aufführung von Beethovens Tripelkonzert (mit dem Hausherrn, Emmanuel Tjeknavorian und Harriet Krijgh).

Solche Musikpicknicks gibt es dann mit Solisten wie Pianistin Alice Sara Ott, den Opernstars Jonas Kaufmann, Piotr Beczala, Camilla Nylund und Anna Netrebko (30. August), den Geigern Julian Rachlin, Arabella Steinbacher - und natürlich mehrmals mit Rudolf Buchbinder selbst, der als Pianist und Dirigent mit den Wiener Philharmonikern auch das Abschlußkonzert am 6. September gestaltet.


4. Juli



Die perfekte Guglhupf-Bäckerin


Nachruf. Kabarett-Legende und Nestroy-Preisträgerin Lore Krainer ist Freitagfrüh im 90. Lebensjahr in Oberwaltersdorf gestorben. Sie beherrschte den Sprachwitz nach Noten.

Zunächst einmal war sie eine singende Wirtin. Die geborene Steirerin betrieb mit ihrem Mann, einem Buffo-Tenor, den Grazer Girardi-Keller und trug dort ihre ersten kritischen Lieder vor. Und zwar so, daß Kabarett-Urgestein Gerhard Bronner an ihr nicht vorbeigehen konnte. Er wußte, was es heißt, gute Texte musikalisch griffig zu unterlegen, also wußte er auch, daß er mit Lore Krainer den dramaturgischen Motor seiner Sonntagmorgensendung »Guglhupf« gefunden hatte, eine der längstdauernden Sendereihen des ORF-Hörfunks.

Die Assoziation mit Österreichers liebstem Frühstücksgebäck bewies schon, daß man in diesem Format zwar vielleicht zeitkritisch, aber niemals mit Schaum vor dem Mund zu agieren gedachte. Man nahm die Dinge des politischen und gesellschaftlichen Lebens geradezu liebevoll aufs Korn.

Vor allem gab es immer wieder Spitzen gegen die (wohl nicht nur, aber auch) hierzulande so beliebten Abmachungen hinter den Kulissen. Daß man sich sprichwörtlich etwas ausschnapsen könnte, war im »Guglhupf« schon deshalb verpönt, weil die Runde nicht diesem Kartenspiel frönte, sondern vielmehr leidenschaftlich tarockierte.

Schottland-Tief und andere Austriaka

Das war ein Unterschied, dessen Tragweite schon Fritz von Herzmanovsky-Orlando erkannt hatte: Wer verstehen lernen will, was dieses unmögliche Österreich im Innersten zusammenhält, muß zuerst zumindest in die Anfangsgründe der geheimnisumwitterten Regeln des »Königrufens« eingeweiht werden.

Unvergesslich ist mir Krainers verächtliche Reaktion auf die Erwähnung eines Wiener Kulturpolitikers, die ich einst als zufällig am Nebentisch der Kartenrunde sitzender Kaffeehausbesucher belauschen durfte: »Der kann net Tarockieren!« Dieserart als nicht satisfaktionsfähig erkannt, war der Name des Delinquenten denn auch im nächsten Guglhupf nicht einmal der Erwähnung wert.

Das Pointensetzen beherrschte Lore Krainer perfekt. Und das hat wohl mit ihrer Musikalität zu tun. Sie war ausgebildete Pianistin und schrieb nicht nur die Texte, sondern auch die Musik ihrer Lieder selbst. En passant hat sie mir einmal auch ein Geheimnis zugeraunt, das sie für die wichtigste Regel einer effektiven Kabarettnummer hielt: Die Musik mußte immer zuerst da sein, der Text wurde einer fertigen Melodie unterlegt. Wenn er perfekt paßte, dann durfte man sicher sein: Die Botschaft wird ankommen.

»Über Schottland liegt ein Tief. Und das liegt ein bisserl schief«, haben wir uns als Hymne an die Unwägbarkeiten des Wetterberichts alle gemerkt. Daß uns die »Zeit im Bild« am Vorabend von Lore Krainers Todestag ausführlich über die katastrophalen Hitzewellen berichtete, die uns die Klimakrise beschert, während fünf Minuten später die Kollegin von der Wetterredaktion verkündete, es werde kühl, regnerisch und der Sommer ließe noch länger auf sich warten, kann kein Zufall gewesen sein. Es war höhere Fügung, hatte also allerhand mit dem schief liegenden Tief über Schottland zu tun.


1. Juli



Wo Richard Strauss Tränen zugelassen hat


Melodram. Bruno Ganz ist kurz vor seinem Tod ein letztes Mal ins Aufnahmestudio gegangen, um sich einer Rarität zu widmen: Im Verein mit dem exzellenten Pianisten Kirill Gerstein hat er »Enoch Arden« eingespielt.

Was er von dem Gedicht Lord Tennysons halte, das er da zu einem so ungewöhnlichen Melodram verarbeitet hatte, fragte man Richard Strauss. »Ja, was glaubt's ihr denn«, lautete die bajuwarische Antwort: »I schlaf' doch an mein' Flügel, wenn der Possart seine Tränerln ausdruckt». Das war typisch für den Komponisten - allzu überschwängliche Gefühlsäußerungen überließ er seinen Hörern. Und es war ein gar traurig Lied, das er da gesungen hatte.

Oder einem Schauspieler zu sprechen aufgegeben, besser gesagt, denn »Enoch Arden« war ein Melodram, Beispiel für jene Gattung, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts ihre ersten Blüten getrieben hatte: Mozart war fasziniert davon, Beethoven nutzte die Technik, um in der Kerkerszene seines »Fidelio« schaurigen Effekt daraus zu schlagen, Schönberg verspürte Lust, die Kunst wieder zu beleben, im Finale seiner »Gurrelieder« und dann, raffiniert verdichtet, in seinem »Pierrot Lunaire«, wo dem Sprecher sogar Tonhöhen vorgeben sind.

Leichter zu realisieren ist das erste der beiden Melodramen von Richard Strauss. Die Musik zu diesem eigenwilligen Verschnitt aus Odysseus und Robinson Crusoe sieht vor allem kurze Introduktionen und Zwischenspiele vor, verschwistert sich nur hie und da direkt mit dem gesprochenen Wort, das der Rezitator dann ganz frei in die Klänge integrieren darf.

Für die Karriere von Strauss waren die Tourneen mit Ernst von Possart freilich wichtiger, als er gern zugab. Komponiert während der Arbeit am »Don Quixote«, war »Enoch Arden«, vom Bayerischen Hofschauspieler zur Klavierbegleitung von Strauss rezitiert, populärer als die Tondichtungen.

Ob der Sensationserfolge des Opernkomponisten geriet das Melodram in Vergessenheit. Glenn Gould hat es wieder herausgekramt und Anfang der Sechzigerjahre in einer Schallplattenaufnahme mit Claude Rains herausgebracht - wobei der originale englischsprachige Text Tennysons Verwendung fand. In der Folge engagierten sich aber auch prominente deutschsprachige »Erzähler« für die Geschichte des schiffbrüchigen Helden und seiner hehren Selbstverleugnung: Nach der Heimkehr vermeidet es Enoch Arden, seine wieder verheiratete Frau und die Kinder, die ihn tot glauben, aus ihrem neuen Idyll aufzuschrecken.

Der große Bruno Ganz hat seine letzte Aufnahme diesem Werk gewidmet, von Kirill Gerstein mit Gefühl und dem nötigen theatralischen Impetus begleitet: Sprachkunst allerhöchster Prägung.


30. Juni



»In Wien liebt man vor allem große Stimmen»


Zum Abschied. Dominique Meyer hat zehn Jahre lang die Wiener Staatsoper geleitet. Im »Presse»-Gespräch erinnert er sich an große und dramatische Momente mit Beczaa, Netrebko und Keenlyside - und erklärt, wie er »sein« Ensemble geführt hat.

Die Presse: Wenn Ihre Direktionszeit Revue passieren lassen, erinnern Sie sich an einen besonderen Glücksmoment?

Dominique Meyer: Was mir sofort einfällt, ist zum Beispiel der Applaus nach der Premiere von Berlioz' »Trojanern». Das war nicht selbstverständlich - und ein Moment, in dem ich meine Leidenschaft für ein Stück mit dem Publikum teilen konnte. Beglückend war auch der Beifallssturm, der nach der Premiere von Janaceks »schlauem Füchslein« über Otto Schenk hereinbrach, der nach Jahren zurückkehrte.

Und im Repertoire?

Auch da gibt es viele Erinnerungen. Sehr viele. Oft ganz intime Momente; zum Beispiel, wenn unser Soloklarinettist, der Ernst Ottensamer, die Frühstücksszene im »Rosenkavalier« so köstlich gespielt hat.

Gab es auch schöne Momente, die Sie nicht mit dem Publikum teilen konnten?

O ja, zum Beispiel, als ich während einer Orchesterprobe ganz allein im Saal war und Piotr Beczaa zum ersten Mal »E lucevan le stelle« gesungen hat!

In Ihrer Ära fanden immer wieder solch spektakuläre Debüts statt . . .

Ja. Aber ich denke, das wird ein wenig überbewertet. Was ist am Ende wichtiger - ein Debüt aufs Plakat zu schreiben oder daß es eine außergewöhnliche Vorstellung gibt?

Gab es spektakuläre Debütpläne, die dann nicht realisiert werden konnten?

Nur insofern, als ich zum Beispiel Anna Netrebko gebeten hatte, die Adriana Lecouvreur bei uns zu singen - und sie meinte, sie würde das gern vorher ein paarmal in St. Petersburg ausprobieren. Das hat sie dann gemacht. Vielleicht waren die Vorstellungen in Wien dann gerade deshalb besonders gut.

Da muß ein Theaterdirektor wohl agieren wie ein Familienvater. Wie war das, wenn jemand aus dem Ensemble debütierte?

Wenn ein junges Ensemblemitglied einspringen muß, um eine Vorstellung zu retten - zum Beispiel Anita Hartig als Mimi in »La Boheme« -, da sind die Nerven zum Zerreißen gespannt. Ich sehe noch vor mir, wie sich Hartig und Valentina Nafornita, die damals die Musette war, nach der Vorstellung glücklich um den Hals gefallen sind und beide geweint haben.

Wie muß denn ein Ensemble geführt werden, damit so etwas möglich wird?

Das ist ein bisschen so wie bei der Netrebko und ihrer Adriana. Man muß den Ensemblemitgliedern auch die Möglichkeit geben, zu gastieren und sich auf große Partien vorzubereiten. Im Fall Anita Hartigs war es so, daß ich ihr sofort Urlaub gab, als sie das Angebot bekam, als Mimi in Brüssel zu debütieren. Sie wußte also schon, daß sie die Partie wirklich beherrschte, als sie bei uns dann eingesprungen ist. Was die Arbeit in Wien betrifft, haben wir mit Thomas Lausmann, dem Chef unserer Korrepetitoren, und Sabine Hödl in der Direktion unschätzbare Stützen, die sich um die jungen Künstler kümmern.

Wobei die Pianisten mit den Sängern musikalisch arbeiten. Was macht das Betriebsbüro?

Man setzt die Jungen erst einmal in kleinen Partien ein. Wenn eine sehr gut ist, wird sie von der Modistin im »Rosenkavalier« zur Papagena in der »Zauberflöte« und dann bald zum Oscar im »Ballo in maschera». So war es bei Valentina Nafornita, zum Beispiel.

Sie haben sich ja genau so intensiv um das Ballett gekümmert.

O ja. Da erinnere ich mich auch, wie das war, als ich das erste Mal bei einer Ballettvorstellung vor den Vorhang gehen mußte, um eine Ansage zu machen. Das war in der Premiere von »Schwanensee». Olga Esina hatte sich im Dritten Akt an der Wade verletzt, war aber der Meinung, sie würde den vierten Akt tanzen, und sagte: »Da wird zu neunzig Prozent das andere Bein strapaziert.« Verrückt. Sie hat es bravourös geschafft! So etwas vergisst man nicht.

Gab es auch negative Erlebnisse, die Sie in Ihre Albträume verfolgen?

Ja, apropos Ansage: Der Moment, als Simon Keenlyside eine Ader in einem Stimmband platzte und er während der »Rigoletto»-Premiere abging. Die Vorstellung wurde live übertragen. Ein Desaster! Aber vor allem war da die Angst um seine Gesundheit!

Auch da hat ja dann ein Ensemble-Mitglied, Paolo Rumetz, die Premiere gerettet - und Keenlyside kam nach seiner Pause gern wieder ans Haus zurück. Abgesehen von solchen Pannen: Gibt es etwas, was Sie anders machen würden, wenn Sie von vorn noch einmal beginnen würden?

Ein Fehler, den ich gemacht habe: Ich habe schon vor Amtsantritt nicht nur gesagt, daß mir das Ensemble wichtig sein würde, sondern daß ich daran dachte, das Mozart-Ensemble wieder aufzubauen.

Was war daran falsch?

Das Problem bei solchen Ansagen ist, daß die Leute glauben, so etwas würde dann über Nacht realisiert. Tatsächlich braucht es Zeit, ist eine lange Arbeit. Man muß viele junge Sänger hören, sie aufbauen. Dann kann gelingen, daß man sogar auf Gastspielreisen Erfolge mit Mozart-Aufführungen feiert, die so gut wie ausschließlich aus dem Ensemble besetzt sind.

Haben Sie noch etwas falsch eingeschätzt?

Ich war vielleicht ein bisschen naiv zu glauben, man würde verstehen, daß ich zuerst Lücken im Repertoire des 20. Jahrhunderts schließen wollte - Janacek, Hindemith oder Weill -, ehe wir uns dem Zeitgenössischen zugewendet haben. Das wurde heftig kritisiert, brachte aber letztendlich einen Vorteil: Das Publikum hat in der eben abgelaufenen Spielzeit nicht nur akzeptiert, daß wir innerhalb kurzer Frist gleich drei zeitgenössische Werke aufgeführt haben - Olga Neuwirths »Orlando« war restlos ausverkauft!

Die Rechnung ist also letztlich aufgegangen. Hat auch etwas nicht geklappt?

Was ich nicht mehr so machen würde: Ich hatte Künstler am Theatre des Champs-Elysees vorsingen lassen - und es stellte sich heraus, daß die akustischen Verhältnisse, obwohl die Häuser in der Größe durchaus vergleichbar sind, doch völlig andere sind. Stimmen, die dort gut klangen, erwiesen sich in Wien als nicht tragfähig genug. Vielleicht 15 Engagements meiner ersten Spielzeit würde ich heute nicht mehr machen.

Hat das nur mit Akustik zu tun oder auch mit den Vorlieben des Wiener Publikums?

Über den Wiener Geschmack habe ich natürlich viel gelernt. Zum Beispiel, daß man hier vor allem große Stimmen liebt. Auch im Mozart-Fach. In Frankreich oder England ist man da doch eher in Richtung des sogenannten Originalklangs orientiert.

Mußten Sie Ihren Kurs wechseln, oder hat sich das Publikum »erziehen« lassen?

Ich habe jedenfalls bemerkt, daß ich im Lauf der Jahre eine immer größere Zustimmung in Besetzungsfragen bekommen habe. Ich denke, man geht da vielleicht aufeinander zu.

Welcher Ihrer Vorsätze hat sich gar nicht erfüllt?

Ich hatte anfangs drei Wünsche: Ich wollte eine Probebühne, ein Streaming-System und eine Opernschule. Zwei von den dreien habe ich bekommen.

Und die Opernschule?

Das Konzept dazu war fertig. Finanzierbar waren aber nur Stipendien für junge Sänger. Das funktioniert dank der Sponsoren bis heute. Valeriia Savonskaia zum Beispiel, die in der Abschlußgala so schön die Fiordiligi gesungen hat, ist 22 und war dieses Jahr eine der Stipendiatinnen. Der Ersatz für das Studio hat also gut funktioniert, wir konnten über die Jahre etliche Stipendiaten ins Ensemble übernehmen.

Mit der Arbeit für das junge Publikum sind Sie ebenfalls zufrieden?

170.000 Kinder haben wir ins Haus gebracht. Drei Produktionen konnten wir sogar im großen Haus realisieren. Und die Walfischgasse hat sehr geholfen: Wir konnten dadurch unsere Jugendarbeit um 50 Prozent steigern.

Wie sind denn die Zahlen in Ihrer abschließenden Statistik?

Wir haben in den zehn Jahren 111 verschiedene Stücke von 47 verschiedenen Komponisten und Komponistinnen gespielt. 2126 Opernvorstellungen haben stattgefunden, dazu 38-mal die »Fledermaus« und 512 Ballettvorstellungen. Mit den Konzerten waren es alles in allem 3601 Vorstellungen.

Wie wichtig war Ihnen, daß Komponisten wie Thomas Ades und Peter Eötvös ihre eigenen Opern dirigiert haben?

Das halte ich für besonders wichtig. Verdi hat am Haus dirigiert. Richard Strauss war hier Direktor. Es waren auch schöne Erlebnisse, denn schon das Orchester reagiert anders auf zeitgenössisches Repertoire, wenn der Komponist selbst am Pult steht und sich als guter Dirigent entpuppt. Außerdem war es schön zu sehen, daß Eötvös auf meinen Vorschlag hin seine drei Schwestern nicht mehr wie bei der Uraufführung mit Countertenören besetzt hat, sondern mit drei russischen Sängerinnen aus unserem Ensemble. Hätten wir Countertenöre engagiert, wäre das eine Art Gastspielproduktion geworden. So aber haben meine drei Russinnen Eötvös auf ein paar Fehler bei der Betonung des russischen Texts hingewiesen, die er korrigieren konnte. So gibt es jetzt eine »Wiener Fassung« der »Tri Sestri».


29. Juni



Virtuoses Adieu in allen Tonlagen


Staatsoper. Dominique Meyer mußte fürs Abschiedskonzert keine Weltstars importieren. Er hat in zehn Jahren Spitzensänger für das ganze Repertoire im Ensemble vereinigt.

Wie sich die Bilder doch so gar nicht gleichen. Erinnern wir uns des Aufgebots an Weltstars, mit dem sich der vorletzte Operndirektor verabschiedet hat? Dominique Meyers Finale mutete wie eine Antithese dazu an: Zu seinem Adieu sangen (fast ausschließlich) Mitglieder des mehrheitlich sehr jungen Ensembles der Staatsoper; aber sie sangen wie Weltstars.

Das ist ein entscheidender Unterschied. An Stargastspielen mangelte es in der Ära Meyer ja weiß Gott nicht. Aber das eminente Niveau des Galakonzerts, bei dem erstmals seit dem Shutdown auch das hörbar animierte Orchester des Hauses wieder zu hören war, bewies vor allem eins: Dominique Meyer ist der Wiederaufbau eines schlagkräftigen Ensembles gelungen.

Genau das hatte er zu Amtsantritt proklamiert - und so gut wie keiner hatte geglaubt, daß es ihm gelingen würde, diese Ankündigung wahr zu machen. Ein Sängerensemble, das fähig sein sollte, (abgesehen vom Helden-Repertoire) auch die größten Partien in den Spielplan-Klassikern auf Spitzenniveau zu singen, das klang utopisch.

Und ist doch Realität geworden. Mittlerweile haben wir erlebt, wie Weltklasse-Tenöre auf Augenhöhe mit Ensemble-Mezzos Rossini sangen und daß nach Jahrzehnten die Da-Ponte-Opern vollständig »aus dem Haus« besetzt werden konnten.

Dementsprechend gipfelte der Mozart-Teil der Abschlußgala in einer launigen und sogar halbszenisch umgesetzten Darstellung des zweiten »Figaro»-Finales. Olga Bezsmertna hatte ihre innige große Arie schon zuvor gesungen und Valentina Nafornita mit einer nicht minder innigen »Rosenarie« nachgesetzt, eine Herausforderung, die Andrea Caroll als Susanna im komödiantischen Ensemble hernach mühelos annahm.

Mozart auf Festspiel-Niveau

Nebst bewährten, längst international arrivierten Familienmitgliedern wie Adam Plachetka, Chen Reiss oder Benjamin Bruns hatten zu diesem Zeitpunkt auch schon neue Namen aufhorchen lassen: die blutjunge Valeriia Savonskaia mit der (auch in der Tiefe schon perfekt sitzenden) »Felsenarie« (»Cosi fan tutte») und zwei ideale Cherubinos: Rachel Frenkel und Svetlina Stoyanova - alle miteinander (natürlich auch Adam Fischer als Animator am Pult) würden auch den Salzburger Festspielen Ehre machen . . .

Wer das für eine Übertreibung hält, sollte sich die Aufzeichnung des Livestreams zu Gemüte führen, den man zum Beweis dessen, was die Staatsoper mit Stand Sommer 2020 konnte, online stehen lassen sollte. Dann ließe sich auch nachhören, wie hinreißend Ensemble-Neuzugang Josh Lovell den Tonio (»Regimentstochter») mit beinah im Dutzend servierten hohen Cs gestaltete, wie Margarita Gritskova und Orhan Yildiz Koloraturgewandtheit mit darstellerischer Verschmitztheit in einem wahren Rossini-»Capriccio« (aus der »Italienerin in Algier») verschwisterten, wie weit Daniela Fally auf ihrem Weg vom Soubretten-Nesthäkchen zur reifen Gestalterin schon gelangt ist.

Außerordentlich: Samuel Hasselhorns butterweich phrasiertes »Lied an den Abendstern« (»Tannhäuser») im beeindruckenden Kontrast zu Tomasz Koniecznys aufwühlendem »Holländer»-Monolog. Aufregend zu hören, wie sich Anita Hartig zur waschechten Primadonnen-Größe der »Pace»-Arie (»Macht des Schicksals») aufschwingt, samtweich timbriert, doch mit der nötigen Attacke, über die auch Szilvia Vörös als Eboli (»Don Carlos») schon gebietet.

Dagegen nahm man die exzellenten Leistungen von Miriam Batstelli, Jinxu Xiahou oder Jongmin Park, weil - wie Marco Armiliatos Begleitkünste - aus zahlreichen Begegnungen bekannt, huldvoll zur Kenntnis. Man weiß um die Qualitäten und war versucht, dem Resümee der Schlußfuge aus Verdis »Falstaff« zu widersprechen: »Alles ist Spaß auf Erden« - vielleicht; aber Wien kann dank Dominique Meyer auch mit den ernstesten Opernherausforderungen umgehen.


29. Juni



Zwischentöne


Wie man ja sagt, indem man zu seinem Vorgesetzten nein sagt


Den großen Tönen der Sänger folgten ebenso fein modellierte aus Politikermund, als es galt, Wiens scheidenden Opernchef zu ehren.

Zwischentöne über Zwischentöne? Über solche, wie sie am Ende der Abschiedsgala von Staatsoperndirektor Dominique Meyer zu vernehmen waren, als Ex-Bundespräsident Heinz Fischer zu seiner Laudatio anhob.

Fischer erinnerte an die Umstände der Bestellung Meyers. Die Musikfreunde fragten: Dominique Who? So auch Fischer, als ihn die Kulturministerin Claudia Schmid über ihre Entscheidung informierte, den Intendanten des Pariser Theatre des Champs Elysees nach Wien zu holen.

Fischer ließ anklingen, daß die Ministerin sich über eine dringende Empfehlung ihres Bundeskanzlers hinwegsetzte, der einen ganz anderen Kandidaten favorisiert hatte. Um Freunderlwirtschaft zu vermeiden, hatte Schmid alle Bewerbungsschreiben genau studiert, sie hat sich informiert, wie Meyer seine bisherigen Theater geführt hatte - und sie hörte, nota bene, auf die Empfehlung der Wiener Philharmoniker, das Staatsopernorchester, das mit Meyer als Manager dank etlicher Gastspiele die besten Erfahrungen gemacht hatte.

Zwischentöne? Man kann sich als verantwortungsvoller Kulturpolitiker selbstverständlich über die Wünsche von nicht ganz so kulturaffinen Kanzlern und deren Freundeskreisen hinwegsetzen, wenn man sich für einen Kandidaten entscheidet, der über viele Jahre hin einschlägige Erfahrungen gesammelt und nachgewiesen hat, daß er imstande ist, einen Kulturdampfer vom Format der Wiener Staatsoper zu steuern.

Was auch herauszuhören ist: Dominique Meyer hat damals ein Konzept vorgelegt, dessen Ziele nachvollziehbar klangen und aus der Tradition des Hauses heraus entwickelt waren: Der Erfolg auch der zu jenem Zeitpunkt kühnen Anmutung, man wolle das Sängerensemble wieder stärken, hatte sich am Samstag zuvor anlässlich des Galakonzerts »nachhören« lassen. Niemand hätte vor zehn Jahren viel verwettet, daß dergleichen im Sommer 2020 möglich sein würde (siehe Kritik auf Seite 21 dieser Ausgabe).

Es war möglich. Und es war möglich, damit eine einzigartig hohe Auslastung zu erreichen, wobei zwei Drittel der Besucher aus dem Inland kamen. Auch die Budgetzahlen »stimmten« in der Ära Meyer. Das hat jetzt auch in der Coronakrise manches abzufedern geholfen. Kein Wunder also, daß die Mailänder Scala zugegriffen hat, nachdem Wien beschloss, diese Direktionsära nicht zu verlängern; auch das hat Heinz Fischer angemerkt. Meyer und sein exzellenter kaufmännischer Geschäftsführer Thomas Platzer wurden zu Recht zu Ehrenmitgliedern; und Meyer wurde mit minutenlangen Standing Ovations verabschiedet. Ganz ehrlich, ohne Zwischentöne und Hintergedanken . . .


27. Juni



So glanzvoll klingt Meyers Ära aus


Staatsoper. Ein »Addio« auf Raten: Mit zwei konzertanten Abenden verabschiedeten sich die Primadonna Krassimira Stoyanova und Ensemblemitglieder vom Operndirektor.
Gemeinschafts-Artikel mit Theresa Steininger
Der größte Trumpf von Dominique Meyers zehnjähriger Regentschaft an der Wiener Staatsoper war die konsequente Mixtur aus Stargastspielen und einer wiedergewonnenen Ensemblekultur. Die Größten gaben einander die Klinke in die Hand, trafen aber auf eine Gruppe von exzellenten jungen Sängern, die imstande waren, auch erste Rollen des Repertoires auf hohem Niveau zu interpretieren. Diese Mischung sichert nun auch dem virusbedingt konzertanten Ausklang einer Ära bemerkenswertes Profil. Zuletzt demonstrierte die große Krassimira Stoyanova, was eine Primadonna ausmacht: Ihre Prachtstimme scheint auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltungskraft, sie fließt samtweich, klingt in allen Regionen füllig. Vor allem gebietet sie in Höhe und Tiefe über ein vielfältiges Spektrum an Farben, die je nach Situation neu abgemischt werden können. Nur ein Schritt scheint es für die Stoyanova von der slawischen Mixtur aus Schwermut und Himmelhochjauchzen bei Tschaikowsky und Rachmaninow zum schlanken Mädchenton, den manche Lieder Puccinis erfordern, darunter mit »Sole e Amore« eine vorweggenommene Szene aus »La Boheme».

Im italienischen Repertoire hatten sich zwei Tage zuvor auch Ensemblemitglieder vorgestellt. Da beeindruckte Szilvia Vörös mit imposanter Stimme in »O don fatale« (»Don Carlo»), da gefiel Lukhanyo Moyake mit schönen tenoralen Höhen in »O figli miei« (»Macbeth»). Apropos »Don Carlo»: Großen Jubel gab es für den anfangs etwas gutturalen, später aber vollen Bass von Jongmin Park mit »Ella giammai m'amo». Voll Inbrunst servierte Samuel Hasselhorn »O Carlo, ascolta». Präzise geführt der Tenor Pavel Kolgatins und der glockenhelle Sopran Hila Fahimas in Szenen aus »Falstaff». Monika Bohinec steigerte sich in »Acerba volutta« (»Adriana Lecouvreur») zu expressivem Schöngesang. Entzückend Valentina Nafornita mit »Chi il bel sogno« (»La rondine»). Spürbar bewegt erntete Ryan Speedo Green mit »O tu, Palermo« (»Sizilianische Vesper») dank großer Stimme Jubel.

Überspielen, daß die Szene fehlt

Den Verlust der Szene überspielten die Sänger oft eindrucksvoll - etwa im Rigoletto-Quartett »Un di, se ben rammentomi«, in dem Andrea Carroll als tief getroffene, intensive Gilda Zeugin wurde, daß ihr stimmstarker Herzog (Jinxu Xiahou) der Maddalena (Zoryana Kushpler) schöne Augen machte, während Clemens Unterreiner als Rigoletto förmlich vor Wut zu zerspringen drohte.

Jinxu Xiahou und Valeriia Savinskaia bewiesen, daß man, dramaturgisch geleitet von Puccinis »Boheme»-Musik, sogar mit meterweitem Abstand das zarte Aufkeimen der Liebe spürbar machen kann. Stimmlich ist Savinskaia mit ihrem samtig timbrierten, warm strömenden Sopran eine veritable Entdeckung. Im Finale des von Luisella Germano souverän am Klavier begleiteten Abends durften Samuel Hasselhorn, Jinxu Xiahou und Leonardo Navarro nach dem Minister-Terzett aus »Turandot« Mund-Nasen-Schutz mit einem »Addio« herunterreißen und wegwerfen. »Addio« sagt am kommenden Samstag auch Direktor Dominique Meyer mit einer letzten Ensemblegala unter Marco Armiliato und Adam Fischer.

Das Konzert wird auf www.staatsoperlive.com kostenlos übertragen. Auch die eigens für das virtuelle Saisonfinale produzierte »Nurejew-Gala« ist dort noch abrufbar.


25. Juni



Das unerhörte Wagnis mit der schönen Musik


Geburtstag. Kurt Schwertsik, Ensemblegründer, Komponist, Musiker und gesuchter Lehrer, feiert heute seinen 85er.

Die Zeiten haben sich zwar gebessert, aber es ist, ehrlich gesagt, immer noch nicht so, daß der Rezensent voller Vorfreude einen Konzertsaal oder ein Opernhaus betritt, wenn eine Uraufführung angesetzt ist. Kurt Schwertsik ist einer der wenigen zeitgenössischen Komponisten, bei denen das ein bisschen anders ist.

Bei mir, um es ganz persönlich zu sagen, kam das so: Anfang der Neunzigerjahre tauchte im Rahmen des Kraut-und-Rüben-Avantgardefestivals »Wien modern« unter etlichen Novitäten eine von Schwertsik auf. Sie nannte sich »Baumgesänge« und überfiel mich, dem, frei nach Goethe, der Sinn wirklich nach »nichts zu suchen« stand, wie ein kühlender Sommerregen nach einer extremen Hitzeperiode.

Ausgerechnet zwischen den unkontrollierten, einmal weniger, dann mäßig, meist aber gar nicht anregenden, aber hochsubventionierten Elaboraten des künstlerischen Zeitgeistes hatte da einer plötzlich Lust an schönen Klängen, an dramatischen Entwicklungen derselben, und das Orchester reagierte mit entsprechend freudiger Begeisterung. Die wirkte ansteckend.

Was heißt schon Minimalismus?

Wahrscheinlich hätte eine ästhetische Diskussion über der Partitur dieser »Baumgesänge« bei mir zunächst zu instinktiven Abwehrreaktionen geführt: Das sieht doch sehr nach Minimal Music aus, was Kurt Schwertsik da aufgeschrieben hat. Deren fortwährende Dreiklangszerlegungen empfand ich allerdings noch nie als adäquate Antwort auf mein eingangs geschildertes Problem. Die klingende Realität aber verriet: Da hat einer nicht nur die Kunstmittel seiner minimalistischen Kollegen genau studiert, sondern auch die - in Wahrheit nicht viel kompolizierteren, nur viel weniger wohltönenden - der Parteigänger des immerwährenden Fortschritts.

Schwertsik ist ja durch das Fegefeuer der sogenannten seriellen Musik hindurchgegangen, die nach 1945 als allein seligmachender Weg in die Zukunft galt. Daß das Ensemble, das er mit Friedrich Cerha Ende der Fünfzigerjahre zur Pflege der zeitgenössischen Musik gründete, »die reihe« hieß, klang nicht zufällig nach zwölf Tönen.

Die ließ er bald ganz in Schönbergs Sinn »nur aufeinander bezogen« sein und freute sich nicht nur hörend an der Popmusik seiner Generation. Er verstand es - im Sinne der von ihm verehrten Meister der freizügigen französischen Moderne und des amerikanischen Vorbilds John Cage -, das ganze, breite Angebot, das ihm E- und U-Musik machten, für sich nutzbar zu machen, schrieb bald für Oper und Konzertsaal in unverblümt auch Dur und Moll einbeziehender Freizügigkeit (und wie er es seinem Freund Nali Gruber geraten hatte) die Musik, die er selber hören wollte.

Und die hört unsereiner jetzt auch gern. Weil zwischen allem, was da stilistisch gerade erlaubt oder nicht erlaubt, geduldet oder willig angenommen sein mochte, immer der Kurt Schwertsik hindurch lugt, oder schelmisch zwinkert, je nachdem. Denn er verliert ja seinen Humor nie, selbst wenn er, was er zwischendurch immer gern gemacht hat, politische Botschaften serviert.

In aller Regel bleibt am Ende doch der Spaß am Musizieren, am Singen, am Sprechen und allem, was zwischen diesen Ausdrucksformen noch als hybride Mitteilungsform möglich ist. Das hat Schwertsik alles mit seiner Frau Christa und oft auch mit den Stieftöchtern Julia und Katharina Stemberger ausprobiert - zu meist frechen, immer poetischen Texten von artverwandten literarischen Freigeistern wie Fritz von Herzmanovsky-Orlando. Nie klang es wie Marke Soundso, immer hörte man Schwertsik, sogar im minimalistischsten Umfeld . . .


25. Juni



Slawische Seele in allen Stimm-Registern


Das Staatsopern-Ensemble führte souverän durch die musikalische Welt unserer östlichen Nachbarn.

Auf seiner Rundreise durch das Opernrepertoire aller Zonen erkundete das Ensemble der Wiener Staatsoper auch die nähere und fernere slawische Nachbarschaft. Da kommen ja manche der jungen Sänger und Sängerinnen her. Also konnten sie sich diesmal bewegen wie die Fische im Wasser. Zum Beweis hob der Abend mit den böhmischen Schwestern der Rheintöchter an, den Nixen aus Antonin Dvoraks »Rusalka« (Diana Nurmukhametova, Szilvia Vörös und Margaret Plummer), deren zündenden Furiant-Rhythmen Kristin Okerlund am Klavier noch kräftig unterzündete.

Dem launigen (vom sonoren Wassermann Jongmin Parks assistierten) Beginn durfte mit Olga Bezsmertnas »Lied an den Mond« gleich ein inniger Höhepunkt folgen. Dem warm strömenden Sopran-Gesang setzte Zoryana Kushpler mit dem Lied des Lel aus Nikolai Rimskij-Korsakows »Schneeflöckchen« satt und dunkel, aber temperamentvoll gesteigert den Gesang des Schafhirten entgegen, in den sich die Titelheldin der Oper zu verlieben hätte - wenn denn das Stück je in unseren Breiten gespielt würde.

Freilich, eine solche Gala ist ja auch dazu da, daß das Publikum etwas kennenlernen darf. Etwa Modest Mussorgskys »Jahrmarkt von Sorotschintsy«, der eine effektvolle Dumka enthält, die - apropos Kennenlernen - den schönen, samtig timbrierten Sopran Valeriia Savinskayas wunderbar zur Geltung kommen ließ. Der harmonierte auch mit dem ausdrucksvollen Mezzo Margarita Gritskovas in Tschaikowskys Damen-Duett aus »Pique Dame».

Rachmaninows Kavatine des »Aleko« wurde zum idealen Vehikel für den sonoren Bass Peter Kellners. Die Staatsoper hat, man hörte es auch diesmal wieder, junge Kräfte für alle Stimmlagen am Haus. Sogar eine mehr als achtbare Besetzung für den Lenski (»Eugen Onegin») wie Pavel Kolgatin - und Valentina Nafornita, die längst zum deklarierten Publikumsliebling geworden ist.

Blick in ein Mädchenherz

Vergessen werden darf auch nicht, was altbewährte Mitglieder wie Dan Paul Dumitrescu für die Staatsoper geleistet haben: Ihm dankte das Publikum nach der Arie des Fürsten Gremin so freundlich wie Olga Bezsmertna nach der Briefszene der Tatjana, die zu einer bewegenden psychologischen Studie werden konnte, weil sich der Sopran dieser Künstlerin in den Jahren, die sie in Wien verbracht hat, zu eminenter Ausdruckskraft entwickelt hat. Sie braucht keine Regie, um uns einen anrührenden Blick in eine mutige Mädchenseele werfen zu lassen. Sie tut es mit vokalen Mitteln, ganz Primadonna - selbst eine solche haben wir hierzulande heute im Ensemble . . . Kristin Okerlund bewährte sich wieder als vielseitige Korrepetitorin, ging subtil auf die Bedürfnisse der Solisten ein und hielt in den Terzetten und Quartetten alle konsequent bei Takt und Laune. (sin)


23. Juni



Die Lust am Klang von der Renaissance zur Postmoderne


Stilbrüche. Die Pianistin Alexandra Sostmann und die Geigerin Arabella Steinbacher suchen (und finden) Verbindungen zwischen Jahrhunderten.

Wer da meint, Klaviermusik müsse so klingen wie eine Rachmaninow-Etüde oder zumindest wie Ludwig van Beethovens »Sturmsonate«, wird mit dieser CD nicht glücklich werden.

Wer aber hören möchte, was auf einem modernen Konzertflügel sonst noch alles möglich ist, wird die Neuerscheinung freudig begrüßen. Die Pianistin Alexandra Sostmann hat früheste Beispiele von Musik, die ausdrücklich für Tasteninstrumente komponiert wurde, mit Werken der jüngsten Vergangenheit kombiniert.

Dabei ist ein Stil-Mix entstanden, der vor, sagen wir, 20 oder 25 Jahren noch gar nicht möglich gewesen wäre. Mit den musikalischen Hervorbringungen des postmodernen Zeitalters aber harmonieren Klangexperimente aus dem Frühbarock oder der Spätrenaissance auf ganz wunderbare Weise. Wie sich zeigt, klingt Musik von William Byrd (1542-1623) und Orlando Gibbons (1583-1625), eingebettet in Minimalistisches von John Taverner oder John Adams geradezu progressiv.

Zumal dann, wenn eine Interpretin wie Sostmann ihrem Flügel auch geradezu ätherische Glocken-Klänge entlocken kann, wenn es darauf ankommt. Ihre Kunst, Einzeltöne klar voneinander abzusetzen, aber doch melodische Linien zu gestalten, evoziert hie und da Assoziationen zum Cembalo-Klang, nutzt aber die erweiterten Möglichkeiten zu farblicher Differenzierung virtuos. Auch bewältigt sie den heiklen Übergang von rhythmischer Akkuratesse zu den vom Jazzidiom inspirierten Byrd-Paraphrasen aus der Feder von Markus Horn (*1972) mit Finesse.

Daß sie ihre Klangreise durch die Jahrhunderte unserer Kulturgeschichte einbettet in zwei Ausschnitte aus Johann Sebastian Bachs »Musikalisches Opfer«, ist die Kür des faszinierenden Programms: Hier stellt sich die Frage nach dem rechten Instrument nur insofern, als es gelingen muß, die Vielstimmigkeit in den beiden »Ricercar« betitelten Stücken so klar und durchhörbar wie möglich zu machen.

Dabei bleibt es bewundernswert, wie sogar in dem von König Friedrich II. in einer mephistophelischen Laune bestellten sechsstimmigen Schluß-Stück der CD aus einem theoretischen »Ding der Unmöglichkeit« in der Praxis herrliche Musik wird.

Arabella Steinbachers acht Jahreszeiten

Apropos Stil-Mischung: Dieser Tage kam auch die jüngste CD der Geigerin Arabella Steinbacher in den Handel (Pentatone): Sie widmet sich mit gradlinig-sicherem Ton Vivaldis »Vier Jahreszeiten« und Astor Piazzollas zu diesen als »Doubles« komponierten »Cuatro Estaciones Portenas». Im Verein mit dem Münchner Kammerorchester findet Steinbacher scheinbar aufs Natürlichste ihre Pfade durch alle klimatischen Anfechtungen Vivaldischer Regengüsse und Kälteeinbrüche ebenso wie das rhythmische Dickicht des argentinischen Tango-Meisters.


22. Juni



Zwischentöne


Laßt uns in Ruh' mit sinnlosen Buchstaben- und Zahlenspielen


Kaum hat sich die Musikwelt auf allseits akzeptierte Nomenklatur geeinigt, kommen Besserwisser.

Wie schreibt man Johann Strauß? So, wie ich ihn gerade geschrieben habe - oder doch mit Doppel-S? Wenn es nach den Sachwaltern des Strauß-Erbes geht - den Nachkommen jenes »schönen Edi«, der den ganzen Nachlass seiner Brüder im Ofen verbrannt hat -, dann sollte die gesamte Literatur wieder umgeschrieben werden, die in den vergangenen Jahrzehnten einen praktikablen Ausweg aus der Nomenklatur-Krise gefunden hatte: Die Walzer-Sträuße mit »ß«, um sie von Richard Strauss zu unterscheiden - Oscar hat ohnehin nur ein »s« am Schluß.

Jetzt könnten historische Korrektheitsfanatiker mühelos ermitteln, daß sich Richard zeitlebens gern mit »ß« geschrieben hat und sein Name auf zeitgenössischen Plakaten auch so gedruckt wurde. Sollen wir deshalb die endlich erreichte Einheitlichkeit wieder umstoßen? Und: Was sollte das für einen Sinn haben - außer, daß es wieder alles durcheinanderbringt.

Ich könnte übrigens auch ein Manuskript vorzeigen, das Johann Strauß Sohn mit dem in der damaligen Schreibschrift üblichen Schluß-S unterzeichnet hat, dem unser gedrucktes »ß« entspricht. Also?

Um das Maß voll zu machen, kündigt das Wiener Konzerthaus jetzt Mozart-Klavierkonzerte nach der sechsten Auflage des Köchelverzeichnisses an, die brav alles chronologisch richtig einordnet, aber alles über den Haufen wirft, was unter Musikfreunden bis vor Kurzem für gewisse Orientierungssicherheit gesorgt hat.

Wenn man uns immerhin zumindest in Klammer die altgewohnten Köchel-Nummern ließe, wäre schon viel gewonnen. Für unsereinen wird ja auch das frühe Es-Dur-Klavierkonzert, das, wie man seit einiger Zeit weiß, einem Fräulein Jenamy zugedacht war, das »Jeunehomme-Konzert« bleiben - wie es auf den besten Schallplattenaufnahmen verewigt ist.

Namen sind ja dazu da, daß man einander erkennt - sollte man denken. Seien wir froh, daß wir den Zirkus bei Schubert nicht mitmachen müssen: Die »Unvollendete« bleibt die »Unvollendete« - ob als Nummer 7 oder 8 oder . . . .


21. Juni



So klingt die Sonnenwende


Ab heute werden die Tage wieder kürzer. Aber zumindest musikalisch können wir das Licht festhalten. Ein Streifzug durch erhellende Szenen der Musikgeschichte, von Haydn bis Schwertsik.

Sonnenaufgang, Sonnenuntergang - sie lassen sich präzis vorhersagen und bergen doch das größte Geheimnis. »Und morgen wird die Sonne wieder scheinen«, sagt das Gedicht. Eine Binsenweisheit? Daß dem einmal nicht so sein könnte, ist vielleicht eine der Urängste der Menschheit. Sonnwendfeiern, Zelebrationen des längsten und des kürzesten Tages im Jahr, gehören daher vermutlich auch zu den ältesten aller Riten. Die Wiederkehr der Sonne zu feiern, ihr zu opfern, galt von jeher als heilige Pflicht. Denn, wie es im »Faust« nachzulesen ist: »Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke.«

Die Menschheit fühlte sich nicht minder gestärkt. So ließ sie die Künste das ihrige tun. Musik durfte dabei nicht fehlen. Nicht nur weil in der Kirche (nach Paul Gerhardt) das Lob der »güldnen Sonne« gesungen werden mußte, die ja immerhin dafür sorgt, daß unser Auge schauet, »was Gott gebauet». In Goethes »Prolog im Himmel« erfahren wir schließlich auch, daß uns die Sonne in Wirklichkeit ja nicht einfach »scheint«, wie wir das prosaisch nennen. Sie »tönt nach alter Weise». Sie macht also Musik. Und wie klingt diese Musik? Wie »tönt« die Sonne? Diese Frage zu beantworten, »das wär' so wiederum ein Auftrag für den Bruder Bonafides, hätte der Patriarch in Lessings »Nathan« gesagt, wie immer, wenn es darum geht, das Unmögliche möglich zu machen.

Ein kleiner Streifzug durch die Sonnenanbetungen in der Musikgeschichte führt uns zunächst, solange wir uns nicht mit »O sole mio« in der Titelabfrage begnügen wollen, gehörig in die Irre. Gibt es da nicht die »Sonnenquartette« von Joseph Haydn? Die haben allerdings mit der Sonne gar nichts zu tun - das Faktum ausgenommen, daß der Amsterdamer Verleger eine Sonne aufs Titelblatt dieser Sammlung von sechs Streichquartetten gedruckt hat, die 1772 als Opus 20 komponiert wurden.

Erst artig, dann klassisch. Die Sonne ging damals höchstens insofern auf, als Haydn, der große Kammermusiker, in diesem Augenblick wirklich »da« war, ganz er selbst, selbst dort, wo er in den Finalsätzen noch artige, scheinbar spätbarocke Fugati geschrieben hatte.

Die Morgendämmerung hatte der Vater der Wiener Klassik ja nebst andern Naturbildern schon im Zyklus seiner frühen »Tageszeiten»-Symphonien beschworen. Aber da bediente er sich noch einer quasi barocken musikalischen Bildersprache, samt deren für uns heute allzu dezent wirkenden klanglichen Allegorien. Für diese feinen klingenden Zeichen gibt es Vorbilder in Hülle und Fülle. Man denke nur an das wiederholte Aufblitzen des ersten Tageslichts aus düster unbestimmten Harmonien in der Einleitung zu Georg Philippe Telemanns »Tageszeiten»-Kantate. Oder an Dittersdorfs illustrative Klangspielereien in seinen Symphonien über die Metamorphosen des Ovid.

In diesem Sinne hat auch eines der spätesten Streichquartette Joseph Haydns (B-Dur, op. 76/4) seinen Kosenamen erhalten: Da hörten die Zeitgenossen am Beginn nämlich die Sonne aus dem Nebel aufsteigen. Diese bildhafte Assoziation zu einer Violinmelodie sichert dem Stück im angelsächsischen Raum bis heute den Titel »Sunrise». Just zu jener Zeit komponierte Haydn aber dann tatsächlich und ganz bewusst den Sonnenaufgang, den allerersten in der Ideengeschichte der Menschheit: »Und Gott sprach, es werde Licht«, flüstert der Chor am Beginn des Oratoriums »Die Schöpfung». »Und es ward« - der strahlendste C-Dur-Akkord der Musikgeschichte.

Das ist der simpelste Effekt, der sich denken lässt, gewiss. Nur: Die Idee muß einer einmal haben. Der Eintritt dieses Lichts in die europäische Kultur hat seither nie seine überwältigende Wirkung verfehlt, klingt auch für uns Heutige noch wie das tönende Sinnbild der Erfüllung ältester Ur-Sehnsüchte, Sinnbild auch eines »Enlightenment«, das für alle gelten sollte. So haben es wohl Haydns Zeitgenossen dechiffriert. Hatten doch die Sonne in der Kunst bis dahin die Könige für sich gepachtet. Ludwig XIV. (wer sonst?) verkörperte sie höchstselbst 1653 als Tänzer im »Ballet de la nuit« - ein berühmter Stich in der Pariser Bibliotheque Nationale hat uns die Szene erhalten.

Die Sonne als Symbol der Erleuchtung wird im aufklärerischen Gegenzug in Mozarts »Zauberflöte« immer wieder beschworen. Das bleibt in dem mit freimaurerischer Symbolik vollgestopften Stück meist nahezu unbemerkt, obwohl es an zentralen Stellen des Geschehens geschieht - wir erleben doch immerhin den Untergang der »Königin der Nacht».

Schikaneders Vision. Der Priesterchor verkündet die Gewissheit: »Die düstre Nacht verscheucht der Glanz der Sonne«, die drei Knaben tun es ihnen gleich und versichern: »Bald prangt, den Morgen zu verkünden, / Die Sonn auf goldner Bahn, / Bald soll der finstre Irrwahn schwinden». Und Papageno ist sich im Moment des Glücks sicher, »daß ich bis zur Sonne fliegen sollte, wenn ich Flügeln hätte.«

Vor allem aber: Wenn sich das Schicksal der Prüflinge erfüllt hat und sie in den Tempel einziehen, dann heißt es in Emanuel Schikaneders Regieanweisung ausdrücklich: »Sogleich verwandelt sich das ganze Theater in eine Sonne.« Wie sollten das unsere ach so klugen Regisseure in die Tat umsetzen - sie scheitern an diesem Stück ohnehin allesamt viel früher . . .

Der ideelle Anspruch an die künstlerische Sonnenanbetung ist also seit der Zeit der Wiener Klassik enorm. Er kam sozusagen auf natürliche Weise zur Deckung mit den alten katholischen Beschwörungen des Lichts, wie wir sie in den gewaltigen Sprachbildern des Franz von Assisi im »Sonnengesang« finden.

Der in allen romanischen Sprachen männliche »Bruder« wird ekstatisch gefeiert - und bis heute zählt diese Poesie zu den großen Herausforderungen, der sich nicht viele Komponisten stellen wollen. Der Wiener Kurt Schwertsik war einer der wenigen, die es gewagt haben. Er hat mit seiner Vertonung gleich eine wunderbare Hymne der Postmoderne geschaffen.

Paul Hindemith, der Unbekannte unter den großen Namen der Moderne, hat den »Sonnengesang« auf seine Weise gleich zweimal zu großen Orchester-Tableaux verarbeitet, einmal im Finale seines Franziskus-Balletts »Nobilissima visione« (dessen sich heutzutage nur Riccardo Muti des Öfteren annimmt - das dafür mit immensem Erfolg). Das andere Mal im Finale der Johannes-Kepler-Oper »Die Harmonie der Welt«, in der - es war zuletzt in Linz zu sehen - zuletzt Kaiser, Honoratioren und Wissenschaftler als Gestirne kreisten. In der gleichnamigen Symphonie ist er als überwältigender E-Dur-Triumphgesang zu hören, den der große Jewgeni Mrawinsky einst so vollendet zum Klingen zu bringen wußte, daß sich seither kein Dirigent mehr an diese himmelstürmende Musik gewagt hat.

Wer die Nöte der unerlösten Menschheit auf die Bühne bringen wollte, begegnete freilich schon im Biedermeier solch idealistisch-ethischen Höhenflügen mit Misstrauen. Vielmehr als idyllische Postkartenstimmung - denken wir an Edvard Griegs wunschkonzertzersauste »Morgenstimmung« aus dem »Peer Gynt« - war vom musikalischen Sonnenschein meist nicht zu erhoffen.

Das Leben in der Finsternis der Realität schürte ohnehin Misstrauen gegen hehre Bilder: »Oh, diese Sonne«, singt Max in Webers »Freischütz»: »Furchtbar steigt sie mir empor!»

Tag und Nacht bei Wagner. Richard Wagner, der die herrlichsten Sonnenaufgänge (in der »Götterdämmerung« gleich zweimal!) komponiert hat, schenkt im »Siegfried« der wachgeküssten Brünnhilde geigen- und harfenumleuchtet ein hymnisches »Heil dir, Sonne! Heil dir, Licht!»

In seiner nächsten Operndichtung singt er dann das hohe Lied der Nacht, die Geborgenheit bietet gegen Lüge und Verrat des Tages: »O, diese Sonne«, singt auch Tristan - und bietet Isolde die Flucht ins »Wunderreich der Nacht«, in dem »der Sonne Licht nicht scheint». Was das grelle Licht uns zeigt, ist nicht unbedingt das, was man im Innersten »weiß».

Dabei hatte der Dichter-Komponist in seinen theoretischen Schriften die Sonnenanbetung noch »die gemeinschaftliche Grundlage der Religion aller Völker« genannt.

Schon erschien Friedrich Nietzsche auf der Walstatt. Nach anfänglicher Wagner-Begeisterung predigte er die Heraufkunft des Übermenschen und ließ seinen Zarathustra gegen alle dekadenten »nächtlichen« Heimlichkeiten die Kraft des Lichts besingen: »Du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest!»

Die damit Beschienenen beschworen nun wieder den Glanz der Sonne. Richard Strauss gelang mit dem Auftakt zu seiner »Zarathustra»-Tondichtung der von Film und Werbefernsehen schamlos missbrauchte, stärkste aller Sonnenaufgänge seit Haydn. Ausführlicher versuchte er sich in der ebenfalls von Nietzsche inspirierten »Alpensymphonie« dann am selben Sujet - nicht minder virtuos, aber nicht mehr so überwältigend. Später im Leben fand er dann in seiner »Daphne« noch den rechten euphorischen Ton, wenn Gott Apollo von der Fahrt mit dem Sonnenwagen erzählt.

Schönberg und Ravel. Nietzsches »Zarathustra« inspirierte auch noch den Engländer Frederick Delius, Texte aus dem Chef d'Oeuvre des Dichter-Philosophen in seiner (deutschsprachigen) »Messe des Lebens« zu vertonen. Sie führt in ebenso gleißendes musikalisches Licht wie der Sieg einer chthonischen Naturreligion über das Christentum im Ausklang von Karol Szymanowskis enigmatischem »König Roger« und der ebenso neuheidnische Final-Sonnengesang in Arnold Schönbergs »Gurreliedern». Das funkelt, strahlt und irisiert dank raffinierter Orchestertechnik wie auf den Gemälden der französischen Impressionisten, die das zauberische Sonnenlicht zu allen Tageszeiten einzufangen suchten.

Maurice Ravel hat das ganz unphilosophisch-pittoreske Gegenstück zu den Bildern seiner genialen Malerkollegen geliefert, wenn er mittels Harfen-, Klarinetten-, Celesta- und Flötenarpeggien über
seinen Ballett-Helden Daphnis und Chloe den Tag anbrechen läßt - und
~


damit einen der schönsten Sonnenaufgänge schuf, die je mit musikalischen Mitteln gemalt wurden.



20. Juni



Ein singender Sunnyboy für nur hundert Heroen


Staatsoper. Michael Schade und Jendrik Springer erteilten im Konzert-Finale der Saison eine Lektion in Liedgesang.

Michael Schade pflegt sein Sunnyboy-Image: Wenn er auf die Bühne kommt, kokettiert er jovial mit seinem Publikum, wenn er singt, dirigiert er ein wenig mit - und hebt die Augenbrauen, wenn es im Text doppelbödig zugeht. Seine Selbstinszenierung könnte manchen im Auditorium davon ablenken, daß hier ein höchst ernsthafter Interpret am Werk ist, der längst vom Opernstar, der auch Lieder singt, zum bedeutenden Exegeten der nur nach außen hin »kleineren« Form geworden ist.

Nichts Geringeres als Beethovens »An die ferne Geliebte« stellten Schade und sein Klavierpartner Jendrik Springer an den Beginn ihres Abends im virusbedingt konzertanten Staatsopern-Ersatzprogramm zum Saisonausklang. Da sollte man schon in den ersten Takten genauer zuhören. Denn Schade betont stärker denn je die Bedeutung des Textes und seiner Führungsrolle, prüft jede Phrase, jedes einzelne Wort auf den Sinngehalt. Daß es bei aller Detailgenauigkeit dann dennoch Melodien sind, die da erklingen, erweist die große Gestaltungskunst.

Selbst die oft überhastete Attitüde in den aufgeregten Momenten am Endes des ersten Liedes und am Schluß der Reihe fällt nicht aus dem liedhaften Rahmen, obwohl sie - dem Genius Loci gehorchend? - in theatralische Accelerandi münden, die auch die Fertigkeit des Pianisten bis an die Grenzen fordern. Ganz intim agierten Schade und Springer dann bei Schubert - oft bis zum Flüsterton zurückgenommene Piani schufen die rechte Atmosphäre für kecke Liebesbotschaften; oder für die gar schröckliche Geschichte vom armen »Fischer«, den die Wassernixe in den Tod holt - alles nicht so wild, er stirbt mit Lust, sagt uns Michael Schade vokal wie gestisch: »Halb zog sie ihn, halb sank er hin« - weg war er. So kommt's.

Ist ja vielleicht alles nur ein Spiel. Das ist das Schön-Gefährliche an biedermeierlichen Visionen und poetischen Bildern. Auch beim Gesprudel, das im Bächlein herrscht, kommt ja zunächst niemand auf die Idee, daß die launische Forelle bald am Angelhaken hängen würde. Ein bisschen darf dann auch noch der Gedanke an ein schmackhaftes Fischmenü mitschwingen.

Hausmusik und Wienerlied

Seine »100 Heroen«, wie er das regelbedingt spärliche Publikum moderierend nannte, hatte der Tenor da längst auf den Hausmusik-Ton eingestimmt. Ganz ohne direkte Bezüge zu den Anwesenden wird es ja auch bei den wienerischen Schubertiaden einstens nicht abgegangen sein. Das konnte - und kann - lehrreich sein: Wer weiß schon, daß sich Schubert, seinem großen Vorbild Beethoven zum Trotz, auch an eine Vertonung von Matthisons »Adelaide« gewagt hat?

Nach einem Richard-Strauss-Block hätte sich Schade nicht entschuldigen müssen, daß er und Jendrik Springer, »zwei Deutsche«, sich an »Mei Muatterl war a Weanerin« wagten - beide gehören ja längst hierher. Der Tenor durfte sogar anmerken, daß er manche Kollegin in seiner langen Staatsopern-Karriere daran erinnert hat, wie wichtig das Wort nicht nur im Liedgesang ist.

Den Beweis hat er mit seinem jüngsten Auftritt geliefert - bis zum Ende, mit Lehar und Richard Strauss' gehauchter Versicherung, auch morgen würde »die Sonne wieder scheinen».


17. Juni



Echte Emotionen, keine Fälschungen


Staatsoper. Wagner-Diva Camilla Nylund erzählte über Frauenliebe und -leben.

Liederabende in der Staatsoper? Wenn sich Opern-Stars vor einem auf Oper geeichten Publikum dem intimen Lied-Genre widme, stimmt der Rahmen so wenig wie meist die stimmliche Potenz der Interpreten. Zudem wird notorisch behauptet, Opernsänger würden dabei mit Kanonen auf Spatzen schießen, sobald sie Schubert oder Schumann singen. Das trifft die Sache nur halbwegs. Kanonen, ja. Aber Spatzen?

Camilla Nylund und Helmut Deutsch ließen am Montag solche Assoziationen gar nicht erst aufkommen. Gewiß erlaubten zunächst nordische Gesänge, die Macht der idealen Sieglindenstimme auszukosten. Die emotionalen Crescendi in Sibelius' »Flickan kom« und der »schwarzen Rose« zollten dem Genius loci genügend Tribut. Sie ließen aber auch ahnen, wohin die Reise führen würde: Immer wieder nahm Nylund ihren fülligen Sopran ins Piano zurück und bewies, daß er auch in diesen Regionen tragfähig agiert.

Mit Schumanns »Frauenliebe und -leben« tobten die Stürme dann inwendig. Für die poetisch-zarten Stimmungsbilder einer aufblühenden Liebe fand der Sopran dann ganz ohne breites Vibrato zu feinen, leisen Tönen. Selbst die überschäumende Schwärmerei in Liedern wie »Er, der herrlichste von allen« verlockte Nylund nicht zur dramatischen Emphase. Daß nicht alle Ziernoten so filigran in die Linienführung eingebunden wurden wie in Originalklangzeiten bei barocken Oratorien üblich, wird nur der kritischste Sachwalter des reinen Liedgesangs anmerken.

Was Helmut Deutsch weiß

Die wohlig-beschauliche Stimmung im »Ring an meinem Finger«, die sanfte Innigkeit des »Seit ich ihn gesehn« erwiesen die stilistische Sicherheit der Künstlerin, das ausführliche Klaviernachspiel zum Ausklang verriet, daß Helmut Deutsch auch deshalb ein begnadeter Partner für die Sänger ist, weil er weiß, daß es von Robert Schumann auch den »Carnaval« und die »Kreisleriana« gibt - und er entsprechende Atmosphäre zu erzeugen imstande ist.

Er weiß aus Erfahrung auch genau, wie lange die Harmonien im Ausklang von Richard Strauss' »Morgen« jeweils nachklingen dürfen, wann der nächste Akkord folgen muß, um die Musik im Fluß zu halten und nicht in Larmoyanz erstarren zu lassen.

So bleiben die Gefühle echt, die Camilla Nylunds Gesang frei werden lässt, arten nicht in Schaustellerei aus. In diesem Sinne bedürfen dann auch die emotionellen Eruptionen einer »Heimlichen Aufforderung« oder gar einer »Cäcilie« keines besonderen Nachdrucks: Die Stimme schwingt sich in höchste Höhen, mühelos und strahlend. Der Klang sagt alles.

Nur die naive Geste, die es für Mahlers Frage »Wer hat dies Liedlein erdacht« bräuchte, steht der Nylund nicht zu Gebote. Dafür servierte sie eine große Lehar-Szene so blutvoll, daß man an Marcel Prawys Forderung erinnert wurde: Operette gehört in die Staatsoper. Ja, genau. Und zwar mit Interpreten wie Camilla Nylund!


16. Juni



Auf den Spuren von Bachs Geheimnissen


Bach auf dem Cembalo. Trevor Pinnock legte seine erste Einspielung des »Wohltemperierten Klaviers Band I« vor: Erfreulich undogmatisch, klangbetont und auf sinnliche Auslotung tonaler Charakteristika bedacht.

Trevor Pinnock ist wohl einer der weltweit bekanntesten Originalklang-Interpreten und als Orchesterleiter wie als Cembalist viel gerühmt. Wer die Doppel-CD mit der Neuaufnahme des ersten Bandes von Bachs »Wohltemperiertem Klavier« in die Hand bekommt, ist zunächst versucht, in seiner Sammlung eine frühere Wiedergabe dieser Musik durch Pinnock zu suchen. Er wird nicht fündig werden. Es handelt sich tatsächlich um Pinnocks erste Einspielung der Präludien und Fugen, die ihn aber selbstverständlich durch sein ganzes Musikerleben begleitet haben. Seinen »wohltemperierten« Aufnahmeplan verschob er, wie er im Beiheft schreibt, »in Zehnjahresschritten». Erst jetzt fühlte er den rechten Zeitpunkt gekommen.

Was der gereifte Interpretations-Pionier Pinnock vorgelegt hat, klingt in vielen Momenten nach einer Versöhnung zwischen radikal gedachter Originalklang-Ästhetik und romantischer Bach-Exegese. Jedenfalls wirkt die Aufnahme in keiner Sekunde sektiererisch, in etlichen Momenten - etwa im c-Moll-Präludium - sogar beinahe improvisatorisch, den Möglichkeiten des Notentextes nachlauschend; die Fuge folgt dann in überraschender Spritzigkeit: Konnte c-Moll jemals so tänzerisch, ja leichtfüßig klingen?

Diese Frage führt uns zur Stimmung des Instruments: Pinnock wählte nach langen Überlegungen einen Kammerton, der mehr als einen Ganzton unter den heute gewohnten 440 Hertz angesiedelt ist.

So klingt das berühmte C-Dur-Präludium dann für heutige Ohren sozusagen in imaginärem Ais-Dur. Man überlegt auch, wie Bach, der seine Instrumente gern selbst stimmte, es gemacht haben könnte, daß für die Zeitgenossen bei aller »Wohltemperiertheit« doch kleine Differenzen blieben, um einzelnen Tonarten charakteristische Intervallspannungen zu sichern.

Ein fast trotziges es-Moll-Präludium

Pinnock gelingt die nötige Differenzierung durch artikulatorische Kunstfertigkeit. Er könnte gewiß den kühl-räsonierenden, fast trotzigen Ton, den er für das sonst gern larmoyant zerdehnte es-Moll-Präludium findet, in jeder beliebigen Tonart anschlagen. Und er zerstreut jedenfalls vom ersten Moment an Bedenken, ein Cembalo könnte mangels farblicher und dynamischer Differenzierungsmöglichkeit dem modernen Konzertflügel unterlegen sein. Pinnock entlockt seinem Instrument, einem 1982 liebevoll hergestellten Nachbau eines Cembalos von Henri Hemsch aus der Mitte des 18. Jh., einen warmen, oft erstaunlich satt timbrierten Klang, dessen sonore Tiefenwirkung er spürbar mit Lust auskostet. Daraus resultiert vermutlich die Freude an einem behutsamen Aufbrechen gleichmäßiger rhythmischer Bewegungen, um den Phrasen gesangliche Lebendigkeit zu sichern.


14. Juni



Die härteste Prüfung für Wiens Opern-Ensemble


In den Galakonzerten, die Dominique Meyers Ära beenden, zeigen die jungen Sänger Flagge.

Es war Herbert von Karajan, der dem Wiener Ensembletheater einst den Todesstoß versetzte. Sein Ideal lautete: Eine perfekte Besetzung für jede Oper möglichst in allen großen Opernhäusern der Welt. Eine Utopie, die zumindest dafür gesorgt hat, daß es mittlerweile kaum noch ein bedeutendes Haus auf der Welt gibt, das noch über ein schlagkräftiges Sängerensemble verfügt.

Der letzte Operndirektor, der ehrlich daran geglaubt hat, noch einmal eine exzellente Truppe an sein Institut binden zu können, war Eberhard Waechter. Er konnte nicht mehr beweisen, daß er es geschafft hätte.

Mittlerweile suchen sämtliche Intendanten in einstigen Repertoirehäusern und bei Festspielen ihr Heil im sogenannten Regietheater. Mehr und mehr ist gleichgültig geworden, wer singt, Hauptsache, er paßt optisch ins Konzept.

So hat man die Spielpläne allerorts reduziert und ist vielfach sogar bei kleinen und kleinsten Partien von Gästen abhängig geworden. Kaum ein Impresario wagt es noch, gegen diesen Zeitgeist anzuschwimmen. Umso bemerkenswerter, daß aufgrund der Coronakrise der scheidende Wiener Staatsoperndirektor gezwungen ist, zum Abschied nur noch Konzerte abzuhalten - und den Stargastspielen von Krassimira Stoyanova bis Juan Diego Florez einige Galaabende entgegenzusetzen, in denen die Ensemblemitglieder zum Zug kommen.

Ensemblemitglieder?

Ja, entgegen allen Unkenrufen gibt es die, und sie haben sich in der Ära Dominique Meyers zu einer Compagnie zusammengefunden, die so schlagkräftig ist wie seit Jahrzehnten nicht. Man konnte es über den wirklich zahllosen Auftritten von Welt-Stars zwar übersehen, aber die Wiener Oper war in den vergangenen Jahren imstande, selbst heikle Partien bei Premieren aus dem Haus zu besetzen. Nicht den Othello, gewiss, aber beispielsweise die Desdemona.

Weltklasse, hausgemacht. Im Repertoire demonstrierten Ensemblekünstler des Öfteren, daß sie illustren Gästen nicht nachstehen. Im Gegenteil: Die ersten beiden der bis Ende Juni stattfindenden Galaabende von Hausmitgliedern bewiesen das schlagend - und zwar im heikelsten Fach: Man sang Belcanto und Mozart. Was das Publikum - virusbedingt spärlich im Saal, international aber via Live-stream dabei - zu hören bekam, war vielfach Weltklasse.

Mit Olga Bezsmertna hatte die Staatsoper zuletzt eine echte Primadonna in ihren Reihen, die hie und da bei fast vollständig aus dem Haus besetzten Aufführungen der Da-Ponte-Opern die führende Rolle übernehmen konnte. Dergleichen galt früher in Wien als selbstverständlich, schien aber zuletzt völlig unmöglich.

Heute beginnt eine Mozart-Gala der Ensemblemitglieder, die sozusagen aufs Natürlichste durch Bezsmertnas »Felsenarie« gekrönt wird, mit einem Dreisprung der Sonderklasse: Svetlina Stoyanova sang mit satt timbrierter Mezzostimme souverän die »Parto»-Arie des Sextus aus »Titus«, Jongmin Park, ein echter Basso cantante, brillierte mit einer virtuosen »Registerarie« des Leporello (»Don Giovanni»), und zwischendrin sang Jinxu Xiahou Don Ottavios »Il mio tesoro«, wie man es bei Festspielen zuletzt kaum je hören konnte. Nicht von ungefähr hat Mozart diese Nummer für den ersten Wiener Ottavio ersetzen müssen: Die Balance zwischen nobler Stimmführung und Attacke, die es hier braucht, hat nicht jeder Tenor anzubieten.

Heute beginnt eine Mozart-Gala der Ensemblemitglieder, die sozusagen aufs Natürlichste durch Bezsmertnas »Felsenarie« gekrönt wird, mit einem Dreisprung der Sonderklasse: Svetlina Stoyanova sang mit satt timbrierter Mezzostimme souverän die »Parto»-Arie des Sextus aus »Titus«, Jongmin Park, ein echter Basso cantante, brillierte mit einer virtuosen »Registerarie« des Leporello (»Don Giovanni»), und zwischendrin sang Jinxu Xiahou Don Ottavios »Il mio tesoro«, wie man es bei Festspielen zuletzt kaum je hören konnte. Nicht von ungefähr hat Mozart diese Nummer für den ersten Wiener Ottavio ersetzen müssen: Die Balance zwischen nobler Stimmführung und Attacke, die es hier braucht, hat nicht jeder Tenor anzubieten.

Xiahou hat. Und er ist nicht der einzige Spitzentenor, den Dominique Meyer für Wien ins Fest-Engagement gewinnen konnte: Geradezu sensationell die Auftritte des jungen Josh Lovell, der eine makellos schöne, von zarten Pianophrasen getragene »Aura amorosa« (»Cosi fan tutte») sang - um drei Tage später in der »Belcanto-Gala« in der Cabaletta des Don Ramiro aus Rossinis »Cenerentola« ein Feuerwerk an Koloraturen abzubrennen, das er mit zwei bombensicheren hohen Ds und etlichen Cs garnierte - Spitzentönen, die ganz ohne Müh' und Plag' und satt timbriert tönen.

Abschiednehmen. Immerhin, Lovell bleibt Wien in der kommenden Spielzeit erhalten und wird nach Auftritten in Werken des 20. Jahrhunderts gegen Ende der Saison auch solistisch - und wohl mit entsprechendem Repertoire - zu erleben sein.

Von vielen anderen lieb gewordenen Stimmen müssen sich die Wiener allerdings verabschieden, sogar von Kalibern wie dem eleganten Figaro-Grafen Samuel Hasselhorn, von Margarita Gritskova, die mit dem Cenerentola-Final-Rondo vom höchsten bis zum tiefsten Register ihres mühelos in Sopranregionen reichenden Mezzos punktete.

Auch den Namen etlicher anderer Solisten sucht man im Sängerverzeichnis für 2020/21 vergeblich: Schön also, Rachel Frenkel noch einmal erleben zu können, oder Andrea Carroll, wie sie als quirlige Norina auch feine Zwischentöne hören ließ, sobald sie Sorin Colibans Don Pasquale die berüchtigte Ohrfeige verabreicht hatte.

Daniela Fally, die noch einmal ihre »Sonnambula« servierte, bleibt im Haus. Das ist gut so, denn sie nutzt gekonnt Bühnentemperament, um als Figur ganz zu überzeugen, auch wenn die Stimme einmal nicht alle hundert Prozent geben will.

Amüsant ausgespielt wurden die Ensembleszenen, Rafael Fingerlos kam als Papageno sogar mit Coronamaske aufs Podium, durfte aber partiturgerecht bald wieder »plaudern». Exzellent die beiden Korrepetitoren, die ihre Schäfchen bei Laune und in Schach hielten: Annemarie Herfurth und Stephen Hopkins.


Lissner verläßt Paris vorzeitig


Opera in Not. Die beiden großen Opernhäuser der französischen Hauptstadt, das Palais Garnier und die »Bastille«, sind nicht erst durch die Pandemie ins Schlingern geraten.

Nicht nur das Virus sorgt bei Kulturbetrieben für Millionenverluste: Stephane Lissner, der Ende des Jahres, sechs Monate früher als geplant, von seinem Posten als Intendant der Opera de Paris zurücktritt, hinterläßt seinem Nachfolger, Alexander Neef, ein Defizit von 40 Millionen Euro. Das hat nicht nur mit der Schließung aufgrund der Covid-Plage zu tun, sondern mit einem hausgemachten Problem der französischen Innenpolitik: den Ausfällen, die die Streiks gegen die geplante französische Rentenreform verursachten. Die Folgen der gewerkschaftlichen Protestaktionen schlagen allein mit 14 bis 15 Millionen Euro zu Buche.

»Man hat mich sehr kritisiert dafür, daß ich im Dezember 2019 die Streikenden der Pariser Oper unterstützt habe«, sagt nun Stephane Lissner in einem Zeitungsinterview. Die französische Tageszeitung »Le Monde« beziffert indes den Fehlbetrag durch die Ausfälle durch die Pandemie mit 31 Millionen Euro. Lissner zur finanziellen Situation: »Die Opera de Paris wurde in die Knie gezwungen.«

Während Stephane Lissner demnächst die Leitung des Teatro San Carlo in Neapel übernehmen soll, erhielt sein designierter Nachfolger, Alexander Neef, den offiziellen Auftrag, im Verein mit Martin Ajdari, seinem stellvertretenden Generaldirektor, ab 1. Juli einen Bericht über die Situation der beiden Häuser - Opera Bastille und Palais Garnier - zu erstellen - »am Ende einer Saison der beispiellosen Krise«, wie es in einer Pressemitteilung des Kulturministeriums heißt.

Konzepte für die Zukunft

Bis Herbst 2020 sollen Leitlinien eines Konzepts erarbeitet werden, die bei Erhaltung der künstlerischen Potenz der Opera national de Paris für eine wirtschaftliche, soziale und organisatorische Neuorientierung sorgen sollen.

In Paris geht man davon aus, daß der Opern- und Ballettbetrieb in den beiden Häusern gestaffelt wieder aufgenommen werden soll: Ende November im Haus an der Bastille, im Jänner 2021 im Palais Garnier. Vollkommen gefallen ist offenkundig das Abschiedsprojekt des künftigen Musikdirektors der Wiener Staatsoper, Philippe Jordan, der bis Ende des Jahres einen neuen »Ring des Nibelungen« herausbringen wollte. Sein Wiedereinstieg in den internationalen Opernbetrieb soll nun plangemäß kommenden September mit der Premiere von Puccinis »Madame Butterfly« stattfinden.

In Paris erinnern sich Opernfreunde daran, daß der Beginn der Ära Stephane Lissners, des ehemaligen Musikchefs der Wiener Festwochen, mit einer finanziellen Abgeltung für seinen Vorgänger, Nicolas Joel, begann, der ebenfalls sechs Monate früher als geplant seinen Posten räumte.

Für Misstöne sorgten auch die enormen Ausfälle, die durch die Streikwelle bedingt waren: Mehr als 70 Vorstellungen mußten gestrichen werden, oft aus haarsträubenden Gründen. So soll es einmal aufgrund der Dienstverweigerung eines einzelnen Musikers zur Absage einer aufwendig einstudierten Produktion gekommen sein, weil just dieser Musiker, der heikle Soli zu absolvieren gehabt hätte, nicht kurzfristig ersetzt werden konnte.

Kritiker der Streikaktionen haben nachgerechnet, daß durch die Absagen wegen der Proteste gegen die Rentenreform höhere Einnahmeverluste entstanden sind als der jährliche Beitrag des Staats zur Pensionskasse für die Angestellten der Opera de Paris beträgt.

Viel besprochen wurde auch die Tatsache, daß die Tänzer der Pariser Ballett-Compagnie an einem System festhalten möchten, das seit 1698 besteht: Sie dürfen sich seit Ludwigs XIV. Zeiten mit 42 Jahren zurückzuziehen.

Freilich: Der Sonnenkönig war selbst Tänzer und wußte, was dieser Beruf jedem einzelnen Mitglied der Truppe abverlangt.


10. Juni



Der kühne, herrliche Baß


Staatsoper. Das erste Konzert nach dem Shutdown war auch ein Werbefeldzug für die kommende Saison: Günther Groissböck sang neben Schubert und Loewe auch Wagner.

Günther Groissböck geht aufs Ganze. Nicht nur, weil er sein Opernrepertoire in den kommenden Spielzeiten um bedeutende Partien erweitert, sondern weil er auch im Liedgesang gleich das Schwerste wagt - und gewinnt. Schubert dominierte seinen Liederabend vor dem vorschriftsgemäß schütter besetzten Auditorium der Staatsoper (und erfreulicherweise vor dem alten, nicht politisch korrekt übermalten Eisernen Vorhang von Eisenmenger, dessen harmonische Einbindung in Erich Boltensterns Architektur man auf diese Weise einmal wieder bewundern durfte . . .)

Es waren ja immer wieder die tiefen Stimmen, die zu erfülltem Schubert-Gesang bedeutende Beiträge liefern konnten. Der historischen Wahrheit zum Trotz, daß die meisten Schubertlieder von Tenören uraufgeführt wurden: Die profunde Wirkung einer Bass-Stimme macht vielfach enormen Effekt. Das Aufbegehren von Goethes »Prometheus« gegen die Götter ist, von Groissböck gesungen, eine Anklage, die eminent gefährliches revolutionäres Potential verrät - und es wahrlich nicht notwendig hätte, daß zwischendurch (außer Programm) Regisseur Uwe Eric Laufenberg Aufmüpfiges von Bert Brecht zum Besten gibt.

Vater Zeus gegen Bertolt Brecht

Zumal dann nicht, wenn sich dann die Himmelfahrt des »Ganymed«, die Papa Zeus, bezaubert von der Schönheit des Knaben, ganz ohne fremde Mithilfe bewirkt, mit der Sorge um die Arbeiter schlägt, die am Bau der chinesischen Mauer beteiligt waren.

War das eine wenig subtile Rache dafür, daß der künftige Wiener Opernchef Laufenbergs »Elektra»-Inszenierung wieder durch Harry Kupfers Vorproduktion ersetzt?

Zum tieferen Verständnis des Liederabends hat der literarische Aufputz reichlich wenig beigetragen. Umso schöner, daß Groissböck nicht nur den lesenden Intendanten, sondern auch einige Lieder des in der jüngeren Vergangenheit sträflich vernachlässigten Carl Loewe mitgebracht hat.

Kleinodien wie »Die Uhr« gehörten früher einmal zu den beliebtesten Stücken der deutschen Romantik - und sind, wie man diesmal wieder hören konnte, auch alles andere als verstaubt tönendes Biedermeier.

Den rechten Ton fanden Groissböck und seine Begleiterin Alexandra Goloubitskaia zuletzt auch für den »Tamboursg'sell« Gustav Mahlers, während sich die mächtige Bass-Stimme für die naive Glaubensinnigkeit des »Urlichts« dann kaum zügeln ließ. Da drohte schon Gott Wotan im Hintergrund, denn Groissböck wollte sich mit dem »Walküren»-Finale verabschieden, sollte er doch heuer in Bayreuth als germanischer Göttervater debütieren. Er wird nun an der Staatsoper im kommenden April seinen ersten »Walküren»-Wotan singen.

Da lag es nahe, das »kühne, herrliche Kind« vorab schon einmal zu Klavierbegleitung zu besingen - und zu studieren, wie sich das nach einem langen, anstrengenden Abend anfühlt. »Stimm' hab' ich ja nicht mehr viel«, meinte der Sänger nach abgebranntem Feuerzauber - um dann doch noch »Die beiden Grenadiere« sterben zu lassen: Da klang sie dann, die Marseillaise - in gar nicht revolutionärem Zusammenhang. Heine war ja doch der bessere Brecht - und Schumann hat sie alle durchschaut, die Großspurigen wie die armen Hunde . . .

8 Juni



Aus Paneuropa wurde Israel Philharmonic


Buchkritik. Das Leben des Geigers Bronisaw Huberman, genau recherchiert: Eine Erfolgsgeschichte mit Trauerrand.

Eine »geistige und körperliche Befreiung unserer Bewohner« war das Ziel - große Worte, gesprochen von einem der berühmtesten Musiker seiner Zeit, der hie und da lieber politische Reden hielt, als daß er auf dem Konzertpodium Beethoven oder Tschaikowsky spielte.

Bronisaw Huberman (1882-1949) war einer der größten Geiger des 20. Jahrhunderts. Er war aber auch ein Mann, der sich leidenschaftlich für Richard Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Idee engagierte und deren Popularisierung einen eminenten Anteil seiner Zeit und Energie widmete.

Das war, lang bevor die Zeitläufte Huberman unwiderruflich dazu zwangen, als Pole und Jude Konsequenzen zu ziehen und in Palästina gewissermaßen einen Gegenentwurf zu seinen philanthropischen europäischen Visionen ins Werk zu setzen. Mit demselben Impetus, mit dem er zuvor den paneuropäischen Gedanken verfochten hatte, kämpfte der allseits umworbene Musiker für die Etablierung eines jüdischen Orchesters, aus dem sich später Israel Philharmonic entwickelt sollte.

Eine musikalische Vision in Palästina

Das zunächst utopisch scheinende Projekt ließ sich entgegen allen Unkenrufen realisieren. An jüdischen Musikern mangelte es angesichts der aus den von Hitler (und Stalin) dominierten Territorien fliehenden Menschen ja nicht. Und die Sympathie bedeutender Musiker - allen voran des damals begehrtesten aller Dirigenten - war Huberman sicher: Arturo Toscanini leitete die ersten Konzerte des Orchesters in Palästina und sicherte ihm damit weltweite Publizität.

Das war wohl - den Erfolg und die bis heute wirkende Kraft des Gedankens beiseitelassend - auch künstlerisch nicht das, was sich Bronisaw Huberman erträumt hatte. Aber es demonstrierte die Willensstärke dieses Mannes, von dem es bis vor Kurzem keine umfassende Biographie zu lesen gab.

Im Widerspruch zu Furtwängler

Jetzt ist das anders. Piotr Szalsza, bekannt dank gut recherchierter Kulturdokumentationen, hat das Leben aufgezeichnet. »Bronisaw Huberman« erschien in polnischer Sprache bereits vor fast zwei Jahrzehnten in Hubermans Geburtsstadt Tschenstochau und liegt nun (bei Hollitzer Wien) endlich auf Deutsch vor.

Gerade in Berlin und Wien hatte dieser Künstler vor Hitlers Machtübernahme sein treuestes Publikum. Szalsza zeichnet den Werdegang eines Musikers nach, der schon als Wunderkind sogar den allzeit skeptischen Johannes Brahms überzeugen konnte. Die genaue Überprüfung originaler Dokumente macht aus der Künstlerikone einen Menschen aus Fleisch und Blut mit allen ganz normalen Problemen; und noch einigen mehr: Hubermans Lebensweg ist nicht nur mit triumphalen Erfolgen gepflastert, sondern vor allem mit Prüfungen und Stolpersteinen sonder Zahl.

Szalsza kann all das dokumentieren und bietet den Lesern einen Bilderbogen von romanhafter Dichte und Spannung, über dem man hie und da vergisst, daß es sich hier um eine Geschichte handelt, deren Details Fakten bilden - oft sind es grausame Fakten.

Vor dem Hintergrund der Huberman'schen Familiengeschichte versteht man die rigorose Haltung des Künstlers gegenüber Kollegen besser, die es sich mit Terrorregimen »zu richten versucht« haben.

Der berühmte Briefwechsel mit Wilhelm Furtwängler liest sich anders in diesem Umfeld, auch die Tatsache, daß für Richard Strauss, der wie Furtwängler in Deutschland blieben war, besonders harte Worte gefunden wurden; wenn auch wohl in Unkenntnis von Strauss' familiären Problemen.

Bewegend, von einem Mann zu lesen, der wußte, ab wann jeder Kompromiß ein Sündenfall war. Daß er Karol Szymanowski nach 1933 nicht abhalten konnte, Konzerte in Deutschland zu geben, nannte Huberman »eine der größten Enttäuschungen in meinem Leben». Schlimmere folgten. Inneren Frieden hat der umjubelte Bronisaw Huberman sein Lebtag nicht gefunden.

Piotr Szalza: Bronisaw Huberman. Hollitzer Verlag, Wien. 504 Seiten.


8 Juni



Zwischentöne


Kunst profitiert von der Geborgenheit in der Festspielfamilie


Ob sich die Interpreten und das Publikum im Sommer gut aufgehoben fühlen, ist ein nicht unbedeutender Faktor der Qualitätssicherung.

Die Verlängerung des Vertrags der Salzburger Festspielpräsidentin schafft so etwas wie familiäres Ambiente. In Zeiten der Bedrängnis scheint Helga Rabl-Stadler eine geradezu mütterliche Funktion zu erfüllen. Immer schon war sie es, die dafür gesorgt hat, daß der Haussegen, auch wenn gerade Stürme im Arbeits-, Wohn- oder gar Badezimmer tobten, nie lang schief hing.

Damit war sie Garantin dafür, daß auch in Salzburg zwischen hie und da zum Größenwahn tendierenden Künstlern oder Intendanten, ahnungslosen Politikern, die mitreden wollen, und Mäzenen, deren Beitrag gewürdigt sein muß, am Ende doch immer eine Balance gefunden wurde.

Wie das die Frau des Hauses, die nebenbei auch noch Bilanzen lesen kann, halt so macht. Salzburg hat durch Rabl-Stadlers Engagement eine Qualität wiedererlangt, die für andere Festivals auf Grund gewachsener Strukturen noch selbstverständlich scheint. Mit der Betonung auf »noch».

Allenthalben geraten in jüngster Zeit die Fundamente ins Wanken.

In Bayreuth sorgen sich die Mitglieder des Direktoriums um die Gesundheit von Katharina Wagner. Die Urenkelin des Komponisten und Festspielgründers muß krankheitshalber auf längere Zeit pausieren. Womit Bayreuth erstmals in der Geschichte ohne das wache Auge eines Mitglieds der Familie Wagner auskommen muß.

Gerade weil im Corona-Jahr die Festspiele samt der Neuinszenierung des »Rings des Nibelungen« abgesagt wurden, ist das besonders heikel. Es müssen nun die Pläne klug korrigiert werden, um die Weichen für eine gedeihliche Bayreuther Zukunft zu stellen. Anzupeilen ist auf längere Sicht ein glanzvolles Jubiläumsfestival 2026; das ist, was die Planung im Operngeschäft angeht, sozusagen übermorgen. Nota bene, wenn es um vorausschauende Engagements im schweren Wagner-Fach geht.

Und im englischen Glyndebourne trauert man um Mary Christie, die Schwiegertochter des Festspielgründers, die in den vergangenen Jahrzehnten den Künstlern das Gefühl gegeben hat, sie seien tatsächlich Mitglieder einer besonderen Opernfamilie. Die Mutter des derzeitigen Intendanten, Gus Christie, erlag vergangenen Freitag ihrem Krebsleiden.

Wie förderlich das spezielle, sozusagen kammermusikalische Klima des Glyndebourne-Festivals von Anfang an war, läßt sich ja nachhören: Fritz Buschs legendäre Mozart-Aufnahmen zählen in ihrer Feinabstimmung bis heute zu den besten, die es gibt. Da begleitet zwar ein Klavier die Rezitative - aber kein Originalklang-Maestro bringt so viele Details der Partituren zum Klingen. Da triumphiert die Ensemblekunst Mozarts; ganz familiär, wenn man so will . . .


6. Juni



Kommentar

Eine Frau, die weiß, was sie will, für ein Fest, das sie braucht


Die Vertragsverlängerung für Rabl-Stadler ist ein verdientes Salzburger Dankeschön.

Es gab Zeiten, da verließ schon auch einmal ein Intendant während einer Sitzung den Raum. Kenner wußten: Da hatte die Frau Präsidentin offenbar eine Wahrheit so direkt und ungeschminkt ausgesprochen, wie das so ihre Art ist.

Heute freuen sich die Salzburger Verantwortlichen, wenn Helga Rabl-Stadler länger bleibt als geplant, weil Coronas wegen die 2020 beginnenden Jubiläumszelebrationen erst 2021 zu Ende gehen können. Was die Verlängerung bedeutet, kann nur ermessen, wer mitbekommen hat, mit wie viel Engagement und Liebe Rabl-Stadler ihr Amt ausfüllt - und wie effektiv sie dabei ist. Als gelernte Politikerin kennt sie auch alle Fallstricke - und wie man sie umgeht; eben nicht, indem man mit einem kraftvollen Sprung drüberhüpft, sondern indem man mit guten Argumenten jene, die sie ausgelegt haben, charmant dazu bringt, sie wieder einzuholen.

Daß Markus Hinterhäuser heute Intendant der Festspiele ist, hat, am Rande sei es bemerkt, damit zu tun. Und auch, daß heuer überhaupt Festspiele stattfinden. Alle andern sagen ab, Salzburg spielt.

Wir haben schon bemerkt, wer da in unbedingtem Glauben an die Festspiel-Idee nicht lockergelassen hat!


5. Juni



So wird Wien wieder zur Musikstadt


Konzertleben. Behutsam und ein wenig improvisatorisch bieten die großen Veranstalter ab sofort wieder Konzerte an: Oft musizieren die Stars nun zweimal hintereinander - und so gut wie immer ohne Pause.

Während Daniel Barenboim in seiner Doppelfunktion als Dirigent und Pianist die ersten starken Akzente im großen Saal setzt, beginnt im Musikverein auch »unterirdisch« das Leben wieder. Das ist beinah ebenso wichtig, denn in den »neuen Sälen« gibt sich die Jugend ein Stelldichein - für das junge Publikum des »KlingKlang»-Zyklus »packt Beethoven aus«, und zwar nahezu täglich im Metallenen Saal.

Und im Gläsernen Saal präsentiert das von der Geigerin Katharina Engelbrecht geführte Stratos Quartett (mit Maximilian Flieder am Klavier) nebst Musik von Beethoven und Richard Strauss eine Novität.

Johanna Doderer hat als Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde ihr erstes Klavierquartett komponiert, im Doderer-Werkverzeichnis immerhin schon die Nummer 128. Es kommt heute, Freitag, zur Uraufführung (20 Uhr).

Im Übrigen regiert Beethoven im improvisierten Musikvereins-Programm nahezu unumschränkt, bei Barenboim wie bei Julian Rachlin und seinen Freunden (6. Juni) oder bei Andris Nelsons und den Philharmonikern (7.) und bei Philippe Jordan und den Symphonikern (10./11.). Aber auch bei Rudolf Buchbinder, der am 15. Juni die »Sturm»-Sonate mit Schuberts B-Dur-Sonate konfrontiert.

Erst ab 11. Juni übernimmt Gustav Mahler die Macht (Jordan und Barenboim). Kontrapunkte setzen Rudolf Buchbinder (Mozart und Schubert am 8.) mit den Wiener Virtuosen, der junge Geigerstar Emmanuel Tjeknavorian mit einem bunt gemischten Programm (9.) sowie Riccardo Muti, der mit den Philharmonikern auf ein wienerisches Schubert-Strauß-Programm setzt (13. und 14. Juni.) Die Philharmonia Schrammeln runden das am 16. Juni ab.

Igor Levit im Konzerthaus

Im Konzerthaus bricht heute, Freitag, und morgen je zweimal (18 und 20.30 Uhr) Igor Levits Interpretation von Mozarts A-Dur-Klavierkonzert (irritierend überkorrekt als KV 385p im Programm geführt, aber natürlich das beliebte KV 488!) den Bann.

Julian Rachlin musiziert dann ab 16. Juni an vier Abenden mit wechselnden Klavierpartnern Beethovens Violinsonaten.

Auch die Staatsoper wird Konzertsaal

Weil an Oper so schnell nicht zu denken ist, veranstaltet auch die Staatsoper bis Ende Juni nun Konzerte. Wobei die illustren Mitglieder des Ensembles die Abende am 9., 12., 16., 19., 22. und 24. Juni gestalten. Solo-Abende bestreiten die Kammersänger Tomasz Konieczny (11. Juni), Camilla Nylund (15. Juni), Michael Schade (18. Juni), Juan Diego Florez (20. Juni) und Krassimira Stoyanova (25. Juni), die in der letzten Opernpremiere der Ära von Dominique Meyer die Amelia in Verdis »Maskenball« hätte singen sollen.

Alle Konzerte im Haus am Ring beginnen um 19.30 Uhr und senden Wiens Signal der Öffnung international aus: Sie werden als Livestream übertragen, weltweit und kostenlos (www.staatsoperlive.com).


31. Mai



Das vollständige Berg-Erlebnis


Vor 50 Jahren debütierte das prägende Kammermusikensemble. Zum Jubiläum des Alban Berg Quartetts erscheint die Gesamtedition.

Auf den Tag genau vor einem halben Jahrhundert war in der »Presse« vom »Wunder namens Alban Berg Quartett« zu lesen. Das klang nach journalistischer Übertreibung, doch in diesem Fall waren die Kommentatoren - und vor allem: Das Publikum - weltweit geneigt, die Charakterisierung jahrzehntelang fortzuschreiben.

Das Alban Berg Quartett überstand Wechsel an den mittleren Pulten klaglos und bot 38 Jahre lang Aufführungen von einer Qualität wie kaum ein zweites Ensemble. Vielen Musikfreunden galt die Kombination aus äußerster Präzision, Treue gegenüber dem Notentext und einer beseelten, oft spontan wirkenden Lust an Klang und Ausdruck als singulär.

Sämtliche jüngere Quartette, die zur Zeit oft bemerkenswerte interpretatorische Höhen erklimmen, müssen am Standard des Berg-Quartetts Maß nehmen. Die vier Wiener Hochschulprofessoren wollten 1970 ein Gegengewicht zu den hierzulande prägenden Quartetten bilden, die Orchestermusiker quasi im Nebenberuf zu Kammermusikern machen.

Das Alban Berg Quartett, das von Anbeginn Günter Pichler führte und dem Valentin Erben das profunde Cellofundament legte, war ein Profi-Ensemble nach dem Vorbild des Amadeus-Quartetts. Und brachte damit eine neue Qualität in die wienerische Musikszene, die rasch international auszustrahlen begann.

Schon zwei Jahre nach dem Debüt bestellte die Deutsche Grammophon, bei der auch »Amadeus« exklusiv unter Vertrag war, eine Aufnahme der Streichquartette Luigi Cherubinis. Und Günter Pichler sagte: Nein.

Haydn! Nicht Cherubini. Vorausblickend wußte er: Wer als Interpret erste Qualität bietet, darf keine Halbedelsteine verkaufen. Nicht, daß die »Bergs« keine Raritäten aufführen wollten. Aber Arbeit an wenig bekanntem Repertoire sollte der Moderne und ausgewählten Werken von Zeitgenossen dienen. In jedem Konzert des Alban Berg Quartetts war neben den großen Stücken der Klassik und Romantik auch Musik des 20. Jahrhunderts vertreten.

Das »Wunder«, das diese vier Musiker wirkten: Das Publikum, gegen solche sogenannten Sandwich-Programme an sich allergisch, empfand unter der Obhut dieser Künstler die »modernen« Einlagen als gar nicht spröd oder unzugänglich.

Im Gegenteil, bald freute man sich, daß an den Abenden im Mozartsaal immer spannende Entdeckungsreisen im Zentrum standen; und Komponisten waren immer wieder erstaunt, wie gut ihre Schöpfungen klingen konnten.

Schönheit der Zwölftonmusik. Was Namenspatron Alban Berg wohl gesagt hätte, wenn er das Adagio seiner »Lyrischen Suite« so verzehrend-schön und leidenschaftlich hören hätte können? Meister wie Luciano Berio oder Witold Lutoslawski waren jedenfalls begeistert und bestätigten damit den besonderen Rang dieses Quartetts. Raritäten durften es also sein - aber von Zeitgenossen. In diesem Sinne hob die Aufnahmetätigkeit des Alban Berg Quartetts bewusst mit einem Doppelschlag an: Man spielte eine Haydn-Platte und eine mit den beiden Streichquartetten des Namenspatrons Berg ein.

Dieses Alleinstellungsmerkmal blieb dem Berg-Quartett erhalten. Und die anfängliche Skepsis der Plattenfirmen - von Teldec wechselte man bald zu EMI - verwandelte sich ins pure Editorenglück: Zum 50. Geburtstag bringt Warner nun sämtliche Aufnahmen des Alban Berg Quartetts auf 62 CDs und acht DVDs in den Handel, das dürfte in Sachen Kammermusik so einzigartig sein wie die Qualität des Gebotenen.

Der Sammler bekommt damit nicht nur herausragende
Klassikereinspielungen (die Berg-, die großen Mozart-, die Beethoven- und Brahms-Quartette gleich mehrmals), sondern vor allem »moderne«, »neue«, »zeitgenössische« Musik in bestmöglicher Darstellung. Der Bogen reicht von Schwertsik, Rihm und Einem bis Haubenstock-Ramati, umfaßt also buchstäblich das gesamte, kaum überschaubare stilistische Spektrum.

Die legendäre Walzerplatte kann man nun auch wieder auflegen, die irgendwie den Schlüssel zu allem birgt. Ausgefeilte Technik und analytische Kunst dienen dazu, eine Spieltradition auf die Spitze zu treiben, die solchen Tugenden scheinbar entgegensteht. Die vier spielen im tiefsten Sinne »wienerisch». Und das perfekt. Paradox? Ein »Wunder« halt.

25. Mai



Zwischentöne


Die Einsamkeit des Cellisten beim Bach-Spiel


Ein einzelner Musiker in einem antiken Theater zu Füßen der Akropolis baut Brücken zwischen den Kulturen.

Eines der prominentesten Streaming-Projekte dieser Tage war gewiß der gestrige Konzertmarathon des Cellisten Yo-Yo Ma. Er kündigte für den Sonntagnachmittag in Boston eine Aufführung sämtlicher Bach-Solo-Suiten an und widmete diese Aktion ausdrücklich den vielen Opfern, die die Coronakrise mittlerweile gefordert hat.

Alle die den Livestream versäumt haben, können sich mit einer Doppel-DVD-Edition trösten, die soeben in den Handel gekommen ist. Sie dokumentiert den Höhepunkt der Bach-Rundreise, die den Musiker vorige Saison um die halbe Welt geführt hat.

Nun ist eine solche zweieinhalb Stunden währende Gesamtaufführung der sechs Bach-Suiten ohnehin eine geistige Spitzenleistung sondergleichen - und fordert vom Publikum, wenn schon nicht Gleiches, so zumindest geduldige Hingabe, was in unserem Äon schon viel verlangt ist.

Findet dieses Ereignis nun vor einem in die Zigtausende gehenden Publikum an einem der geschichtsträchtigsten Orte Europas statt, dann kommt zur musikalischen Sammlung noch eine historisch-assoziative. Das macht das nun per Video verfügbare Dokument von Yo-Yo Mas Konzert im antiken Theater Herodes Atticus noch außergewöhnlicher.

Sechs Werke für ein unbegleitetes Soloinstrument hat Bach hier gesammelt. Eine für seine Zeit nicht vollkommen unbekannte, aber doch höchst ungewöhnliche Konzentration auf das Phänomen, das wir Melodie nennen. Der unbegleitete Gesang, die musikalische Linie ohne stützende Harmonie - in einem offenen Theaterraum am Fuße der Akropolis. Das könnte beziehungsvoller nicht sein. Wer gern die Verwurzelung unserer Kultur in jener der Antike beschwört, der kommt über Bachs einsam schwebenden Melodien, die offenbar ein Riesenpublikum in Bann zu schlagen vermögen wie einst eine Aischylos-Tragödie, ins Sinnieren.

Wir wissen nicht, können nicht einmal ahnen, was die alten Griechen unter Musik verstanden. Wir haben in Wahrheit, obwohl uns die Texte überliefert sind, nicht die leiseste Idee, was damals Theater bedeutete, was seelische Erschütterung durch das Schicksal eines Oedipus, wie der Singsang der Mimen durch ihre Masken getönt hat. Viel näher sind wir dran am Barock, das Bach umgeben hat - und dem ein einzelner Cellospieler so fremd erscheinen mußte wie unsereinem die Anmutung einer Tragödie bei Tageslicht vor einer Ansammlung von Menschen, die ahnten, nein wußten, daß ihre Götter unter ihnen waren.

Können wir immerhin etwas ahnen? Solange wir Bach hören?


23. Mai



Hierzulande blüht auch Belcanto


Opernlektüre. Gregor Hauser hat die führenden »österreichischen Tenöre der Nachkriegszeit« auf bemerkenswert dramatische Weise porträtiert.

Tenöre kommen aus Italien. Zumindest laut Klischee müsste das so sein. Daß die Muttersprache der allerberühmtesten Tenöre in der jüngeren Vergangenheit eher Spanisch als Italienisch war, steht auf einem anderen Blatt. Und auf noch ganz anderen Blättern, exakt auf den 254 Seiten eines neuen Buchs aus dem Wiener »Verlag der Apfel«, stehen die Namen und Lebensläufe von Tenören aus Österreich.

Die gibt es! Und es sind gar nicht so wenige, die internationale Bedeutung erlangt haben. Denken wir an Heinz Zednik, der das Vorwort geschrieben hat. Denken wir an Andreas Schager, dessen Namen sich die Welt gemerkt hat, seit er vom Operettentenor namens Schagerl nach Abschuppung des Final-Konsonanten zum potentesten zeitgenössischen Wagner-Helden geworden ist.

Damit muß der »erste Akt« eines Stücks über heimische Vokalartisten beginnen! Sinn für Dramaturgie ist Gregor Hauser nicht abzusprechen. Nicht nur der Einstieg in sein Buch verrät sein Gefühl für Rhythmus und szenische Gestaltung.

Abwechslungsreicher Dreiakter

Drei Akte und alles, was dazugehört, also auch die entsprechenden Pausenfüller, die verraten, daß es hier nicht um eine kritiklose Jubelbroschüre für wirklich oder halbwegs arrivierte Sänger geht, sondern um eine psychologisch klug differenzierte Bestandsaufnahme der Faszination des Singens auf allen Ebenen.

So lesen wir in der ersten Pause etwas über die künstlerischen Erfahrungen eines Hobbytenors, der zufällig in der Nachbarschaft des Autors lebt und dem die Musik auch über tragische Momente seines Lebens hinweggeholfen hat. Und in der zweiten Pause beantwortet Franz Supper, jahrzehntelang Mitglied des Salzburger Landestheaters, Fragen zum Tenordasein, die wir bisher »nie zu fragen wagten« - von der Rolle des Gesangslehrers bis zur imaginären »vierten Wand« des Bühnenraums, jener zwischen dem Sänger und seinen Zuhörern. Solche Intermezzi gliedern die Handlung der tenoralen Historie, die aufgrund der höchst unterschiedlichen Charaktere, die in den Akten auf die Bühne kommen, ohnehin lebendig und abwechslungsreich genug abläuft.

Das eine oder andere Kapitel, Pardon: Die eine oder andere Szene liest sich wie ein abenteuerliches Romanfragment. Man wird es den Lesern dieses Buchs nicht verdenken können, wenn sie etwa im Archiv der Salzburger Festspiele den Namen Hubert Grabner suchen, um zu erfahren, ob da nicht die Fantasie mit dem Schriftsteller durchgegangen ist.

Tatsächlich sang Grabner bei den Festspielen mehrmals die Tenorpartien in geistlichen Konzerten. Und war doch, wie man bei Gregor Hauser nun erfährt, im wirklichen Leben Fleischhauer. Einer der besten im Salzburger Land, der seine legendären Rezepte für Salamiprodukte, die er nach Studien in Italien und Ungarn entwickelte, 1983 ins Grab mitgenommen hat.

Ein Tenor, der es zu Festspielehren gebracht hat, aber dessen Arbeitstag um dreiviertel vier Uhr früh anhebt, ist wohl tatsächlich einmalig in der Musikgeschichte.

Wirklich sachkundig, hat Hauser hier Material zu einem umfassenden Bilderbogen zusammengetragen. Zu einem Bilderbogen, den er auch zum Klingen bringt: Zum Zweck der akustischen Bereicherung - und getreu Grillparzers Erkenntnis, daß »beschriebene Musik wie ein erzähltes Mittagessen« zu bewerten sei, wurde ein YouTube-Kanal eingerichtet, auf dem seine Helden auch alle zu hören sind. Zu finden ist er leicht, indem man den Buchtitel, »Magische Töne«, und den Autorennamen, Gregor Hauser, eingibt.

Ein hohes C um drei Uhr früh

Da singen sie dann, die im Buch nicht chronologisch, sondern nach subtiler Regie ihre Auftritte absolvieren. Vom aktuellen Bayreuther Helden Schager zum selbst ernannten »letzten Dinosaurier« Hans Beirer, vom eleganten Wiener Kavalier Waldemar Kmentt zum unvergleichlichen »Rosenkavalier»-Wirten Karl Terkal, der sein hohes C auch um drei Uhr früh sicher singen konnte - also knapp bevor unser Salzburger Fleischermeister aufstand, wie wir jetzt wissen.

Und, apropos sicheres C, von Adolf Dallapozza zu Werner Krenn, den nicht nur Herbert von Karajan eine Zeit lang als neuen Fritz Wunderlich betrachtete.

Die Lebensgeschichten könnten unterschiedlicher nicht sein, manche Namen werden auch Kenner überraschen - und warum manche (vor allem Tenöre, die die titelgebende Arie aus Goldmarks »Königin von Saba« makellos singen konnten) nicht zu finden sind, erklärt der Autor schlagend. Ein äußerst ungewöhnliches, informatives Buch.


20. Mai



»So machen's alle«, aber wer gibt es zu?


Statt einer Premiere. An der Staatsoper hätte man ab Freitag wieder Mozarts »Cosi fan tutte« gespielt, ein Werk, das noch gar nicht so lange als vollgültig anerkannt ist.

Freitag wäre ein Premieren-Tag der Staatsoper gewesen. Riccardo Muti hätte sein Comeback ans Haus am Ring mit Mozarts »Cosi fan tutte« gefeiert, mit einem Werk also, das in seiner Karriere einen besonderen Stellenwert einnimmt.

Es war Muti, der 1982 mit einer Salzburger Festspiel-Premiere von »Cosi fan tutte« ein Zeichen setzte. Galt doch damals, eine sozusagen wienerisch-philharmonische Gegenposition zur sogenannten Originalklang-Praxis zu formulieren, die gerade in Mode kam und alle lieb gewordenen Hörgewohntheiten über den Haufen zu werfen drohte.

Muti gelang es, historische Erkenntnisse mit der Wiener Spieltradition zu harmonisieren. Das machte »seinen« Mozart unwiderstehlich. Die Verfilmung der späteren Staatsopern-Produktion im Theater an der Wien unter Mutis Leitung darf als historisches Dokument gelten. Bis in die kleinsten Pointen der Rezitative war diese Interpretation durchgearbeitet.

Da Pontes schlüpfrige Pointen

Daß Muti, der Neapolitaner, den Sängern die keineswegs immer stubenreinen Anspielungen auf süditalienische Dialekt-Wörter in Lorenzo da Pontes Libretto erklären konnte, machte den Spaß für die Ausführenden spürbar noch größer als sonst in dieser pointenreichsten aller Buffo-Opern.

Das Wissen um deren Qualitäten beruhte übrigens keineswegs auf einer langen Tradition. Da waren zwar Karl Böhms legendäre Produktionen mit Primadonnen-Duos wie Gundula Janowitz und Brigitte Fassbaender (für Schallplatten verewigt 1975), Elisabeth Schwarzkopf und Christa Ludwig (1960), oder auch Irmgard Seefried mit der Ludwig (im »Mozartjahr« 1956).

Und schon anlässlich der ersten Opernaufführungen, die überhaupt im Rahmen der Salzburger Festspiele stattfanden, hatte Richard Strauss eine Lanze für »Cosi fan tutte« gebrochen. Doch war das anno 1922 keineswegs selbstverständlich.

Noch Gustav Mahler hatte gegen Vorurteile anzukämpfen, als er in der Spielzeit 1900/01 dieses Stück dem Wiener Publikum in seiner ursprünglichen musikalischen Gestalt vorstellte. Man kannte »Cosi fan tutte« bis dahin nur in einer vollkommen entstellten Version, in der inhaltlich kein Stein auf dem andern geblieben war.

Das wiederum hatte seine Gründe in der Ablehnung von Lorenzo da Pontes Libretto, die sich schon wenige Jahre nach der Uraufführung der Oper (1790) manifestiert hatte. Die Ära der Romantik sah in dem mit zynischem Witz vorgestellten Partnertausch eine Frivolität sondergleichen. Noch Richard Wagner mokierte sich kräftig über den Inhalt des Werks und meinte, es sei kein Wunder, daß Mozart zu einem solchen Stoff nur mindere Musik einfallen konnte.

Womit sich der Bayreuther die Welt wieder einmal zurechtbog. Was er wirklich von der Partitur hielt, zeigt ein Blick auf seine Konzertprogramme. 1855, bei seinem Antrittskonzert in London, dirigierte er ein Terzett aus »Cosi fan tutte« nebst einer Haydn-Symphonie und Beethovens »Eroica« . . .

Apropos Beethoven: Auch er, ein glühender Mozartianer, kritisierte die letzte der drei Da-Ponte-Opern heftig und meinte einmal gegenüber dem Dichter Ludwig Rellstab, er selbst wäre nie imstande gewesen, etwas dermaßen Unmoralisches in Musik zu setzen. Und doch bewunderte er die Musik dieser Oper.

Auf kein Werk Mozarts bezieht sich Beethoven so ungeniert wie auf »Cosi fan tutte». Man beachte die Faktur des wunderbaren Quartetts aus dem ersten Bild des »Fidelio«, wie da aus der kanonischen Harmonie dreier Stimmen eine vierte, jene des Jaquino, ausbricht - mit ebenso gutem dramaturgischem Grund wie im ganz ähnlich gearbeiteten Quartett, das während der Hochzeitszeremonie im »Cosi»-Finale gesungen wird. Da ist es der verbitterte Guglielmo, der wünschte, »es wäre Gift im Wein».

Mozart und die »Leonoren-Arie»

Noch viel offenkundiger sind die Parallelen zwischen der großen Leonoren-Arie und dem Rondo der Fiordiligi: In beiden Fällen geht es um die Bekundung unverbrüchlicher Treue, beide Arien stehen in E-Dur, beide setzen der Sopranstimme Horn-Soli entgegen - und sie stimmen in der Form überein.

Zufälle können das nicht sein.

So versuchte denn auch die Nachwelt, Mozarts Musik vor da Pontes Text zu retten. Am dauerhaftesten hielt sich die Bearbeitung des von Wagner so geschmähten Eduard Devrient, der die Handlung vollkommen umschrieb und aus den unbeständigen Damen Muster an Treue und Redlichkeit machte. Wo es dann gar nicht mehr zusammenging, strich man Arien und Szenen weg - unter anderem ausgerechnet das von Beethoven paraphrasierte Rondo!

Erst Mahler hat die wahren Verhältnisse zwischen Text und Musik und damit die Doppelbödigkeit des Werks wieder in ihr Recht gesetzt. Noch ein knappes Jahrzehnt nach seiner Wiener Einstudierung versuchte man in Deutschland einen kompletten »Cosi»-Neustart: Karl Scheidemantel unterlegte den Arien und Ensemblesätzen Mozarts ein Libretto nach Calderons Komödie »Dame Kobold».

Insofern sind wir doch gescheiter geworden und spielen die Oper »Cosi fan tutte«, wie Mozart sie notiert hat; wenn wir denn gerade theaterspielen dürfen . . .


19. Mai



Pariser Musik-Charme durch Islands Brille


Klavier-Album. Vikungur Olafsson koppelt auf seiner jüngsten CD Clavecin-Musik von Rameau mit Werken von Claude Debussy und zieht aus diesem Jahrhunderte überspannenden pianistischen Bogen einigen Gewinn.

Wie kann sich ein Pianist in Zeiten wie diesen von der enormen Konkurrenz absetzen? Angesichts der zahlreichen aus allen Erdteilen kommenden Kollegen, die alle sehr schnell und manche noch schneller das Repertoire von Bach bis Prokofieff herunterspielen können, ohne viele Fehler zu machen, punktet man am leichtesten mit klug zusammengestellten Programmen, die Musikfreunden Entdeckungen bieten und neues Licht auf altbekanntes Repertoire werfen.

In dieser Hinsicht ist der isländische Pianist Vikungur Olafsson Weltmeister. Er spielt im Übrigen auch hervorragend Klavier. Aber das unterscheidet ihn noch nicht von der beängstigenden Phalanx an Pianisten seiner Generation.

Das jüngste Album Olafssons bietet dem Hörer in jeder Hinsicht eine vergnügliche Musik-Stunde. Auch wer nicht vorab liest, was der Künstler in seinem klugen selbstverfaßten Begleittext über die historischen Querverbindungen zu erzählen weiß, wird sich von dem über fast zwei Jahrhunderte gespannten Bogen zwischen Jean-Philippe Rameau und Claude Debussy fesseln lassen.

Von der spätbarocken Clavecinisten-Artistik bis zum impressionistischen Farbenspiel führt oft nur ein kaum merklicher Gedankensprung. Pittoreskes Spiel mit Bildern und Formen herrscht hier wie da, ob Rameau die Vögel singen läßt oder Debussy die Gärten mit unablässig strömendem Regen tränkt.

Die Lust am klingenden Geschichten-Erzählen ist beiden Komponisten eigen. Ebenso die Kunst, aus den tönend vorgestellten Bildern immer neue Lösungen für die musikalische Form zu finden.

Wobei Olafsson seine Programmfolge virtuos gemischt hat: Die Folge der Tonarten bindet die Stücke oft untrennbar aneinander - oder schafft die nötigen Zäsuren, wo die innere Bewegung der Musik kaum eine Unterscheidung zwischen Ancien Regime und Belle Epoque möglich machen würde.

Zudem spielt Olafsson mit einem Sinn für strukturelle Klarheit, die nichts verschwimmen lässt. Auch dort, wo sich - nicht nur bei Debussy - Assoziationen zu impressionistischer Pastell-Technik einstellen, sorgt eine ausgeklügelte Pedalisierung für perfekte Stimmentrennung.

Wo perlende Staccati und Leggiero-Spiel verlangt sind - etwa in den Trillern und Ziernoten der »Joyeuse« und der »Zyklopen« aus Rameaus D-Dur-Suite -, ist Olafsson ohnehin in seinem Element. Als Arrangeur führt er uns mit einer Einrichtung des Intermezzos aus Rameaus Spätwerk »Les Boreades« behutsam in die zarteren Stimmungswelten, die danach Debussys »fille aux cheveux de lin« und (harmonisch ins Offene schweifend) »Ondine« beschwören, ehe die CD - wie denn auch anders? - mit der »Hommage a Rameau« schließt. Faszinierend!


18. Mai



Zwischentöne


Was alles gewesen wäre, wenn nicht alles . . .


Wer sich auf »Cosi fan tutte« unter Muti gefreut hat, kann auf einen Livemitschnitt von den Salzburger Festspielen zurückgreifen - und grübeln.

Im viralen Verwirrspiel sind wir ins entscheidende Stadium eingetreten. In der klassischen Form muß sich ja auf dem Höhepunkt der Durchführung herauskristallisieren, ob die Reprise zu einem fröhlichen, einem lieto fine führen, oder ob sie tragischen Zuschnitts sein wird.

Ringsum gehen plötzlich die Grenzen auf, die Politik rechnet uns vor, wie viele Dutzend Menschen ab welchem Zeitpunkt einer Kulturveranstaltung beiwohnen dürfen; und die Festspielveranstalter ziehen ihre Schlüsse daraus. Bregenz sagt ab, Salzburg will spielen. Wie das zusammenpaßt, wird sich zeigen.

Inzwischen blättert der Musikfreund in Katalogen, die ihm die fernere Opern- und Konzertzukunft weissagen. Und er schaut vielleicht auch nach, was er diese Woche versäumt, weil die Saisonpläne 2019/20 ja über den Haufen geworfen wurden.

Diese Lektüre ist übrigens lehrreich. Vor allem korrigiert sie das perfide Bild, das Boulevardmedien zuletzt von der jüngeren Vergangenheit des Wiener Musiklebens gezeichnet haben. Da wurde der Eindruck erweckt, man müsse dem Opernleben der Stadt zwecks Qualitätssicherung endlich die nötige Energie zuführen.

Die Liste der virusbedingten Absagen lehrt hingegen, daß an der Wiener Staatsoper zuletzt in einer Woche mehr spannende Besetzungen angesagt waren als anderswo in einem oder gar mehreren Monaten.

Was wird uns dieser Tage vorenthalten? Ein »Don Giovanni« mit Carlos Alvarez, Erwin Schrott, Dmitry Korchak und Irina Lungu. Eine »Arabella« mit Camilla Nylund, Christiane Karg, Michael Schade und Tomasz Konieczny. »Freischütz« mit Nylund, Konieczny und Andreas Schager.

Das alles, wohlgemerkt, innerhalb einer Woche. Sie hätte mit der Premiere von Mozarts »Cosi fan tutte« geendet. Diese wiederum hätte das Comeback von Riccardo Muti markiert und ein junges Sängerteam mit Marianne Crebassa, Julie Fuchs und anderen ins Haus am Ring gebracht.

Mehr muß man dazu nicht sagen, darf aber fernere Assoziationen bemühen: »Cosi« galt ja lang als Schmerzenskind und wurde von Gustav Mahler und Richard Strauss quasi gegen den Beschluß der Musikgeschichtsschreibung als dritte im Bunde der unverzichtbaren Da-Ponte-Opern durchgeboxt - pardon: -dirigiert.

Karl Böhm war dann der Sachwalter und Riccardo Muti hat ihn mit einem allseits unerwarteten Sensationserfolg in Salzburg 1982 beerbt. Er galt seither als Mozart-Kapazität, unanfechtbar jenseits der Originalklangmode - und war sogar etwas wie der Festspielkronprinz an der Seite von Kaiser Herbert.

Es kam anders. Was für manche aussehen mag wie ein lieto fine, ist oft überschattet - wie in »Cosi fan tutte».


17. Mai



Nicht jedes Bildnis klingt »bezaubernd schön«


Von der »Hunnenschlacht« bis zum »Floß der Medusa«: Auch
in der Musik gibt es nachgestellte Bilder.


Musikalisch »nachgestellte« Bilder? Die gab es en detail schon in der Renaissance - wenn Madrigalisten versuchten, Alltagsgeräusche wie das Geschrei auf einem Marktplatz singend nachzuahmen. In der Oper ging man bald daran, die Stimmung eines Schauplatzes, das »Lokalkolorit« mit raffinierten Klangmalereien heraufzubeschwören - je finsterer, desto aufregender für das Publikum. Denken wir an die düstere Kerkerstimmung am Beginn des zweiten Akts von Beethovens »Fidelio«, an Webers »Wolfsschlucht« im »Freischütz«, ganz zu schweigen von Wagners wilden Stürmen, seinem bukolischen »Waldweben« und den »Karfreitags»-Zaubereien.

Da war der Weg längst geebnet für eine eigene Bilderwelt musikalischer Natur. Man konnte ganze Gemälde in Klängen nachzeichnen. Das von Hector Berlioz und Franz Liszt geschaffene Vehikel der »symphonischen Dichtung« schien wie geschaffen dafür.

Liszt war der erste Komponist, der ein musikalisches Werk nach einem Gemälde schuf und auch nach der Vorlage benannte. Wilhelm von Kaulbachs für das Treppenhaus des Neuen Museums in Berlin geschaffene »Hunnenschlacht«, 1837 vollendet, erhielt 1857 ihren symphonischen »Soundtrack».

Tatsächlich kann man ja ein solches Monumentalgemälde wie einen Film anschauen. In mehreren Ebenen wird da eine Geschichte erzählt. Wie die Aufmerksamkeit des Betrachters von Detail zu Detail wandern muß, um die Bildersprache zu dechiffrieren, entwickelt die Musik ihre Klangbilder auf der Zeitachse und verwandelt auf ihre Weise optische in akustische Signale.

Kriegslärm und Dankgebet. Der tief- gläubige Katholik Liszt beschreibt seine Intentionen als dramatische Schilderung der Zerstörung der »Finsternis des Heidentums« durch das »Licht des Christentums». »Wir hören«, so der Komponist, »die Hörner-Schlachtrufe der Hunnen, denen die Trompetensignale der Römer antworten.« Orgelklänge verkünden mit dem Choral »Crux fidelis« den Sieg des Christentums.

Liszts Satz »Der Schlachtgesang wird zum Dankgebet« benennt einleuchtend seine virtuose, für die kommenden Komponistengenerationen vorbildliche Kompositionstechnik: Die musikalischen Motive verwandeln sich.

Das klassische Durchführungsprinzip wird zur inhaltlichen Metamorphose, und diese macht Musik für den Hörer »anschaulich». Was mit Liszt für die Symphonik nutzbar geworden war, verwandelte Richard Wagner in die psychologische Differenzierungskunst seiner Leitmotivik.

Vom ehrgeizigen Projekt einer »Weltgeschichte in Bildern und Tönen von Wilhelm Kaulbach und Franz Liszt« blieb nur die »Hunnenschlacht« übrig. Aber Modest Mussorgsky konnte erstmals einen Zyklus von »Bildern einer Außtellung« realisieren - wenn auch weniger staatstragend als subjektivistisch.

Mehrere Toteninseln. Max Reger schuf einen malerischen Orchesterzyklus nach Gemälden von Arnold Böcklin. Da geigt der »Eremit« spätromantisch üppig, Nixen und Tritonen spielen in den Wellen und ein Bacchanal tobt. Als »Adagio« der pittoresken viersätzigen Symphonie fungiert eine melancholisch tönende Nachbildung der »Toteninsel».

Dieses Sujet hat nicht nur Böcklin derartig fasziniert, daß er es in mehreren Varianten gemalt hat. Auch einige Komponisten waren davon höchst beeindruckt: Sergej Rachmaninow hat eine Tondichtung »über« dieses Bild geschrieben, die zu den ausdrucksvollsten Orchesterwerken der Spätromantik gehört. Auf der Opernbühne hatte die Bildende Kunst seit jeher mitzubestimmen. Gerade in unseren Tagen interessieren sich viele Künstler dafür, auch Bühnenbilder zu malen.

Aber es wurden sogar Bilder zu Opernszenen. Wystan Hugh Auden ließ sich von William Hogarths liederlichen Bildern über »The Rake's Progress« zu einem der originellsten Opernlibretti inspirieren: Igor Strawinsky schuf Mitte des 20. Jahrhunderts die Musik dazu. Er machte die stilistische Mixtur perfekt. Seine Rezitative und Arien basieren auf musikalisch-formalen Vorbildern aus dem Barock und der Klassik.

Für den Konzertsaal schrieb Hans Werner Henze knapp 20 Jahre später als Begleitmusik zum kollektiven Aufschrei der Studentenrevolte sein Oratorium »Das Floß der Medusa». Inspiriert von Theodore Gericaults Gemälde erzählt es die Geschichte schiffbrüchiger Matrosen des königlich-französischen Kriegsschiffes, die von den Offizieren hilflos auf einem Floß treibend zurückgelassen wurden.

Das tönende Manifest, in das der Rhythmus der Ho-Chi-Minh-Rufe hereinklingt, hat seinen Weg auch auf die Bühne gefunden - und kommt meist ohne Anlehnung an das Bild aus dem Louvre aus. Oft sind musikalische Zeichen bildhaft genug.


16. Mai



So missglückt wäre die Eröffnung der Wiener Festwochen


Die Beethoven-Hommage gibt es nun auf Video. Bei ihr stimmt fast nichts.

Ernsthafte Versuche einer Würdigung wären schon dabei gewesen. Florian Boesch oder das Koehne-Quartett waren ja angekündigt. Was sonst auf dem Rathausplatz zur Festwocheneröffnung im Beethoven-Jahr zu erleben gewesen wäre, zeigt die virtuelle Variante im Internet, kurz, wenn auch nicht völlig schmerzlos.

Zunächst erscheint ein alter Mann, zieht seinen Dreispitz und stellt sich als Ludwig van Beethoven vor, um dann, notabene völlig unrhythmisch, das berühmte Kopfmotiv der Fünften zu klopfen; nicht ins Klavier, sondern in ein Cembalo. Beginnend mit der Kopfbedeckung, stimmt also hier nichts. Dann die künstlerischen Beiträge, neue Interpretationen oder Anverwandlungen Beethoven'scher Geistesblitze . . .

Lukas Lauermann überformt die Tropfen der Mondscheinsonaten-Begleitung mit neuen Cellokantilenen, ganz minimalistisch, wie unsere Generation halt die Noten eines Maximalisten überschreiben kann. »Mischwerk« macht aus dem langsamen Satz der »Pathetique« Schrammelklänge. Gar nicht ohne Stimmung, dennoch setzt der Video-Beethoven die Coronamaske auf. Das Hörrohr legt er an, sobald die Strottern auf die Melodie der »Ode an die Freude« das »alle Menschen san ma z'wida« anstimmen. Das hat er anders in Erinnerung. Wie viel Biss ist uns seit Kurt Sowinetz, seligen Angedenkens, doch verloren gegangen.

Kann Assoziatives aus unseren Tagen nie Biss haben? Das melancholische »Joyful« Marie Spaemanns hat keinen, noch weniger die notorischen Musical-Heultöne von Ankathie Koi, und am wenigsten die hilflosen Improvisationen von Phoen Extended. Zuletzt klärt uns Beethoven aber auf, daß er nicht Beethoven ist, sondern Helge Schneider - »und tschüs». Daß dieser Wiener Klassiker kein Wiener war, schien uns noch nie so einleuchtend.


13. Mai



20

Wie man beim Musikhören gescheiter wird


Online-Salon. Die Cellistin Raphaela Gromes und der Pianist Julian Riem bitten jeden Freitag zur musikalischen Plauderstunde. Zuletzt wurden sie sogar von Brigitte Fassbaender »virtuell besucht».

In Zeiten der Krise boomen musikalische Angebote im Internet. Viele stellen selbstproduzierte Musikvideos ins Netz. Manche streamen Konzerte live. Einige wenige sind wirklich kreativ. Darunter die Cellistin Raphaela Gromes und der Pianist Julian Riem.

Die beiden laden wöchentlich zu einem amüsant-lehrreichen Gesprächskonzert. »Wir haben vor, während der Corona Krise jede Woche ein Video zu drehen und immer Freitag um 17 Uhr hochzuladen«, meint die Cellistin, »mal sehen, wie lange uns dazu was einfällt und vor allem wie lange die Krise noch dauert . . . Aber klar, da wir gerade keine Konzerte spielen, haben wir ja Zeit, Videos zu produzieren».

Die ersten beiden Ausgaben dieses musikalischen Internet-Vergnügens galten dem aufsehenerregenden Richard-Strauss-Projekt des Künstler-Duos, das vor kurzem (bei Sony) die Erstaufnahme der kürzlich in Garmisch entdeckten Urfassung der frühen Cello-Sonate auf CD präsentierte.

Ein unbekanntes Werk eines berühmten Komponisten entdeckt man ja nicht alle Tage. Strauss' Sonate ist in ihrer als Opus 6 gedruckten Form allen Cellisten zwar wohl bekannt. Doch die erste Fassung unterscheidet sich so deutlich von der veröffentlichten Version, daß man mit Fug und Recht von einem anderen Werk sprechen darf.

Das erläutern Gromes und Riem in ihrem locker-hintergründigen Video-Feuilleton und liefern gleich die nötigen Tonbeispiele dazu. Dabei erfährt man unter anderem, daß der jugendliche Komponist Skizzen zu seiner Sonate als Sechzehnjähriger im Mathematik-Aufgabenheft notiert hat. Und daß er 1881 mit seinem Werk den Kompositionswettbewerb der Neuen Zeitschrift für Musik nicht gewonnen hat.

Dafür war die Uraufführung durch einen Orchesterkollegen von Vater Strauss, Hans Wihan, im Jahr darauf ein Riesenerfolg.

Ein Versprechen für eine der kommenden Ausgaben der Video-Serie: Gromes und Riem werden auch jene beiden Arbeiten vorstellen, die von der Jury damals dem Werk des jugendlichen Genies Richard Strauss vorgezogen wurden: Die Komponisten hießen Witte und Jensen. Man lernt nie aus . . .

Die jüngste Ausgabe des Online-Musiksalons galt aber noch einmal Richard Strauss - und zwar seiner populärsten Oper, dem »Rosenkavalier». Julian Riem hatte als »Zugabe« für die CD-Ausgabe der beiden Sonaten die »Rosenkavalier-Walzerfolgen« auszugsweise für Cello und Klavier arrangiert.

Zur Präsentation dieses Gustostückerls baten die beiden Musiker sogar den Rosenkavalier schlechthin, Brigitte Fassbaender, um einen virtuellen Besuch in ihrem Salon; und einen Kommentar zum Stück, für die Sängerin die »Komödie aller Komödien».

»Behind the Scenes« von Raphaele Gromes und Julian Riem ist auf Youtube zu sehen.


12. Mai



Muß sich ein Kuckuck an Beethoven halten?


Musik und Natur. Die Zeiten der Isolation haben auch ihr Gutes. Wer Wald und Feld rings um Wien durchstreift und das Glück hat, daß kein Windkraftwerk akustisch und optisch die Eindrücke trübt, kann ungestört den Vögeln lauschen.

Die Klimadiskussion sollen wir nicht vergessen. Das wird derzeit immer wieder eingemahnt. Und es wird berechnet, wie sehr der weltweite Ausfall von Flügen und sonstigen Schadstoff-Emittenten der Atmosphäre nützt. Der akustische Aspekt wird dabei gern vernachlässigt. Daß jetzt nicht im Minutentakt die Jets über uns hinwegdonnern, hat für hellhörige Gemüter den positiven Nebeneffekt, daß es stiller draußen im Land wird.

Man muß derzeit nur Landschaften finden, die optisch noch nicht durch die Verheerungen der Windrad-Industrie zerstört wurden. Wer nicht inmitten eines Kraftwerks spazieren gehen möchte, muß die euphemistisch »Windparks« genannten Zonen meiden - und das werden rund um Wien immer weniger.

Aber wer das Glück hat, sein Auge über eine liebliche bewaldete Hügellandschaft schweifen lassen zu dürfen, ohne von 200 Meter hohen Vogelscheuchen-Turbinen umzingelt zu sein, der erlebt derzeit einen Frühling, wie er selten war. Zumindest in meiner Erinnerung hat es lang nicht mehr so herrlich geduftet; und auch was man hören kann, weckt Erinnerungen an manches romantische Frühlingsgedicht.

Und an die musikalischen Opfer, die dieser Jahreszeit willig gebracht worden sind. Man lauscht den summenden Bienen und Hummeln unter blühenden Bäumen. Und hört die Vögel singen, so ungestört wie vielleicht nie zuvor.

Wie genau ruft’s aus dem Wald?

Singen, rufen und schreien - mit welchen Vokabeln wurden die Nachtigallen, Finken und Meisen nicht schon bedacht? Und der prägnanteste von allen, der Kuckuck. Wie der »aus dem Wald ruft« lernen wir ja schon als Kind zu singen.

Der abfallende Kleinterz-Ruf ist so sprichwörtlich (oder sollte man sagen singtonlich?) geworden wie die Trara-Quart der Feuerwehr, die sogar beinah unbeschadet die aus Amerika importierte Sirenen-Revolution überlebt hat.

Der Kuckuck hat sich mit seiner Terz ja geradezu in den genetischen Code unseres Musikverständnisses eingeschrieben. Freilich kommen wir bei unseren Wanderschaften in der derzeit so ungewohnt von allen zivilisatorischen Störgeräuschen befreiten Natur rasch darauf, daß uns Volks- und Kunstlied einen etwas reduzierten Begriff von den Vogelstimmen geben.

In der Wirklichkeit von Hain und Flur ruft mancher Kuckuck zwar so, wie er's laut Kinderlied in der Kuckucksschule gelernt haben sollte. Es gibt aber Dissidenten, die sich um die kleine Terz nicht scheren. Das hat schon Gustav Mahler bemerkt, der seine erste Symphonie geradezu aus einem Kuckucksruf heraus entwickelt.

»Ging heut morgen übers Feld«, singt der Bariton zum Thema des ersten Satzes in jener Version, die Mahler in seinen »Liedern eines fahrenden Gesellen« verwendet. In der Symphonie entsteht die Melodie aus dem Kuckucksruf der Einleitung - und dieser Kuckuck singt keine kleine Terz, sondern eine Quart.

Wer nun attacca das Lob der künstlerischen Freiheit anstimmt, muß sich sagen lassen: Die Natur ist auch diesmal wieder stärker. Diese Erkenntnis bescheren uns die ungestörten Spaziergänge, bei denen der echte Kuckuck sein Weibchen schon auch einmal im Feuerwehrton anruft. Es gibt ihn, den Quart-Kuckuck! Wie auch die Terz den Kuckucken so variantenreich geläufig ist wie uns bei der Unterscheidung zwischen Dur und Moll.

Volkslieder-Dur und Mazurken-Moll

Davon gibt uns Beethoven Kunde, dem bei seinen Spaziergängen im Schreiberbachtal die große Terz entgegentönte. So läßt der Meister denn auch am Ende des zweiten Satzes seiner »Sinfonia pastorale« den Kuckuck im Terzett mit Wachtel und Nachtigall das letzte Wort behalten. Er darf die Passage der Vogelrufe in selbstgewisser Bestimmtheit abkadenzieren: mit einer großen Terz.

Kein Mensch hat je moniert, daß diese symphonischen Anverwandlungen nicht mit unserer Liederfahrung übereinstimmen. Bei Beethoven wie bei Mahler bemerkt man den Unterschied kaum. Und kein Zweifel besteht, daß es der Kuckuck ist, der da ruft. Schon die Hersteller von Kuckuckspfeifen machen da ja ihre Unterschiede.

Bei Johann Strauß finden wir »Im Krapfenwaldl« - und ursprünglich übrigens »Im Wald von Pawlowsk« - unseren altvertrauten Kleinterz-Rufer. Während sein Bruder als Unglücksbote im Konradsweiler Wald in Gottfried von Einems Vertonung von Dürrenmatts »Besuch der alten Dame« sich eher an Beethoven hält.

Und die Realität? Jüngst rief im Norden Wiens ein Kleinterz-Kuckuck - und es wollte sich keine C-Dur-Harmonie dazu einstellen, so bestimmt hat er das zweigestrichene E betont. Vielleicht war's ein Melancholiker, oder er rief nach einer besonders zart besaiteten Kuckuckin. Jedenfalls klang es romantisch-elegisch nach e-Moll - also weniger nach Beethoven als ein wenig chopinesk.


11. Mai



Zwischentöne


Die feinen Härchen am Pelzkragen der Robe von Maria Callas


An der Mailänder Scala gibt es derzeit ebenso wie in Wien keine Opernaufführungen. Aber im Netz sind beide Häuser präsenter denn je.

Das wird bestimmt auch in den Jahren nach dem Coronastopp eine virtuelle Anlaufstelle für Opernfreunde bleiben: Die Mailänder Scala hat eben eine Vereinbarung mit Google Arts & Culture geschlossen, damit ihre unschätzbar reiche Sammlung an Fotographien für die Welt sichtbar wird.

Für dieses, der ganzen Welt offene, Scala-Museum, abrufbar per Mausklick über die Website des Hauses, hat man mit modernsten Mitteln 259.000 Bilder aus dem Archiv digitalisiert. Sie stehen künftig in höchstmöglicher Auflösung im Internet.

So wird die Geschichte eines der drei oder vier bedeutendsten Opernhäuser der Welt lebendig, das anders als die große Konkurrentin, unsere Staatsoper, immer wieder wichtige Uraufführungen herausgebracht hat.

Zu sehen sind Bühnenbilder, Kostüme, Dokumentationen von legendären Auftritten - etwa vom Konkurrenzkampf zwischen Diven vom Format einer Maria Callas und einer Renata Tebaldi. Außerdem wichtige Manuskripte, die sich im Archiv erhalten haben, beispielsweise das Libretto, das Verdi bei der Komposition seines »Nabucco« als Vorlage auf dem Schreibtisch vor sich liegen gehabt hat.

So läßt sich nun beispielsweise die Arbeit an einer Opernproduktion mit der großen Callas von der Anprobe mit dem Kostümbildner bis hin zur Archivierung der Roben nach Ende der Stagione studieren. Die hochauflösenden Fotographien ermöglichen Einblicke bis hin zu den einzelnen Härchen am Pelzbesatz.

Google hat für die Abbildungen eine »Art Camera« mit einer Auflösung von bis zu zwölf Milliarden Pixel verwendet, wie sie für Fotographien von Gemälden verwendet wird.

»Street View« ermöglicht es Opernkiebitzen überdies, die Handwerker der Scala bei der Arbeit an den Bühnenbildern zu beobachten.

Dominique Meyer, derzeit Intendant der beiden berühmtesten europäischen Opernhäuser, kann zwar weder in Wien noch in Mailand Vorstellungen ankündigen, aber er bringt sowohl die Staatsoper als auch die Scala in Krisenzeiten ihrem Publikum via Internet näher. Während die Scala nun ihre Museumspforten öffnet, schaltet die Streamingplattform www.staatsoperlive.com täglich eine Aufzeichnung aus den vergangenen Jahren frei. Heute, Montag, ist tagsüber noch der »Barbier von Sevilla« mit Margarita Gritskova und Juan Diego Florez zu sehen, abends gibt es dann Nurejews »Schwanensee« mit Vladimir Shishov und Olga Esina, morgen »Ariadne auf Naxos« mit Soile Isokoski, Johan Botha und Daniela Fally unter Christian Thielemann.

Eine kleine Retourkutsche an Wiens Boulevardjournalistik, die zuletzt suggerierte, die jüngste Aufführungsgeschichte der Wiener Oper sei eine Art »Durststrecke« gewesen . . .


6. Mai



Die Tragödie der Hässlichkeit


Oper. Zemlinskys »Zwerg« nach Oscar Wilde erfuhr an der Deutschen Oper Berlin eine musikalisch packende, szenisch logische Neudeutung.

Die Deutsche Oper Berlin dokumentiert ihre Aufarbeitung des vernachlässigten Opern-Repertoires der Zwischenkriegszeit auf DVD. Das ist verdienstvoll, auch wenn kaum ein Stück so auf die Bühne kommt, wie's im Libretto vorgesehen ist. Im Vorjahr ist der Mitschnitt einer musikalisch beachtlichen Produktion von Erich Wolfgang Korngolds »Wunder der Heliane« in der Regie von Christof Loy herausgekommen.

Eben erschien Alexander von Zemlinskys »Zwerg«, das »Drama des hässlichen Menschen« - auch von Franz Schreker damals in »Die Gezeichneten« behandelt - in Anlehnung an Oscar Wildes »Geburtstag der Infantin». Mit Korngolds vielschichtigem Werk kam auch diese Zemlinsky-Oper - wie alle anderen Werke dieses Komponisten - unter die Räder der Zeitläufte; als »entartet« verboten in Hitlers »Reich«, danach aber, die zweite Perfidie, von den Vordenkern der Avantgarde unter der Führung Theodor Adornos als »rückschrittlich« verdammt und damit von der Rückkehr in die Spielpläne ausgeschlossen.

Umso wichtiger die Landnahme in Zeiten der sogenannten Postmoderne. Anders als im Falle der verrätselten Dramaturgie von Korngolds »Heliane« kann der »Zwerg«, den eine verzogene Königstochter mit eitlen, unmenschlichen Spielen in den Tod treibt, unmittelbar berühren. Auch wenn die Regie (Tobias Kratzer) die Handlung in einen modernen Konzertsaal verlegt.

Der Bezug zu Zemlinskys eigener Geschichte - zu Schönberg-Musik zeigt man einleitend seine unglückliche Liebe zur jugendlichen Alma Schindler - scheint sinnvoll. Die tragische Geschichte des missgestalteten Zwergs, der an seinem Spiegelbild sein Schicksal zu begreifen lernt, wird im szenischen Doppelspiel zwischen dem Tenor (David Butt Philip) und einem Schauspieler (Mick Moris Mehnert) sinnfällig. Elena Tsallagova gibt die kalte Donna Clara, Emily Magee ihre mitfühlende Zofe - und das Orchester spielt unter Donald Runnicles die leidenschaftlichen Klänge Zemlinskys ebenso leidenschaftlich aus.


4. Mai



Zwischentöne


Cellisten, prägend für die jüngere Interpretationsgeschichte


Vergangene Woche verlor die Musikwelt Lynn Harrell und Martin Lovett, zwei Meister der profundesten Töne.

Zwei Meistercellisten sind Ende der vergangenen Woche von uns gegangen. Der eine, Lynn Harrell (Jahrgang 1944), war für die USA so etwas wie die amerikanische Antwort auf Mstislaw Rostropowitsch. Nicht von ungefähr war er ausersehen, 2005 zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs das Zweite Schostakowitsch-Konzert in Moskau zu spielen; immerhin markierte das Datum ja nicht nur das Kriegsende, sondern auch den Beginn des Kalten Kriegs; und etwas von Angst und Verzweiflung schwang dann auch im Spiel Harrells mit.

Oft haben die Kritiker seinen singenden, samtig-dunklen Ton gelobt, Und man sollte hinzufügen, daß es stets eine instrumentale, auf akkurate Rhythmik bedachte Gesanglichkeit war, die er pflegte. Die künstlerische Offenheit nicht zu vergessen, die der Sohn des Met-Baritons Mack Harrell an den Tag legte, der nebst Verdi und Wagner in New York auch in Dimitri Mitropoulos' bahnbrechender Aufnahme von Bergs »Wozzeck« die Titelpartie sang.

Haben wir mit Lynn Harrell einen charismatischen Solisten verloren, der sein Leben lang mit Freude (und bedeutenden Partnern) Kammermusik gemacht hat, ging mit Martin Lovett einer der Siegelbewahrer der großen europäischen Streichquartettkultur von uns.

Lovett war der einzige Nicht-Wiener im legendären Amadeus-Quartett, das im Internierungslager für »Enemy Aliens« im englischen Exil zueinander gefunden hatte: Vierzig Jahre lang konnte sich das Spiel von Norbert Brainin, Siegmund Nissel und Peter Schidlof über dem profunden Cellofundament Lovetts frei und partnerschaftlich entfalten.

Seit ihrem Debüt in der Londoner Wigmore Hall, 1948, feierte die Welt die Symbiose dieser vier Musiker, die - wiewohl aufgrund der Grausamkeiten der Zeitläufte in London basiert - die Feinsinnigkeit und Geschmeidigkeit der von Ignaz Schuppanzighs Zeiten ererbten wienerischen Spielkultur auf professionellstem Niveau hochhielten wie kein zweites Ensemble.

Für die Jüngeren war das »Amadeus Quartett« der Leitstern. Valentin Erben, Cellist des später ebenso legendären Alban-Berg-Quartetts, erinnert sich an die eigene Aufbauphase und die Begegnung mit Lovett: »Wir spielten ihm ein Haydn-Quartett vor. Beim Menuett nahm er mir das Cello aus der Hand, wortlos, und spielte mit den anderen ein paar Takte - und ich verstand mit einem Mal die Rolle des Cellos als Spiritus tempi.«

Martin Lovett, der letzte der vier »Amadeus»-Musikanten, starb am 29. April im 94. Lebensjahr.


27. April



Zwischentöne


Was dürfen wir von der Staatsoper in Zukunft erwarten?


Wie meinte schon Johann Nestroy: »Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er meistens größer ausschaut als er tatsächlich ist.«

Was ich von den Plänen des künftigen Staatsoperndirektors halte, fragen unsere Leser per E-Mail. Die Kommentare, die im Gefolge der Spielplanpräsentation in den Boulevardmedien zu lesen waren, sind tatsächlich skurril. Man suggeriert einen Aufbrauch in eine neue Glanzzeit nach langer Durststrecke.

Das ist natürlich grotesk. Die Staatsoper stand vor der Coronasperre nicht nur finanziell, sondern auch künstlerisch so gut da wie lange nicht vor Beginn der Ära Dominique Meyers. Das vorausgeschickt, darf man den Spielplan von Meyers Nachfolger durchaus als ein gutes Versprechen bezeichnen. Das, worauf es letztendlich immer noch ankommt, scheint nämlich gewährleistet: Die großen Sänger dieser Welt kommen, um hier in Premieren und im Repertoire zu singen.

So zu tun, als wäre das erst ab September 2020 der Fall, ist lächerlich. Ebenso lächerlich wäre es, nachzurechnen, welche Sänger jetzt weniger oder mehr als früher im Haus am Ring auf der Bühne stehen werden.

Netrebko und Co. sind immer da gewesen und werden auch wieder da sein. Daß Asmik Grigorian hier debütiert, ist so erfreulich, wie es schade ist, daß Nina Stemme oder Adrianne Pieczonka gar nicht kommen. Daß Jonas Kaufmann mehr, Krassimira Stoyanova oder Tomasz Konieczny viel weniger singen, muß man nicht aufwiegen. Die Summe an Starabenden wird in etwa gleich bleiben. Die Frage ist ja viel eher, wie man es künftig mit dem Ensemble halten will, dessen Qualität zuletzt wieder auf erstaunliches Niveau geführt werden konnte. Hier findet man viele Garanten für exzellente, »aus dem Haus« besetzte Aufführungen nicht mehr.

Dafür liest man neue Namen. Es wird darauf ankommen, wie diese sich bewähren. Grundsätzlich setzt aber offenbar auch Bogdan Roscic darauf, wichtige Partien mit Ensemblesängern besetzen zu können. So singt, um zwei Neuzugänge zu nennen, Andre Schuen den Eugen Onegin und den Figaro-Grafen, Hanna Elisabeth-Müller erstmals die Arabella (bei Thielemann in Salzburg war sie noch Zdenka). Da geht man - und das ist gut so - das eine oder andere Risiko ein. Auch Stars vom Format einer Elina Garanca gehen ja aufs Ganze, wenn sie sich Partien wie die Kundry erobern. Für dergleichen war die Staatsoper stets ein guter Boden. Denken wir an die Weltdebüts, die uns Netrebko, Beczaa, Florez und andere in der Ära Meyer geschenkt haben.

Daß ein Musikdirektor wie Philippe Jordan auch diesbezüglich die Zügel in der Hand haben wird, kann nicht schaden. Daß wegen der Reduktion des Repertoires in der ersten Spielzeit nur je drei Werke von Mozart und Wagner auf dem Programm stehen, schmerzt hingegen ein wenig.

Hausdebüts von Regisseuren wie Castorf oder Tcherniakov hätten meinetwegen nicht anberaumt werden müssen. Geschmackssache? Es muß sich dann im Tagesbetrieb bewähren. Wie alles andere auch. Noch reden wir von geduldigem Papier, auf dem das Jahresprogramm gedruckt ist.


22. April



Sibelius in neuer Gesellschaft


Rising Star. Geiger Emmanuel Tjeknavorian präsentiert auf seiner ersten Orchester-CD auch ein Werk seines Vaters.

Emmanuel Tjeknavorian, ein »Rising Star« der European Concert Hall Organisation, ist der bemerkenswerteste junge Geiger, der zuletzt aus der Talenteschmiede von Gerhard Schulz in Wien hervorgegangen ist. Temperament, ein Gefühl für leuchtende Klangentfaltung und eminente rhythmische Feinnervigkeit zeichnen sein Spiel aus.

Daß er aus einem Musikerhaushalt stammt, darf man anhand seiner jüngsten CD überprüfen: Tjeknavorians Vater Loris ist ein exzellenter Dirigent und komponiert auch. So konnte Emmanuel seine Aufnahme des viel gespielten Sibelius-Violinkonzerts mit der Ersteinspielung des Konzerts aus der Feder seines Vaters kombinieren, was diese CD für Sammler nicht nur wegen der Interpretationen durch den jungen Solisten interessant macht.

Loris Tjeknavorians Violinkonzert ist durchaus eine Bereicherung des Repertoires, steht überdies ganz in der Tradition der romantischen Solokonzerte und verrät, woher die Familie stammt: Ganz unverhohlen knüpft der Komponist an das Vorbild Aram Katschaturian an. Schon der Einstieg in den ersten Satz klingt wie ein gezähmter Widerhall von dessen wilden Ballettmusiken. Armenische Volksmusik steht hier wie dort Pate.

Entsprechend tänzerisch beschwingt gehen Geiger und Orchester - die Musiker des Hessischen Rundfunks, Frankfurt, unter Pablo Gonzalez - ans Werk. Die große Solokadenz gegen Ende des Eingangs-Allegros läßt dann (etwas experimenteller im Klang als die übrige, durchwegs spätromantisch getönte Musik) die Violinfarben schimmern und leuchten.

Ein stiller, melancholisch-verträumter Gesang steht inmitten des Werks, das mit einem Allegro con spirito dann so geistvoll schließt, wie die Vortragsbezeichnung erhoffen lässt, und zündend genug, um die nötige Balance mit dem energetischen Kopfsatz herzustellen.

Hell leuchtende Töne

Sibelius dann als Erinnerung daran, daß der Geiger beim Sibelius-Wettbewerb 2015 gleich zwei Preise einheimsen konnte. War die Aufnahme des Tjeknavorian-Konzerts eine Studioproduktion, wurde diese Wiedergabe live mitgeschnitten bei Tjeknavorians Debüt in Frankfurt. Da hatte der Geiger den nötigen großen Atem für die weit gewölbten Formbögen in den ersten beiden Sätzen.

Was für Tjeknavorians Musik zunächst vor allem an Leichtigkeit und Spritzigkeit aufgeboten war, wandelt sich hier in einen satt leuchtenden melodischen Strom, ohne daß die geigerische Leichtigkeit und der für Emmanuel Tjeknavorian charakteristische, helle Ton verloren ginge. Der wird nirgends durch künstliches Espressivo eingedunkelt.

Die technisch tückischen Momente im Finalsatz meistert Tejknavorian ohne Federlesens. Die Terzparallelen kommen geradezu nonchalant daher.

Als Zugabe gibt es auf dieser gelungenen Debüt-CD ein improvisatorisch-versonnenes Solo aus der Feder des armenischen Priester-Komponisten Komitas Vardapet (1869-1935): noch eine Entdeckung, ebenfalls als Livemitschnitt.


21. April



So sangen Netrebko & Co. »für Österreich»


Eine ORF-Initiative zur Überbrückung der theaterfreien Zeit begann mit Nachdruck im Funkhaus.

Eine nette Geste hat sich ORF III für die vorstellungslose Zeit ausgedacht. Im Funkhaus versammelten sich Ensemblemitglieder und Gaststars, die dieser Tage in der Staatsoper aufgetreten wären. Kollegen schalteten sich via Videokonferenz zu; fertig war der Vokal-Abend.

Daß kein Publikum im Sendesaal erschien, war so selbstverständlich wie die weiten Abstände, die von den Künstlern auf dem Podium vorschriftsmäßig eingehalten werden mußten. Barbara Rett sorgte freilich gewohnt charmant für die Überbrückung der Pausen - und die Stimmung war dank der exquisiten Darbietungen alles andere als steril. Also?

Sie sind alle bestens bei Stimme: Der Tenor von Juan Diego Florez floß bei Verdi geschmeidig und hatte für Schuberts »An die Musik« auch in der Tiefe genügend Klang. Valentina Nafornitas Koloraturen perlten in Gounods »Juwelenarie« sauber und gleichmäßig, Tomasz Koniecznys charakteristischer Bariton legte für Gershwin und Moniuszko jegliche Schärfe ab und erwies sich als erstaunlich mikrofontauglich - auch als er zuletzt sonor von den Politikern Solidarität mit freischaffenden Künstlern einforderte.

Beczaa im polnischen Wald

Elena Maximovas Mezzo kam nach der etwas üppiger wogenden Arie der Muse aus »Hoffmanns Erzählungen« bei den dramatischen Aufwallung eines Rachmaninow-Liedes voll zur Geltung. Piotr Beczaa sang in seinem Häuschen im polnischen Wald, zu Orchesterbegleitung von CD »Amor ti vieta« aus Giordanos »Fedora«, nicht ganz synchron, versteht sich, aber mit Aplomb.

Grandios erwies Jongmin Park mit Tosti seine einsame Stellung als Basso cantante in unserer Zeit. Originell der in seinem niederösterreichischen Garten aufgezeichnete Beitrag von Andreas Schager: Die geigende Ehefrau Lidia Baich saß »als Orchester im Apfelbaum«, und der Tenor spielte Gitarre darunter: Der Heldentenor kontrastierte zum Vogelgezwitscher-Idyll so apart wie zum Tonfall von »You Never Walk Alone».

Nicht minder experimentell für seine längst metallisch gewordene Tenorstimme wirkte Yusif Eyvazovs Ausflug ins Belcanto-Fach mit Donizettis »Furtiva lagrima«, doch sang er - wie hernach an der Seite seiner Frau - höchst diszipliniert. Sympathisch natürlich, daß Jonas Kaufmann, begleitet von Helmut Deutsch, von München aus für seine Wiener Verehrer das »kleine Cafe in Hernals« besang: Wenn das Grammophon so behutsam und zart seinen English Waltz spielt und der Tenor dazu pfeift, kann dem niemand widerstehen. Erfolgsgaranten, das sei nicht vergessen: Pianist Jendrik Springer und ein Streichquartett des RSO mit klanglich feinsinnig differenzierten Arrangements von Gottfried Rabl.

»Wir spielen für Österreich«, 2. Folge: Robert Mayer führt durchs von Lehar dominierte Operettenprogramm seiner Volksoper, ORF III, 26. 4., 20.15.


20. April



Zwischentöne


Eine unerschrockene Diva trifft den skrupulösen Pianisten


In Zeiten von Social Distancing darf man immerhin bei virtuellen Geburtstagsfeiern die divergentesten Musikstars gemeinsam feiern.

Dieser Tage feierten die Musikfreunde weltweit die runden Geburtstage zweier Stars, deren Zugänge zur letztlich doch gemeinsamen Sache unterschiedlicher nicht sein könnten.

Da ist einmal der Pianist Grigorij Sokolow, den man hierzulande sehr spät kennenlernen durfte. Da ist andererseits Anja Silja, die schon als Teenager an der Staatsoper debütierte und ohne divenhafte Allüre zur Operndiva wurde.

Bei Sokolow wußten nur Kenner: Der große Emil Gilels hatte dafür gesorgt, daß unter heftigen Protesten dem damals 16-Jährigen als jüngstem Teilnehmer aller Zeiten der erste Preis beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb zuerkannt wurde.

Das war 1966, da hatte die 26-jährige Silja schon die größte Repertoire-Spannweite durchmessen, die je eine Sopranistin auf der Bühne der Wiener Oper durchmessen hatte: Zwischen ihrem Debüt als koloraturenperlende Königin der Nacht bis zur ihrer Darstellung der Elektra - in der Inszenierung ihres Lebensmenschen Wieland Wagner - lagen keine sieben Jahre!

Grigorij Sokolow durfte solch sprühende pianistische Lebensbeweise (noch) nicht geben. Wie manch bedeutendem Künstler vor ihm schoben die Sowjetbehörden seinen internationalen Auftritten einen Riegel vor. Er blieb zunächst ein russlandweit bestauntes Phänomen.

Von der Silja kannten die Opernfreunde weltweit sofort den Namen und bewunderten die temperamentvolle und zu allen inszenatorischen Kühnheiten bereite Singschauspielerin live als Senta, Salome oder Lulu, später nicht zuletzt in psychologisch meisterhaft durchgestalteten Janacek-Partien von der Emilia Marty (»Makropulos») bis zur Küsterin (»Jenufa»).

Die Karriere nahm in Bayreuth so richtig Fahrt auf - und dauerte lang. Noch 2015 stand Silja als Gräfin in Tschaikowskys »Pique Dame« auf der Wiener Staatsopern-Bühne.

Mit ihrem langjährigen Ehemann Christoph von Dohnanyi erarbeitete sie sich auch ein eminentes zeitgenössisches Repertoire.

Grigorij Sokolow hingegen hat sich nach Abwurf der Fesseln, die ihm die kommunistische Diktatur angelegt hatte, mehr und mehr zu einem in sich gekehrten, akribisch an seinen Interpretationen feilenden Künstler entwickelt. Aus seinem Schneckenhaus taucht er nur auf, um sein gerade aktuelles, oft kühne stilistische Querverbindungen ziehendes Programm weltweit aufzuführen. An diesem ist alles, auch der Gefühlstiefgang, bis ins Detail hinein kalkuliert - und geht doch nah.

Die Silja, ganz Bühnenspontaneität, sprang schon einmal in Jochanaans Zisterne, wenn sie merkte, sie würde Salomes Schlußgesang heute Abend nicht bewältigen . . .


18. April



Beethoven auf dem Cyber-Highway


Currentzis. Bewundert viel und viel gescholten, leistete der Dirigent mit seiner Music Aeterna einen Beitrag zum Jubiläumsjahr und produzierte die Fünfte.

Teodor Currentzis ist so etwas wie ein Popstar unter den Klassikinterpreten. Wenn er im Jubiläumsjahr die Fünfte Beethoven auf CD und LP und für Streaming-Dienste herausbringt, dann sperrt die ganze Welt ihre Ohren auf: Wie wird das sein?

Die einen feiern ja den griechischen Wahlrussen, der hinter dem Ural als unerbittlicher Orchester-Erzieher ein Ensemble ganz nach seinem Willen geformt hat, als eine Art Erlöserfigur. Die anderen verdammen ihn als Scharlatan, der mit diktatorischen Mitteln eine Musikergemeinschaft knechtet, um ausschließlich seiner Selbstdarstellung zu frönen.

Ein Extremist als Rattenfänger

Welcher Lehrmeinung man immer anhängen mag, die Frage bleibt: Was fesselt eine Menge Menschen an den Interpretationen dieses Mannes? Immerhin verraten die CD-Verkäufe und Klickraten, daß er auch viel Publikum anlockt, das sonst mit Klassik kaum in Berührung kommen dürfte. Und die Veranstalter freuen sich, daß sie regelmäßig das »Ausverkauft»-Schild affichieren dürfen, wenn Currentzis auftritt.

Nun gibt es für eine Überprüfung der Fakten wohl kein besseres Stück als Beethovens Fünfte. Die berühmteste aller Symphonien mit dem allerberühmtesten aller Symphonie-Anfänge. Schon an der Frage, wie diese fünf Takte gespielt werden sollen, haben sich endlose Diskussionen entzündet. Wie lang sind die beiden Fermaten zu halten? Warum hängt Beethoven an die zweite noch einen Verlängerungs-Takt? Und vor allem: Was heißt »Allegro con brio« - wie rasch soll dieser erste Satz gespielt werden? Wie lang dauert die ganze Symphonie?

Wie lauten nun die Antworten des Teodor Currentzis? Wie klingt »seine« Fünfte?

Ein Blick auf das Timing verrät: Der Vielgeliebte und Vielgeschmähte bleibt seinem Ruf als interpretatorischer Extremist nichts schuldig: Die neue Fünfte ist vielleicht nicht die schönste, aber bestimmt die schnellste im ganzen Klassikland. Die Aufnahme hätte früher einmal mühelos auf eine Schallplattenseite gepaßt und schlägt selbst die Einspielungen von Rekordhaltern wie Toscanini oder Karajan noch um Längen, pardon: Kürzen.

Tatsächlich schlägt die Attitüde hier und da auch in eine gewisse Kurzatmigkeit um. Das gehört aber offenbar dazu. Ohne Kalkül passiert bei Currentzis gar nichts. Da darf man sicher sein.

Jedenfalls kann der Hörer gar nicht genug bewundern, wie dieser Dirigent die Musiker seiner Music Aeterna an die Kandare genommen hat. Das muß man ja erst einmal schaffen, ein Orchester zu einer solchen Disziplin anzuhalten.

Wüsste man es nicht aus Live-Erlebnissen besser, könnte man angesichts des TGV-Con-Brios, das hier vorgelegt wird, eine technische Manipulation vermuten. Man erinnert sich an den Rezensenten des englischen »Gramophone»-Magazins, der einst meinte, er hätte die Geschwindigkeit seines Plattenspielers versehentlich auf 45 statt 33 Umdrehungen geschaltet, als er Karajans Berliner Aufnahme von Brahms' »Ungarischen Tänzen« zum ersten Mal abspielte.

Hier pocht kein Schicksal mehr

Wie dort, so hier: Die spielen wirklich so schnell. Und sie verhaspeln sich nicht dabei. Durcheinander kommt nichts. Und eins ist gewiss: Auf die Idee, die Fünfte »Schicksalssymphonie« zu nennen, kommt niemand mehr. Da pocht kein Schicksal an die Pforten. In der Durchführung des ersten Satzes hüpfen die Holzbläser wie Mendelssohns Elfen im »Sommernachtstraum».

Aber mit bildhaften Assoziationen ist es ohnehin vorbei. Der Klang des Ensembles hat, apropos Technik, etwas Künstliches, als käme er aus dem Synthesizer. Zäsuren klingen wie Schnitte zwischen kurzen Aufnahme-Takes. Kein Klang, eher ein »Sound« holt Beethoven in die akustische Sampling-Welt der Popbranche.

Ob es daran liegt, daß mancher Zeitgenosse es nun doch auch einmal mit einer Symphonie versucht? Vielleicht kommt dann einmal der Moment, in dem der eine oder andere probeweise sogar aus der Cyber-Ästhetik auszubrechen versucht, um nachzuhören, wie die Großväter-Generation Beethoven verstanden hat.

Dann würde er sich wundern, was Musik noch alles kann.

Oder muß man schon sagen: konnte?


16. April



»Fledermaus« mit Handy und Mundschutz


Eine wienerische Operntruppe spielt via Internet weltumspannend die Operette von Johann Strauß.

Livestream, gut und schön. Aber das ist noch einmal etwas ganz anderes: Anna Bernreitner, Gründerin von »Oper Rund Um«, beschloss, mit einer jungen Sängertruppe eine Operettenproduktion zu realisieren, bei der die einzelnen Darsteller ihre Wohnungen nicht verlassen müssen. Im Zeitalter des Selfies können ja auch Künstler Duette miteinander singen, wenn sich einer vielleicht gerade jenseits des Ozeans aufhält.

Gesagt, getan. Bernreitner erzählt: »Da ich im vergangenen Juni im Rahmen des ,Wir sind Wien'-Festivals mit meinem Opernkollektiv die ,Fledermaus' aufgeführt hatte, kam mir die Idee, die Basis dieser Produktion zu nutzen. Mir war das Stück vertraut, ebenso den Sängerinnen und Sängern. Ich wollte das Stück als Stay-at-home-Projekt produzieren. Jeder ist zuhause, jeder singt von zuhause aus, filmt sich dabei und spielt somit für unsere virtuellen Zuschauer.«

Dabei sollten alle Musiknummern der Operette genutzt werden, das Stück aber für unsere Zeit und die aktuelle Situation neu erzählt werden. In Häppchen verbreitet die Truppe nun die Szenen via Facebook. Man hält gerade am Beginn des zweiten Akts - Orlofsky kauft für seine Party ein und singt sein Couplet natürlich mit Mundschutz, so lange er (pardon, natürlich sie!) im Supermarkt einkauft. Das funktioniert in aller Regel prächtig und ist wirklich voll von amüsanten Pointen. Es birgt auch Überraschungen technischer Natur: Pünktlich nach Regiebuch funktionieren, wie sich zeigt, sogar Umarmungen von Bildschirm zu Bildschirm; beinah zumindest.

Vielleicht können sich manche Wiener Operettenfreunde sogar erinnern, diese Produktion mit dem von Anne Wieben als Rosalinde angeführten Ensemble schon einmal gesehen zu haben. Freilich nicht in einem Theater, sondern in mindestens ebenso ungewöhnlicher Umgebung wie derzeit: Die Urgestalt dieser »Fledermaus« war im Juni 2019 in acht Freibädern Wiens bei laufendem Badebetrieb zu erleben. Die Regisseurin erinnert sich: »Das war gewiß eine ungewöhnliche Spielsituation zwischen Pommesstand und Beckenrand. Aber diesmal stehen wir vor ganz anderen Herausforderungen. Jede Sängerin, jeder Sänger ist allein zuhause mit seinem Handy oder Laptop, bekommt von mir eine kurze Mail zur jeweiligen Szene, und dann gehts los. Zur Klavierbegleitung filmen sie sich, singen sie, spielen sie, versuchen meine Regie einzuhalten, müssen improvisieren - und sollen vor allem lustig sein.«

Erstaunlicherweise gelingt das zum Großteil bestens. Den fertigen ersten Akt findet man auf der Facebook-Seite »/operrundum/«, die einzelnen Szenen auch auf Instagram.


14. April



Zwischentöne


Über einen späten Zeugen des sowjetischen Kultur-Terrors


Der weißrussische Komponist und Übersetzer Dmitrij Smirnov wurde in seinem britischen Exil 72-jährig ein Opfer des Coronavirus.

Zu den Opfern der Ausbreitung des Coronavirus zählt der Komponist Dmitrij Smirnov. Er gilt in den spärlichen Eintragungen, die man über ihn findet, als »britischer« Künstler, stammte aber aus Weißrussland und war eines der späten Opfer des sowjetischen Kultur-Terrors, den man Menschen wie Smirnov zuliebe nie vergessen sollte.

Tatsächlich hatte die Unterdrückungsmaschinerie kommunistischer Prägung mit dem Tode Stalins Anfang der Fünfzigerjahre kein Ende genommen. Sie prägte das Geschehen im Reich unter dem roten Stern bis zu dessen Implosion 1989/90.

Dmitrij Smirnov war einer jener Künstler, die davon Zeugnis geben konnten. Geboren 1948 in Minsk, hatte er in Moskau studiert und Mitte der Siebzigerjahre in Maastricht den ersten Preis für sein »Solo für Harfe« gewonnen. Eine solche Auszeichnung im Westen machte den jungen Mann für sowjetische Gremien verdächtig.

Zumal sich Smirnov ganz bewusst nicht an den ästhetischen Vorgaben des »sozialistischen Realismus« orientierte, sondern sich recht früh schon - wie etwa der ebenfalls verpönte, eineinhalb Jahrzehnte ältere Alfred Schnittke - einer offenherzigen Polystilistik verschrieben hatte.

In Smirnovs Musik findet sich viel Meditatives, frei um tonale Zentren Kreisendes. Die junge Patricia Kopatchinskaja hat einst für eine Porträt-CD seine Violinsonate aufgenommen, deren Finale eine träumerische Paraphrase des (schon von Alban Berg in seinem Violinkonzert verwendeten) Bach-Chorals »Es ist genug« in höchste Geigenhöhen entschweben lässt.

Malerische Assoziationen wecken die meisten von Smirnovs Werken, die hierzulande kaum je zu hören waren. Eine Ausnahme markierte die Uraufführung eines Vokalwerks durch das Altenberg-Trio und den Bariton Wolfgang Holzmair.

Im Übrigen blieb diese Musik ein Fall für Connaisseure, die auch Smirnovs Liebe zum Schaffen des englischen Maler-Dichters William Blake zu würdigen wissen. Dessen um eine freigeistige Aneignung neutestamentarischen Gedankenguts oszillierendes Schaffen hat Smirnov über Jahrzehnte inspiriert.

Der Komponist fungierte auch als Übersetzer, übertrug die Dichtungen seines Idols ins Russische und verfaßte eine ausführliche Blake-Biographie. Damals lebte er längst - wie sein großes Vorbild - in England.

Die russische Musikwelt hatte nichts von ihm wissen wollen. Auch dann nicht, als er nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums im Verein mit seiner Frau, der Komponistin Elena Firsova, einen Verband der bisher unterdrückten Avantgarde-Komponisten gründete. Am Gründonnerstag ist Smirnov in seiner englischen Wahlheimat gestorben.


11. April



»Klassisch« - was soll das schon heißen?


Gesamtausgabe. Bruno Walters Aufnahmen aus dem amerikanischen Exil sind auf 77 CDs, in exzellent aufbereiteten neuen Digitalisierungen, gesammelt wieder zu haben. Das Wiederhören ist geradezu irritierend aufregend.

Bruno Walter? Das war doch der freundliche alte Herr, der in TV-Interviews so verbindlich über Mozart und Brahms plauderte und keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Wenn er bei der Probe ruhig und sanft sagte: »Ich bin noch nicht ganz glücklich«, nannten die Musiker das seinen »Wutanfall».

Sie spielten damit auf den Heißsporn Arturo Toscanini an, der zur nämlichen Zeit schon einmal schreiend einen Taktstock zerbrach, wenn die Kontrabässe nicht genau im Rhythmus spielten.

Das Wiederhören von Bruno Walters Aufnahmen in der technisch deutlich liebevoller als für frühere CD-Ausgaben renovierten Neuauflage macht schon nach kurzer Frist deutlich: Walters Interpretationen sind kein Jota weniger genau - und vor allem: nicht weniger aufregend oder dramatisch als die des italienischen Berserkers. Einige Probenmitschnitte findet man unter den 77 CDs auch, die hören lassen, daß dieser Künstler tatsächlich stets höflich und besonnen am Werk war, aber in der Sache nicht weniger unnachgiebig als Toscanini. Er konnte manche Passage bis zur Erschöpfung wiederholen lassen, damit sie so klang, wie er sie haben wollte.

Vom Geist der Spontaneität

Wer seine Schallplatten dann auflegte, hörte alles, nur nicht, daß so akribische Arbeit hinter diesen Interpretationen stand. In den meisten Fällen staunt man heute noch über den Geist der Spontaneität, den Walters Musizieren atmet. Selbst in diesen späten Studioproduktionen fühlt man, was Kenner an den illegalen Livemitschnitten schätzen, die von Radioübertragungen seiner Opernvorstellungen in den Handel kamen. Man muß nur die - von etlichen Streamingdiensten angebotenen, weil mittlerweile rechtefreien - Mitschnitte von Aufführungen wie Verdis »Macht des Schicksals« aus der Metropolitan Opera hören, um zu ahnen, was es bedeutete, wenn dieser Mann am Dirigentenpult erschien. Die Ouvertüre dieses Abends zählt zu den zündendsten Verdi-Aufnahmen überhaupt. Ob da etwas von dem Feueratem mitschwingt, der die Auftritte von Walters Mentor Gustav Mahler so legendär werden ließ?

Mahler schätzte den jüngeren Kollegen jedenfalls sehr - und Walter wurde nach des Komponisten Tod zu seinem effektivsten Anwalt. Die neue Sony-Box enthält auch alle kommerziellen Mahler-Einspielungen Walters, allen voran die erste Aufnahme der Fünften Symphonie in der Geschichte. Sie entstand 1947 und entlarvt gleich liebgewordene Hörgewohnheiten als aufführungshistorische Verkitschungen: Für das berühmte »Adagietto« braucht Walter - wie Mahler einst selbst - gerade einmal siebeneinhalb Minuten. Bei Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern dauert der Satz mehr als elf Minuten, also um gut 50 Prozent länger. Ganz abgesehen von Dirigenten wie Bernard Haitink, der doppelt so lang wie Walter braucht.

Was da noch in der Toleranzgrenze liegt und was nicht, muß jeder Hörer für sich entscheiden. Jedenfalls waren für Bernstein Walters Mahler-Interpretationen so respektgebietend, daß er eine Zeitlang zurückscheute, Mahlers Erste aufzunehmen, nachdem er die Bänder der Stereo-Aufnahme Walters von 1961 gehört hatte. Sie klingt im Übrigen bis heute nicht weniger jugendlich-stürmisch als die Mono-Version von 1954. Inzwischen stand Walter nicht mehr New York Philharmonic, sondern ein vorrangig aus Musikern von Los Angeles Philharmonic gebildetes Ensemble zur Verfügung, mit dem nahe seinem Heim an der Westküste der Großteil der vorliegenden Aufnahmen gemacht wurden.

Zügige Tempi und Ausdruckswut

Faszinierende Erlebnisse bescheren auch Walters Brahms- und Bruckner-Aufnahmen, in zügigen Tempi allesamt und geradezu von Ausdruckswut beseelt. Das Finale von Brahms' Dritter gibt es beispielsweise kein zweites Mal in solcher Intensität. Und in den langsamen Sätzen lernt man viel über natürlich atmende Phrasierungen. Sie sorgen wie das behutsam ausgeleuchtete Wechselspiel von Streichern und Bläsern auch bei den Klassikern dafür, daß die Musik zum Hörer redet, niemals vorüberplätschert.

Überhaupt: Was heißt »klassisch»? Mozart, dem Walters ganze Liebe galt, wird unter seinen Händen zum leidenschaftlichen Theatraliker auch im Konzertsaal. Man höre den sich aufbäumenden Eintritt der Durchführung im Andante der großen G-Moll-Symphonie, Auftakt zu einer gefährlichen dramatischen Zuspitzung.

»Romantisch« werden das heute manche nennen, müssen sich aber fragen lassen, wenn denn die Romantik nun eigentlich in der Musik begonnen hätte. Goethes »Werther« war zum Zeitpunkt der Komposition von KV 550 bereits in seinem 15. Lebensjahr!

Schon weil sie solche Fragen aufwirft, ist diese CD-Box hoch willkommen.

Bruno Walter: »The Complete Columbia Album Collection« (Sony)


10. April



Karfreitagszauber im Internet


Oper. Rechtzeitig zum Ausklang der Karwoche ist auch in Zeiten der Beschränkung auf Streamingdienste überall Wagners »Parsifal« präsent. Ein Wegweiser.

Der Irrnis und der Leiden Pfade führen Parsifal neuerdings im Internet herum. Auf der Staatsopern-Streamingplattform steht seit Gründonnerstag- abend die Aufzeichnung vom April 2015 online. Zu sehen ist die Inszenierung von Christine Mielitz unter Adam Fischers musikalischer Leitung mit Johan Botha in der Titelpartie, Angela Denoke als Kundry und Michael Volle als Amfortas.

Am Abend des Ostersonntags steht dann eine Aufzeichnung der Vorstellung von 2017 auf dem Streaming-Programm, aus der Premieren-Serie der aktuellen Inszenierung von Alvis Hermanis unter Semyon Bychkov mit Nina Stemme und Christopher Ventris, sowie Kwangchul Youn als Gurnemanz.

Der Grals-Mythos infrage gestellt

Interessant dabei, die beiden Regie-Arbeiten zu vergleichen. Hermanis' Ansatz, die Handlung in die Nervenheilanstalt zu verlegen, ging ja nur im ersten Akt wirklich spannungsgeladen auf. Danach blieb manches fragwürdig. Ähnlich schwächelnd im zweiten Aufzug war auch Mielitz' Produktion, die von der Personenführung her freilich eminente Stärken aufwies und auf eine bittere Schlußpointe zusteuerte, die den Grals-Mythos in seiner Gesamtheit infrage stellte.

Nun sind Regisseure heutzutage meist stolz darauf, Kunstwerken ihre übersinnlichen Symbolwerte auszutreiben. Die Streamingplattform »takt1« wirbt sogar damit, daß der Regisseur der Berliner Produktion von 2015, Dmitri Tcherniakov, »weitgehend auf christliche Weihesymbolik verzichtet, ohne aber das Mystische des Stoffs aus dem Auge zu verlieren». Wie das gehen soll, das können Wagner-Freunde am heutigen Karfreitag ab 11 Uhr sehen.

Tcherniakov, so die Ankündigung weiter, »erzählt von Partisanen und Vagabunden». Was Wagner erzählt, erfährt man vielleicht von Daniel Barenboim, der an diesem Abend die Berliner Staatskapelle dirigiert hat. Und von Andreas Schager, der am Beginn seiner Helden-Karriere hier dem reinen Toren seine Stimme lieh. Der Stream bleibt nur 24 Stunden lang verfügbar.

Ein paar Tipps für Musikfreunde, die ihren eigenen »Parsifal« ohne irritierende Bilder von CD oder Musikstreaming erleben möchten. Die klangschönste Gesamtaufnahme, in der vor allem die metaphysischen Dimensionen der Musik dank wunderbarer Ausdrucksdichte des Orchesterspiels anklingen, stammt aus Berlin: Herbert von Karajan hat sie in Vorbereitung seiner Osterfestspiele 1980 mit seinen Philharmonikern eingespielt; allerdings keineswegs mit einer einheitlichen, geschweige denn idealen Sängerbesetzung. Der gesanglich vollkommene »Parsifal« existiert vermutlich nicht. Doch finden sich hier und da atemberaubende Szenen, die man gehört haben sollte, wenn man sich in dieses Werk vertiefen möchte.

Natürlich gehört der Bayreuther Livemitschnitt von 1951 unter Hans Knappertsbusch zu den notwendigen Versatzstücken jeder gut bestückten Diskothek. Hier ist es nicht zuletzt die Kundry von Martha Mödl, die eine überwältigend vielschichtige Charakterisierung der »Höllenrose« bietet.

Die schönste Verführungsszene

Die Verführungsszene am schönsten gesungen hat zweifellos Christa Ludwig. In Georg Soltis Wiener Studioproduktion hört man sie an der Seite des für die jugendlich-naiven Momente der Partie perfekten Rene Kollo, dem es allerdings für den großen Ausbruch nach der Kuß-Szene an der nötigen Kraft gemangelt hat. Es ist halt doch eine Heldenpartie. Diesbezüglich muß man schon zu Interpreten wie Ramon Vinay zurückgehen, die miterleben lassen, wie der reine Tor Atemzug um Atemzug »welthellsichtig« wird.

Die langen Erzählungen des Gurnemanz im ersten Aufzug hat zu Vinays Zeiten übrigens Ludwig Weber (ebenfalls bei Knappertsbusch 1951 zu hören) unvergleichlich differenziert und anrührend gestaltet.

Was den Amfortas und seine Leidenstöne betrifft, hat George London - unter anderem auf der zweiten offiziellen Knappertsbusch-Aufnahme aus Bayreuth - Maßstäbe gesetzt. Und doch darf man nicht auf unseren Eberhard Waechter vergessen. Er lieferte in Bayreuth anno 1959 einen wohl einzigartigen Beweis, mit wie viel verzweifeltem Ausdruck ein Bariton veritablen Schöngesang anreichern kann. Wenn er kann.

Und die Blumenmädchen? Sie hat das Wiener Staatsopernorchester unter Christian Thielemanns Leitung beim Livemitschnitt mit dem blendend disponierten und in diesem Fall auch disziplinierten Placido Domingo auf unvergleichlich erotisierende Weise mit impressionistisch farbenreichen Klängen umwebt. Auf CD seit Langem eine der empfehlenswerten Gesamtaufnahmen.


8 April



Als Beethovens Herz aussetzte


Manuskripte. In Wien hätte man dieser Tage Beethovens kompliziertestes Streichquartett neu beleuchtet. Eine neue Faksimile-Ausgabe macht es möglich nachzulesen, wie der Komponist Unpässlichkeiten in Kunst umzumünzen verstand.

Demnächst hätte im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses eine ungewöhnliche Veranstaltung stattgefunden: Das Belcea Quartet hatte zum Jubiläum »Beethoven in Mysterious Company« avisiert, um ein Werk des Jahresregenten mit Zeitgenössischem zu konfrontieren.

Das ist an sich noch nichts Besonderes. Die sogenannten Sandwichkonzerte gibt es ja seit Jahrzehnten. Des einen Freud, des andern Leid: Manche Konzertbesucher werteten es als pädagogische Zwangsmaßnahme, wenn Ensembles - das Alban Berg Quartett tat es beispielsweise konsequent - zwischen Haydn und Schubert ein modernes Stück platzierten. Andere - es war zuletzt die Mehrheit - freuten sich über die Weitung des Horizonts.

Tatsächlich ist es auf diese Art der Programmierung zurückzuführen, daß die Spitzenwerte der Quartett-Literatur, allen voran die Werke Bela Bartoks oder Alban Bergs, heute zu den beliebten Repertoirestücken gehören.

Vom Segen der Musik-Sandwiches

Noch Hans Landesmann bekam als Konzerthaus-Intendant von wütenden Abonnenten Jahresbroschüren zurückgeschickt, in denen jedes Stück jüngeren Datums rot angestrichen war. Matthias Naske würde man hingegen schelten, würde er nur Klassiker, Schubert, Brahms und Mendelssohn aufs Programm setzen.

Die Initiative des Belcea Quartets wäre nun zwecks raffinierter Geburtstagszelebration für einen musikalischen Giganten noch einen Schritt weitergegangen. Man hätte am Abend des 20. April nicht das übliche Programmheft in die Hand gedrückt bekommen, sondern nur gewusst, daß diesmal Beethovens längstes Streichquartett, das B-Dur-Quartett op. 130 inklusive Große Fuge op. 133 gespielt würde. Allerdings mit Einschüben von zeitgenössischen Kompositionen. Wann genau was gespielt worden ist, dieses Geheimnis wäre erst in einer Conference im Anschluß an die Darbietung gelüftet worden.

Wer da nun meint, das hätte ja wohl kein Problem sein können, Musik Beethovens von Hervorbringungen unserer Zeitgenossen zu unterscheiden, der sollte den Testversuch wagen, wenn die Belceas ihn in einer der kommenden Spielzeiten, hoffentlich von Viren befreit, tatsächlich realisieren dürfen. Da wird er seine blauen Wunder erleben.

Seit ihren Uraufführungen gelten die späten Streichquartette Beethovens als harte Nuss, die zu knacken erst dem 20. Jahrhundert gegeben war. Gerade die Große Fuge wütet und tobt wie nichts in der Musikgeschichte vor Schönberg. Wer da in Zeiten der Langspielplatte die Nadel irgendwo in der Mitte des Stücks auflegte, hätte die anwesenden Musikfreunde raten lassen können, von wem diese Musik denn sei. Auf Wiener Klassik hätten nur ausgewiesene Connaisseurs getippt, die ihren Beethoven wirklich in- und auswendig kennen.

Jedenfalls hält die sogenannte Postmoderne beinah ausschließlich weniger haarige Höranforderungen bereit - und bestimmt keine einzige Komposition von solch komplexer Architektur, in der - apropos Postmoderne - scheinbar gegensätzlichste Dinge völlig unvermittelt nebeneinander stehen können. Was übrigens eine erstaunliche »Operation am offenen Kunstwerk« möglich gemacht zu haben scheint.

Überforderung der Hörer war wohl der Grund, warum Beethoven das Fugen-Finale aus dem Verband des sechssätzigen, ohnehin riesenhaft angelegten op. 130 herauslöste und unter separater Opusnummer veröffentlichte.

Das nachkomponierte, tänzerisch beschwingte, wenn auch hintergründige Finale ist seine letzte fertiggestellte Komposition. Die Genese nachlesen kann man jetzt im Nachwort der bisher schönsten editorischen Tat zum Beethovenjahr: Bärenreiter hat ein Faksimile des B-Dur-Quartetts (mit beiden Finalvarianten) herausgebracht. Erstmals sind da die Manuskript-Teile wieder gesammelt, die der Wind der Zeitläufte wirklich in Bibliotheken in aller Welt verweht hat.

Akustische Visionen zum Lesen

Für des Notenlesens kundige Musikfreunde ist es ein besonderes Vergnügen, während einer Wiedergabe des Quartetts im Faksimile zu blättern. Vieles, was ein Druck nicht wiedergeben kann, Nuancen, die nur eine einmal großzügigere, dann wieder dichter werdende Handschrift vermittelt, lassen Beethovens Klangvisionen deutlicher ahnen.

Und der Moment, in dem genau in der Mitte der Partiturseite von Beethovens Hand das Wort »beklemmt« steht, sorgt wirklich für Beklommenheit: Der Komponist hat da wohl einen erlittenen Herzanfall in Musik gefaßt, der herrlich strömende Melodiefluß der »Cavatina« kommt gefährlich ins Stocken, findet erst tastend, taumelnd zurück auf den rechten Pfad. Da hört man den Menschen Beethoven, der seinen unscheinbaren Fingerabdruck inmitten der grandiosen Architektur seines Werks hinterläßt - und nun kann man ihn auch sehen . . .

Ludwig van Beethoven: Streichquartett op. 130, Grande Fugue op. 133. Bärenreiter Faksimile, 2020.


6. April



Zwischentöne


In Krisenzeiten schauen tagtäglich 100.000 Menschen Oper


Wenn auch derzeit Musiktheater-Produktionen lediglich via Streaming unters Volk gebracht werden können: Die Zahlen sind erfreulich.

Es hat manche Kritik gegeben, als Wiens Opernchef Dominique Meyer ankündigte, er werde, unterstützt von Samsung, einen Streamingdienst für die Staatsoper einrichten, der technisch konkurrenzlose Übertragungen aus dem Haus am Ring ermöglichen sollte.

Skeptische Stimmen meinten damals, es werde schon daran scheitern, daß für qualitätvolle Aufzeichnungen von (notorisch jedenfalls nicht bildschirmtauglich beleuchteten) Opernvorstellungen zumindest ein virtuoses Regie- und Kamerateam gebraucht würde. Nun beweist die engagierte Gruppe um Christopher Widauer mehrmals im Monat, daß sie mit den fix installierten, fernsteuerbaren Kameras mühelos exzellente Bilder einzufangen weiß. Auch die Tonqualität entspricht dem High-Definition-Bild.

Mittlerweile hat die Staatsoper über 300 Vorstellungen aufgezeichnet. Das singuläre Archiv ermöglicht es überdies, jederzeit zu beweisen, auf welch enormem Niveau man hierzulande im Repertoire Oper spielt.

Wenn denn gespielt werden darf. Derzeit entpuppt sich das Streaming-Archiv als Segen, weil via Onlineplattform seit Beginn der Krise Abend für Abend ein anderer Mitschnitt in die virtuelle Opernwelt geschickt werden kann. Und diese Welt schaut zu.

Die ersten Zahlen darf man getrost als sensationell bezeichnen. Haben sich doch für den - derzeit kostenlosen - Streamingdienst bereits in den ersten Tagen 160.000 neue Abonnenten angemeldet.

Was aber noch wichtiger ist: Sie nutzen ihre Chance. Jeder der bisher angebotenen Streams erreichte über 100.000 Zuschauer. Das ist ein Gegenwert von mehr als vierzig ausverkauften Vorstellungen. In den ersten Tagen der Aktion haben also mehr als eine Million Menschen die Wiener Staatsoper besucht.

Virtuell. Aber immerhin. Was sich der Politiker denkt, der vor einiger Zeit unüberlegt und nicht wirklich kreativ eine »Oper 4.0« gefordert hat, wüsste man gern. Die Cyber-Oper gab's ja da längst. Und Wien war das Labor, in dem sie ihre ganze Dynamik entfalten konnte.

Einen echten Ersatz für die entgangenen Live-Erlebnisse wird auch die kühnste Weiterentwicklung zwar nie bieten. Aber der Werbeeffekt, den der digitale Pausenfüller für das Wiener Kulturleben darstellt, ist nicht zu unterschätzen.

Immerhin stammen mehr als 80 Prozent der neuen Streaming-Abonnenten aus dem Ausland, nicht nur aus Europa, sondern auch aus den USA und China. Bei den Live-Veranstaltungen lag der Prozentsatz an einheimischen Staatsopern-Besuchern freilich immer noch bei 70 Prozent.

Die warten jetzt, ab wann wieder wirklich gespielt wird - und auf den ersten Saisonprospekt der künftigen Direktion. Er soll am 26. April vorliegen, ob live präsentiert, wie geplant, oder als Programmbuch - jedenfalls nicht nur virtuell.


3. April



Bayreuths Götter warten


Festspiele abgesagt. Deutschlands Festival-Flaggschiff mußte die Premiere von »Der Ring des Nibelungen« in der Regie des Österreichers Valentin Schwarz auf 2022 verschieben.

Während Schätzungen davon ausgehen, daß der Zusammenbruch des Kulturlebens in Deutschland die Volkswirtschaft an die 28 Milliarden Euro kosten könnte, sinnieren Musikfreunde über die Frage, warum das Flaggschiff der deutschen Festivalszene, die Wagnerfestspiele Bayreuth, für 2020 schon jetzt abgesagt wurden. Ist man sich auf dem Grünen Hügel im Fränkischen so sicher, daß bis zum Sommer keine Normalisierung der Situation eintreten könnte?

Die Frage ist insofern falsch gestellt, als heuer ein neuer »Ring des Nibelungen« anstünde. Vier Opernproduktionen mit einer Spieldauer von insgesamt knapp 15 Stunden innerhalb von sechs Tagen sind eine Herausforderung, die - sieht man von Kirill Petrenkos einstigem kühnen Unterfangen in Meiningen zur Jahrtausendwende ab - ausschließlich von Bayreuth überhaupt angenommen werden kann.

Die Vorbereitungen beginnen bereits im Jahr vor den Premieren, das meist ohne den »Ring« auskommen muß. Entsprechend heikel ist die Disposition. Deshalb lautet die Vorankündigung nun: Die »Ring»-Neuproduktion müsse vermutlich auf das übernächste Jahr verschoben werden. Die Besetzungs- und Proben-Logistik bei Wagner verhält sich zu der eines Festivals, das mit weniger wuchtigen Theaterbrocken zu hantieren hat, wie das Navigieren eines Hochseedampfers zu einem Segelboot.

Man erinnert sich an Krisen, die früher einmal die Bayreuther Planungen durcheinandergebracht haben. Aus dem Rhythmus kam die Dramaturgie einst, als Wieland Wagner kurz nach dem Festspielsommer 1966 starb. Sein Bruder Wolfgang übernahm damals die alleinige Führung und entsorgte die zweite, viel beachtete »Ring»-Inszenierung Wielands rasch, um sie durch seine eigene Neuinszenierung zu ersetzen.

Probebühne für jegliche Innovation

Sie war ebenfalls die zweite aus Wolfgangs Werkstatt seit der Neugründung des Festivals nach dem Zweiten Weltkrieg. Was die ersten Bayreuther Festspiele nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs« für das deutsche Kulturleben bedeuteten, ist für die Nachgeborenen nur noch schwer zu begreifen. Immerhin war es Wieland und Wolfgang Wagner gelungen, das Unternehmen politisch unverdächtig erscheinen zu lassen, obwohl bei den Kriegs-Festspielen Anfang der vierziger Jahre im Festspielhaus nach Aufführungen der »Meistersinger von Nürnberg« wie selbstverständlich das Horst-Wessel-Lied angestimmt worden war . . .

Die zur Reinwaschung nötigen künstlerischen Innovationen besorgte Wieland Wagner mit seinen Inszenierungen, die jegliches altdeutsche Pathos hinwegfegten und eine vollkommen neue, karge, aufs Wesentliche konzentrierte Ästhetik propagierten. Bayreuth sollte zukunftsorientiert wirken - und löste auch eine Revolution auf den internationalen Opernbühnen aus.

Wolfgang Wagner stand seinem Bruder diesbezüglich nicht nach. Er galt zwar selbst als vergleichsweise konservativer Regisseur, ließ aber Patrice Chereau 1976 zur Hundertjahrfeier der »Ring»-Uraufführung die Erneuerungsarbeit besorgen. Erstmals stammte der federführende Interpret nicht aus dem Hause Wagner. Doch wieder war Bayreuth das Pionierlager.

Die Auswirkungen der Landnahme des sogenannten Regietheaters sind noch heute allüberall zu spüren. Ob gut oder schlecht, bleibe dahingestellt. Es führte kein Weg zurück. Der von Sir Georg Solti proklamierte Weg zurück zur Romantik entpuppte sich rasch als Sackgasse. Wolfgang Wagner griff ein und ersetzte den Versuch Peter Halls aus dem Wagnerjahr 1983 schon früher als geplant durch eine Neuinszenierung Harry Kupfers.

Seither wartet man weltweit auf ein neues innovatives Signal aus Bayreuth. Frank Castorfs Engagement endete zuletzt mit einer Enttäuschung. Die Provokationsmittel dieser Art von regielicher Selbstbespiegelung sind schal geworden. Ob man in dem Österreicher Valentin Schwarz den neuen Wieland Wagner, den neuen Patrice Chereau gefunden hätte? 2020 werden wir es jedenfalls nicht erfahren.


30. März



Klangtsunami gegen Mailüfterl


Nachruf. Zum Tod des polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki, der vom führenden Meister der Avantgarde zum Ideengeber der musikalischen Postmoderne wurde.

Pole mit Leib und Seele war er. Er blieb in seiner Heimat und wußte sich mit den kommunistischen Machthabern zu arrangieren - und hatte dennoch nicht darauf verzichtet, vorwiegend geistliche Texte zu vertonen, biblische Psalmen, die Geschichte von Jakobs Traum oder eine Passionsmusik nach Lukas.

Er war ein musikalischer Avantgardist, dessen Klangexperimente vielen Kollegen im Westen als Inspirationsquelle dienten. Andererseits wandte er sich Ende der Sechzigerjahre wieder ungeniert der Dur-Moll-Tonalität zu und verhöhnte damit alle damals noch sakrosankten ästhetischen Fortschrittsdoktrinen. Die Kollegen spuckten Gift und Galle. Doch das Publikum stellte die Ohren auf: So klang Neue Musik?

Kurz gesagt: Aus Krzysztof Penderecki wurde man nicht schlau. Er schien gegen Vereinnahmungsversuche ebenso immun wie gegen den stilistischen Gesinnungsterror der Adorno-Schule. Letzterem schienen nur seine allerersten Stücke zu gehorchen, die ihm die Türen zu den Foren der sogenannten Neuen Musik öffneten.

Hans Rosbaud dirigierte 1960 in Donaueschingen die Uraufführung von »Anaklasis». Das Wort benennt auch das Phänomen der Spektralzerlegung des Lichts und zerspragelt förmlich den Klang eines 42-stimmigen Streichorchesters, bei dem - von Schlagzeug- und teils verfremdeten Klavierklängen vorangetrieben - jeder einzelne Spieler seine oft nur in minimalen Abständen von den übrigen Stimmen verschobenen Aufgaben zu erledigen hat. Normal auf den Saiten gestrichen werden die Geigen da am allerwenigsten.

Lautmalereien und Filmsoundtracks

Das Ergebnis sind Lautmalereien. Deren dynamische Wellenbewegung evozieren Naturbilder und haben jedenfalls nichts mit althergebracht klassischen, gar romantischen Vorstellungen musikalischer Kunstwerke zu tun. Diese neue Art von Klang-Kontrapunktik, wie sie zur nämlichen Zeit etwa auch Friedrich Cerha oder Györg Ligeti, jeder auf seine Weise, ausprobierten, beschäftigte Penderecki in den frühen Sechzigerjahren noch in etlichen anderen Werken. Auch Chorsänger hatten sich für seine Stücke in Vierteltönen und eng zusammenliegenden Klangtrauben zu üben.

Daß dergleichen dank der eminenten Bildhaftigkeit der tönenden Ergebnisse für Filmsoundtracks nutzbar gemacht werden konnte, wurde bald erkannt. Manches Werk des längst zum geachteten Kompositionsprofessor in Krakau avancierten Krzysztof Penderecki verstärkte die (dann meist gruselige) Hochspannung in Streifen wie »Shining« oder »The Exorcist».

Effektvolle Wirkung stellte sich auch auf der Opernbühne ein, sobald die dramaturgische Notwendigkeit den Einsatz extremer akustischer Mittel gebot. Etwa im Falle der Veroperung von Aldous Huxleys »Teufel von Loudun« mit ihren expliziten Gewalt- und Folterszenen.

Die Ausdruckskraft von Pendereckis Musik sollte sich freilich nicht nur auf das Brutale, das Sinistre beschränken. Der Meister der innovativen Klangerzeugung konnte auch anders. Die Vorkämpfer der Avantgarde traf ein Werk wie »Paradise Lost« wie ein Schock. In der Opernversion von John Miltons Gedicht, das schon Joseph Haydn als Quelle für seine »Schöpfung« diente, wandelten Adam und Eva plötzlich in reinem E-Dur durch den Garten Eden, von wohlig-sicheren Kontrabassfundamenten getragen.

Ab dann war der polnische Meister Liebkind der internationalen Intendanten, die ihm Aufträge erteilten, deren Weltpremieren von berühmtesten Interpreten in den bedeutendsten Aufführungsstätten musiziert wurden - Wiens Musikverein erlebte die Uraufführung eines eigens für diesen Zweck geschriebenen Sextetts mit Meistersolisten wie Mstislaw Rostropowitsch. Die Salzburger Festspiele bestellten eine Oper und bekamen (noch in der Ära Karajan) »Die schwarze Maske«, die sich gegen die »Teufel von Loudun« ausnahm wie ein Mailüfterl im Vergleich zu einem Tsunami.

Die geplante Uraufführung eines neuen Musiktheaterwerks für die Wiener Staatsoper kam im Vorjahr wegen der Erkrankung des Komponisten nicht mehr zustande.

Krzysztof Penderecki, der am Sonntagmorgen 86-jährig in Krakau gestorben ist, war einer der Geburtshelfer für die radikalen Klangvisionen der Musik nach 1945. Er stand aber auch am Beginn der heute sogenannten Postmoderne, die das Publikum mit den ästhetischen Zeitläuften so recht und schlecht wieder versöhnte. Als die Zeitgenossen meinten, da sei ein Abtrünniger jäh in eine Sackgasse abgebogen, befand er sich in Wahrheit auf der Zielgeraden.


30. März



Zwischentöne


Vom Abonnentenschreck zur Studentenirritation


Der künstlerische Lebenswandel eines berühmten Komponisten, gespiegelt in persönlichen Erfahrungen des nachmaligen Musikkritikers.

Ich erinnere mich sogar noch an den Platz, den ich damals ergattert habe, als im Münchner Nationaltheater »Paradise Lost« gegeben wurde. Ziemlich weit oben, ganz links. Ein Stehplatz nahezu ohne Sicht, was, wie mir meine bayrischen Opernfreunde hinterher versicherten, insofern schade war, als - pardon für den Chauvinismus - die hüllenlos erscheinende Eva im Paradies, es war Uta-Maria Flake, ein für Opernsängerinnenverhältnisse ausnehmend schöner Anblick gewesen sein soll.

Ich hatte mich aufs Hören zu beschränken. Die Szenerie war mir auch herzlich egal. Immerhin ging es um eine neue Oper von Krzysztof Penderecki. Und das war für den Kompositionsstudenten, der soeben damit beginnen sollte, im Gefolge von Kontrapunkt und Harmonielehre endlich etwas Zeitgemäßes anzupacken, eine spannende Sache.

So dachte ich, als ich die Stehplatzkarte erwarb. Aber schon nach ein paar Minuten mußte ich verhohlen einen Blick aufs Programmheft werfen, um sicherzugehen, daß ich mich nicht im Vorstellungstag geirrt hatte. Tatsächlich, das war keine Wiederaufführung des Werks eines nicht ganz so begnadeten italienischen Puccini-Zeitgenossen. Das war, in deutscher Sprache gesungen, »Das verlorene Paradies». Musik von Penderecki.

Es war erst ein paar Jahre her gewesen, daß Zubin Mehta dessen »Threnos«, den Klagegesang für die Opfer von Hiroshima, in einem philharmonischen Konzert in Wien dirigiert hatte. Eingekeilt zwischen eine Haydn-Symphonie und die »Symphonie fantastique« von Hector Berlioz.

Da gab es auch für lang gediente Elf-Uhr-Abonnenten kein Entrinnen und das Entsetzen war groß. Daran erinnere ich mich ebenso gut wie an die von den Streichern entfesselten Klänge, die an Sirenen erinnerten, nicht an jene, die Odysseus bezauberten, der sich dazu eigens an seinen Schiffsmast fesseln ließ, sondern an die, vor denen man sich in den Luftschutzkeller flüchtete.

Die Möglichkeit, einem Orchester, das harmonisch-fröhlich zu Haydns 82. Symphonie einen Bären tanzen lassen hatte, solche Töne zu entlocken, war faszinierend. Nun stand ich am Balkon ganz links in München und traute meinen Ohren nicht.

So ging es damals vielen. Helmut Lachenmann nannte den Kollegen gar einen »Penderadetzky«, der Schande über das Haus der Neuen Musik bringe. So war es dann doch nicht. Die »seriellen Happenings«, wie ein anderer Abtrünniger, Hans Werner Henze, die Lingua franca der E-Musik der Sechzigerjahre bezeichnete, hatten sich bald erschöpft.

Gerade in Wien war das von einem Häuflein Aufrechter stets prophezeit worden; nicht zuletzt im illustren Kreis um Friedrich Cerha, der mit seiner »reihe« in Zeiten der kühnen Avantgarde die erste Wiener Penderecki-Uraufführung zelebriert hatte. Penderecki war einer der ersten, die ganz ohne zu zögern den Rückzug antraten. Der entpuppte sich als Flucht nach vorn.


26. März



Oper auf Deutsch


»Sie hat ja doch ,bunte Flügel', die Liebe«, von W. Sinkovicz, 24. 3. Es ist löblich, daß wenigstens Wilhelm Sinkovicz auf die Sinnlosigkeit der dreifach gleichen Programmierung von Operntiteln (»Rusalka«, »Salome« u. a.) in den Wiener Opernhäusern - zum Nachteil der nicht gespielten deutschen Opern von Lortzing, Marschner, d'Albert, Kienzl, Flotow, Nicolai u. a. - hinweist, wie auch auf die Vernachlässigung von deutsch gesungenen Opern, wie vor allem der Mozartischen Da-Ponte-Opern. Die Übersetzungstexte zum (schwierigen) Mitlesen sind kein Ersatz, und Opern in der Landessprache zu singen ist nicht schwieriger als in der - weder von den Sängern noch vom Publikum - verstandenen Originalsprache.

Ioan Holender, 1190 Wien


26. März



Spätes Leuchten der musikalischen Romantik


Ernst von Dohnanyi. Eine CD-Reihe erinnert an das Schaffen des ungarischen Meisterkomponisten, der auch als Pianist Weltgeltung erlangte und dessen Musik eine willkommene Anreicherung des Repertoires wäre.

Sofja Gülbadamova, Leiterin des Brahmsfestes Mürzzuschlag, ist eine Vorkämpferin für das Werk Ernst von Dohnanyis. Nach einer Doppel-CD mit Solo-Klavierwerken brachte sie im Verein mit der Staatsphilharmonie Rheinland Pfalz unter Ariane Matiakh Konzerte des ungarischen Meisterkomponisten heraus, dessen Musik ihrer Wiederentdeckung harrt. Das e-Moll-Konzert präsentiert den jugendlichen Romantiker Dohnanyi, der nach dem Vorbild der großen Konzertliteratur des 19. Jahrhunderts ein ausladendes, üppig orchestriertes Stück vorlegte. Der gestrenge Hans Richter, Uraufführungsdirigent von Wagners »Ring« und mancher Brahms- und Bruckner-Symphonie, stand bei der Weltpremiere dieses in der Nähe von Pressburg vollendeten Werks am Pult.

Ein halbes Jahrhundert und etliche Schicksalsschläge später entstand das h-Moll-Konzert (op. 42), mit dessen etwas herberen, doch nach wie vor romantisch getönten Klängen es Dohnanyi nach seiner Flucht aus Budapest knapp vor Ende des Zweiten Weltkriegs (die man ihm in der kommunistischen Ära seiner Heimat als Sympathie für das NS-Regime auszulegen versuchte) gelang, nochmals an frühere Erfolge anzuknüpfen. Doch seither führen beide Konzerte ein Schattendasein. Das müsste nicht so sein. Jede zehnte Aufführung des Grieg-Konzerts durch eine dieser beiden Kompositionen zu ersetzen, würde ein wenig Abwechslung ins Repertoire bringen.

Die Interpreten der Neueinspielung bewähren sich durchaus als Geburtshelfer einer solchen Wiedereingemeindung. Gülbadamova spielt glasklar und luzid, läßt sich auch von kräftigen Akkordballungen nicht verleiten, das Klangbild einzudicken. Das Orchester begleitet sauber, ein wenig mehr Elan hätte der Aufnahme gutgetan. Aber als Auftrag für künftige Dohnanyi-Unternehmungen kann das ebenso gelten wie die bisherigen Ausgaben der Reihe auf dem Label Capriccio: Neben Gülbadamovas Solo-CD erschien bisher die Ballettmusik zu »Schleier der Pierette« (nach Schnitzler) und die Erste Symphonie unter Roberto Paternostro; liebenswerte Entdeckungen für Freunde ungefilterter Spätromantik.


24. März



Sie hat ja doch »bunte Flügel«, die Liebe


Oper auf Deutsch. Eine CD-Edition erinnert an die klassischen Querschnitt-Produktionen des frühen LP-Zeitalters und läßt in viel gespielten Werken einige Zwischentöne hören, die bei Aufführungen in Originalsprache verloren gehen.

Dieser Tage hätte die Volksoper Verdis »Rigoletto« auf dem Programm. In italienischer Sprache. Wie sonst, werden jüngere Opernfreunde fragen. Vergessen die Parole, die einst Eberhard Waechter ausgab: Möge die Staatsoper weiterhin die Originalsprachen pflegen = er ließ etwa die Da-Ponte-Opern auf Deutsch singen. Auch um Menschen, die des Italienischen nicht mächtig waren, lieber mit einer komödiantischen »Hochzeit des Figaro« zu unterhalten als mit einer - wenn auch vielleicht fein musikalisch abgetönten - »Nozze di Figaro« zu langweilen, bei der sie kein Wort verstehen. (Ich weiß, es gibt die Tablets zum Mitlesen, aber dazu später . . .)

Nun erschien kurz vor der Theatersperre, der auch der besagte »Rigoletto« zum Opfer fiel, eine kleine Schachtel mit 15 CDs unter dem Titel »Oper auf Deutsch»: Querschnitte, wie sie um 1960 herum produziert wurden, damit die Musik jeweils auf einer Langspielplatte Platz fand.

Eine der größten Tenor-Leistungen

Nun wird es niemanden erstaunen, daß Lortzings »Zar und Zimmermann« und d'Alberts »Tiefland« auf Deutsch gesungen werden. Die exzellenten Aufnahmen verlocken allerdings zu einem letzten Verweis auf das diesbezüglich verwaiste Volksopern-Repertoire. Wer Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau und Fritz Wunderlich Lortzing singen hört, wird sogleich bedauern, daß die deutsche Spieloper gar keinen Platz mehr im Wiener Repertoire zu haben scheint, während drei Häuser »Salome« auf die Spielpläne gesetzt haben - obwohl nur eines davon das Orchester ausreichend besetzen kann.

Wie auch immer, Fritz Wunderlich ist einer der bedeutendsten Protagonisten des Querschnitt-Projekts. Man hört die Traumstimme hier etwa auch an der Seite von Hilde Güden in Verdis »Traviata»; und nicht zuletzt nebst Evelyn Lear, Brigitte Fassbaender, Fischer-Dieskau und Martti Talvela in Tschaikowskys »Pique Dame« und »Eugen Onegin»; wobei Wunderlichs Lenski-Arie wohl nicht nur meiner Meinung nach zu den größten Tenor-Leistungen der Aufnahmegeschichte gehört, dank der vollkommenen Verschmelzung von Wort und Ton zu höchstem Ausdruck.

So müssen, denkt man, russische Musikfreunde fühlen, wenn ein russischer Tenor ähnlich herrlich phrasiert. Wer des Russischen nicht mächtig ist, wird dergleichen auch beim allerbesten Tenor in einer Aufführung in unseren Tagen nicht erfahren.

Amüsantes Detail: Die Segnungen der jungen Stereophonie nutzte man damals zu akustischen »Inszenierungen« - so wandert Gisela Litz als Carmen während ihrer Habanera auf der imaginären Opernbühne im Wohnzimmer von Zentrum nach rechts und dann wieder weit hinüber an den äußeren Rand des linken Lautsprechers. Währenddessen denkt der Hörer vielleicht darüber nach, was gegen Bizet auf Deutsch sprechen könnte.

Die Vorschriften der Political Correctness zum Beispiel. Vielleicht hat sie ja »bunte Flügel«, aber daß »die Liebe vom Zigeuner stammt«, das geht natürlich heutzutage gar nicht mehr.

Wer's damit nicht so genau nimmt, erlebt bei »Oper auf Deutsch« die Dramen wirklich auf Punkt und Komma, versteht nicht nur vage, worüber jeweils gerade verhandelt wird, sondern kann die Verflechtungen und Intrigen bis in die kleinsten Verästelungen nachvollziehen.

Die große Arie des Figaro im vierten Akt der »Nozze«, pardon: der »Hochzeit«, gewinnt plötzlich enorme Brisanz, vor allem wenn ein Interpret wie Walter Berry singt, den übrigens die hinreißende »Rosenarie« der Susanna von Rita Streich dann gewiß gleich wieder versöhnlich stimmt.

Apropos Stimmen: Neben bekannten Größen aus jenen Tagen fördert die Edition einige Entdeckungen für die Nachgeborenen zu Tage: Auf die Prachtstimme von Sandor Konya hat man beinahe schon vergessen. Er brilliert hier in »Aida«, »Hoffmanns Erzählungen«, »La Boheme« und in den sogenannten Opernzwillingen »Cavalleria rusticana« und »Bajazzo».

Und noch weniger erinnert sich die Opernwelt an den deutschen Tenor Ernst Kozub, den Georg Solti einst so schätzte, der sich aber durch Ungeschicklichkeit und Schicksalsschläge um eine große Karriere gebracht sah. Man hört die heldische, edelmetallische Stimme hier in »Carmen« und, ja, das war der Ausgangspunkt zu dieser Geschichte, als Herzog im »Rigoletto».

Die Einheit von Text und Musik

Jedenfalls erschließen sich manche Kongruenzen zwischen Text und musikalischen Feinheiten in diesen Aufnahmen erst so richtig. Vor allem natürlich dort, wo die Übersetzer die Subjekte, Objekte und Adjektiva auch der musikalischen Syntax anzupassen verstanden haben.

Das gelang, man weiß es, nicht immer. Aber jedenfalls treffen die deutschen Übersetzungen punktgenauer als die heute üblichen Soufflier-Pads in den großen Opernhäusern oder gar die Übertitel, die ja noch einen ganz wesentlichen Nachteil haben: Sie lenken fortwährend vom Geschehen auf der Bühne ab.

Ganz abgesehen davon, daß dieses Geschehen immer öfter ziemlich krass von dem abweicht, was im Text gerade zu lesen ist. Aber ich schweife schon wieder ab. Das ist tatsächlich ein ganz anderes Problem.


21. März



Es gibt ihn, den idealen »Ring»


CD und DVD. Dieser Tage hätte letztmals in der Ära Dominique Meyer Wagners Hauptwerk über die Staatsopernbühne gehen sollen. Tipps für häusliche Ersatzaufnahmen.

Jetzt sind wir also in unsere eigenen vier Wände verbannt, während die Staatsoper geschlossen halten muß. Dabei wäre gerade jetzt ein exzellent besetzter »Ring des Nibelungen« auf dem Programm gestanden. Sonntag wäre »Siegfried« zu erleben gewesen. Der Streamingdienst des Hauses bietet als Ersatz einen älteren Live-Mitschnitt. Wagnerianer - und solche, die es angesichts der nun erheblich vermehrten Chance, sich auf stundenlange Hörerlebnisse einlassen zu können, jetzt werden wollen - sehen sich im Übrigen vor die Wahl gestellt: Welchen »Ring« könnte man sich mit Gewinn daheim anschauen; oder anhören?

Was das Schauen betrifft, dürfen Traditionalisten auf die DVD-Edition des Mitschnitts der Otto-Schenk-Produktion von der New Yorker Met zurückgreifen (DG), die mit der Creme de la Creme der damaligen Sängerstars von Jessye Norman bis Christa Ludwig besetzt ist und von James Levine souverän, wenn auch gestalterisch nicht eben herausragend, dirigiert wird.

Das ist freilich für viele Zeitgenossen - nicht nur wegen der musikalischen Indifferenz und der keineswegs durchwegs wirklich rollendeckenden Besetzungen - kaum mehr ersprießlich.

Wer regielich drastischere Detailzeichnung verlangt und staunend studieren will, daß die heutige, international insgesamt desaströse Musiktheater-Optik durchaus räsonable Wurzeln hat, muß auf die DVD-Dokumentation des Bayreuther »Jahrhundert-Rings« von Patrice Chereau zurückgreifen. Gewiss, anno 1976 fing das seither notorische Bühnenbild-Verhängnis schon im »Rheingold« an, wenn die Rheintöchter auf einer Staumauer herumtanzen.

Patrice Chereaus grandiose Regie

Aber was die Personenführung betrifft, ist diese Inszenierung nach wie vor unerreicht in ihrer mehrheitlich doch nachvollziehbar aus der Musik und der wagnerschen Dramaturgie heraus entwickelten Detailgenauigkeit. Momente wie die Ekstase des liebenden Zwillingspaares am Ende des ersten »Walküren»-Aufzugs (mit den jugendlich stürmischen Wotanskindern Jeannine Altmeyer und Peter Hofmann) oder die verzweifelte Opferung Siegmunds durch den Göttervater (Donald McIntyre) hat man kaum je so realistisch-packend gesehen.

Und gehört? Manch akustische Ohrenpein ist im von Pierre Boulez rasant vorangetriebenen musikalischen Fluß der damals akuten Vokalhelden-Knappheit geschuldet.

Wie das ist, wenn ein großer Dirigent mit einem erlesenen Sängerensemble ans Werk geht und durch suggestive musikalische Bilder jegliche Szenerie verzichtbar macht, kann man an einem Rundfunk-Mitschnitt von den Bayreuther Festspielen 1953 feststellen, den ich unumwunden als den besten CD-»Ring« bezeichnen möchte.

Hier stimmt einfach alles. Clemens Krauss ist auf dem Gipfel seines Könnens ein Mann für die stürmischen dramatischen Entwicklungen ebenso wie für die filigrane Detailarbeit in Wagners Klangpsychologie.

Und er hat ein Sänger-Team ohne Fehl und Tadel um sich geschart, mehrheitlich junge Interpreten am Beginn großer Karrieren, die im vollen Saft ihrer vokalen Möglichkeiten mit der überwältigenden Ausdruckskraft des Orchesters mithalten.

Da ist Wolfgang Windgassen, erstmals in seiner Karriere in den beiden Siegfried-Partien, die er danach für mehr als ein Jahrzehnt für sich »gepachtet« hat. Dann Hans Hotter als Wotan und Wanderer - man kennt beide Sänger aus der legendären Wiener Studio-Produktion mit den Wiener Philharmonikern unter Georg Solti, die freilich nur aufnahmetechnisch (in John Culshaws hörspieltauglicher akustischer »Inszenierung») dem Mono-Mitschnitt unter Krauss überlegen ist. Windgassen wie Hotter hatten ihren Zenit bei Solti längst überschritten.

Bei Krauss aber erleben wir sie sozusagen mit hundertprozentigen Kraftreserven. Daß Hotter ein Zögling aus den Münchner Jahren dieses Dirigenten war und wichtige Partien in dessen Richard-Strauss-Uraufführungen (»Friedenstag«, »Capriccio« und »Die Liebe der Danae») gesungen hat, soll nicht vergessen werden.

Denn der Bayreuther »Ring« verrät, was Krauss schon als Wiener Staatsoperndirektor und danach in Berlin und München unter Ensemble-Pflege verstand. Unter den idealen Arbeitsbedingungen der »Werkstatt Bayreuth« konnte der Dirigent sämtliche Kräfte auf einen, seinen Kurs einschwören.

Clemens Krauss' Gewitterstürme

Daher hört man diese Aufnahme vom Strömen des Rheins bis zur abschließenden Götterdämmerung wie eine große Erzählung von unausweichlicher Intensität. Wer nur Probehören möchte, um sicherzugehen, höre das Vorspiel zur »Walküre». Ein orchestraler Gewittersturm von solcher Kraft bei gleichzeitiger meteorologischer Genauigkeit ward selten entfesselt. Dazu dann gleich das dunkel-sinnlich timbrierte Wälsungenpaar von Regina Resnik und Ramon Vinay, das später in Astrid Varnay und Windgassen als Brünnhilde und Siegfried ein beeindruckendes Gegenbild findet. Die finsteren Gesellen von Gustav Neidlinger und Josef Greindl. Es ist des Schwärmens kein Ende.

Selbst die kleinsten Partien sind luxuriös besetzt: Ein Waldvöglein wie Rita Streich, die ihm die wichtigen Botschaften ebenso jubilierend frisch wie wortdeutlich zuzwitschert, findet so bald kein Siegfried . . .

CD: Clemens Krauss, Bayreuth 1953 - Orfeo C 809 113 R. DVD: Der »Jahrhundert»-Ring, inszeniert von Patrice Chereau, Bayreuther Festspiele 1980 - DG 440. Juli 4057



21. März



Nicht nur »Ludwig van«, auch »Al


von»
feiert Geburtstag

Saison 2020/21. Intendant Thomas Angyan hat nach 32 Jahren seine letzte Spielzeit für die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien geplant. Er sorgte für das gewohnte internationale Star-Aufgebot, aber auch für einen eigenen Zyklus zum Geburtstag des großen Fin-de-Siecle-Meisters Zemlinsky.


Der »virale« Zwischenstand zuerst: 90 Veranstaltungen fallen bis Anfang April im Musikverein aus, 40.000 Karten müssen zurückgekauft werden, rechnet Intendant Thomas Angyan vor. Ob das vorläufig geplante Ende der Schließung halten wird, weiß er so wenig wie alle anderen Kultur-Veranstalter.

Und doch: »Den Schwung, mit dem wir in unser Jubiläumsjahr gegangen sind«, sagt er, »nehmen wir in die kommende Saison mit.« 2020/21 wird die letzte Spielzeit sein, die Angyan geplant hat. Sie steht noch im Zeichen des Beethoven-Geburtstags, doch liegt Angyan noch ein zweiter Jubilar am Herzen: »Das ist Alexander von Zemlinsky, eine der stärksten Musikerpersönlichkeiten im Wien der Zeit um 1900. Er hat an dieser Stadt viel zu leiden gehabt; und wurde schließlich ins amerikanische Exil getrieben, wo er 1941 starb.«

Die Gesellschaft der Musikfreunde beherbergt den Alexander-Zemlinsky-Fonds und versteht sich als Zentrale für die Verbreitung des Schaffens dieses Komponisten, von dem der jüngere Kollege Alban Berg gesagt hat: »Zemlinsky ist ein kolossaler Kerl.« »Alle wußten das«, sagt Angyan, »aber die Zeit hat sich brutal gegen ihn gestellt.«

Zemlinsky: Vor 150 Jahren geboren

Aus Anlass des 150. Geburtstags widmet der Musikverein dem Komponisten einen durch ein Symposion ergänzten Konzertzyklus, in dem nebst Kammermusik und Liedern auch Ballett- und Schauspielmusiken (RSO unter Gabor Kali), die Tondichtung »Die Seejungfrau« (Symphoniker, Lorenzo Viotti) und die »Lyrische Symphonie« (Andrea Dankova, Adam Plachetka, Symphoniker - Tomas Netopil) zu hören sein werden.

Beethoven gibt es Ende 2020 nochmals konzentriert: eine weitere Gesamtaufführung der neun Symphonien, diesmal mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim.

Im Übrigen erwartet die Musikfreunde wieder ein illustres Angebot von Star-Gastspielen und die von Angyan in seinen 32 Musikvereins-Jahren konsequent betriebene breite Fächerung des Programms, einerseits mit zahlreichen Konzerten für Kinder und Jugendliche, andererseits durch eine Repertoire-Vielfalt, die vom Barock bis zu Zeitgenossen reicht. 424 Konzerte finden 2020/21 statt, aufgeteilt auf 92 verschiedene Zyklen.

Stars, die wieder erwartet werden: Joyce DiDonato, Elina Garanca, Jewgeni Kissin, Maurizio Pollini, Anne-Sophie Mutter, Hilary Hahn oder Orgelvirtuose Olivier Latry, seit der Segnung der neuen Orgel aus dem Programm nicht mehr wegzudenken. Valery Gergiev bekommt einen eigenen Zyklus (ein klassischer, ein Prokofieff-, ein Strawinsky-Abend). Daß Maestri wie Mehta, Welser-Möst oder Thielemann wiederkehren, versteht sich beinah von selbst.

Einstand feiert Symphoniker-Chefdirigent Orozco-Estrada, der aber auch mit seinem Symphonieorchester des Hessischen Rundfunks gastiert und dafür ein Stück Musikvereins-Geschichte beschwört: Er dirigiert zweimal Franz Schmidts »Buch mit sieben Siegeln« - mit dem Uraufführungs-Chor, dem hauseigenen Singverein. Ein Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde, wie manche Uraufführung im kommenden Jahr; aber etwa auch das Sextett von Krzysztof Penderecki, das im März 2021 eine Wiederaufführung erleben wird.


20. März



>So stürmt man Himmel und Charts


Karajans Beethoven. In Berlin produzierte der Maestro die Symphonien und die »Missa solemnis». Die Erfolgsgeschichte ist noch immer nicht zu Ende.

Die ersten Takte dieser Aufnahme der »Missa solemnis« gehören zu den akustischen Wundern. Dem feierlichen Auftakt von Orchester und Chor folgt die Entfaltung dreier einzigartiger Stimmen: Fritz Wunderlich, Gundula Janowitz und Christa Ludwig rufen nacheinander »Kyrie«, ein Fest vokaler Schönheit und Leuchtkraft, die in Tönen widerspiegelt, was ein Besucher gotischer Kathedralen empfinden mag, wenn das Sonnenlicht durch bunte Glasfenster ins mystische Kirchendunkel scheint. Wer's je gehört hat, weiß, daß das Bild nicht pathetisch-übertrieben ist.

Nachzuprüfen anhand der soeben erschienenen Neu-Edition, im Doppelpack mit einer Blue-Ray-Audio-Disc, die ein völlig neues Hörerlebnis ermöglicht. Was bis dato nur in Digitalisierungen für das CD-Format greifbar war, steht nun dank der Speicherkapazität des neuen Mediums in High-Definition-Qualität (24-bit/192 kHz) zur Verfügung, und das klingt sogar für fanatische Analogfreunde, die ihre alte Schallplatten-Kassette nie weggegeben haben, ziemlich überzeugend.

Die Rückkehr der Schallplatte

Doch ist es kein Grund, sich nun von seiner Plattensammlung zu trennen. Erstens gibt es noch nicht viele Aufnahmeklassiker in HD-Qualität im Handel. Zweitens haben die großen Labels längst erkannt, daß der LP-Markt durchaus wiederbelebt werden kann. Die Hi-Fi-Technologie hat nie aufgehört, sich auch um eine Weiterentwicklung der scheinbar veralteten Schallplatte zu kümmern, bringt immer neue, raffiniert hochgezüchtete Plattenspieler heraus.

Und für die gibt es auch »Futter». Um das Feld nicht Nischenfirmen zu überlassen - die wie beispielsweise Speakers Corner sensationelle, rein analog von Originalbändern hergestellte Neupressungen produzieren -, bringen die großen Labels Reprints legendärer Katalognummern heraus.

Sie greifen beim Remastering zwar in der Regel auf die HD-Digitalisierungen ihrer Aufnahmen zurück, erzielen aber mittlerweile dank exzellenter Pressverfahren und erstklassigem 180-Gramm-Vinyl erstaunliche Ergebnisse.

So ist quasi mit derselben Lieferung mit der BluRay-»Missa« eine Kassette mit acht Langspielplatten herausgekommen, die in Vintage-Design die legendäre Gesamtaufnahme der Beethoven-Symphonien durch Karajan und die Berliner Philharmoniker enthält. Das Ergebnis kann auch Analogpuristen überzeugen. Der Klang ist von eminenter Tiefenstaffelung und räumlich großzügig, auch in den Höhen fein differenziert.

Damit wird eine Erfolgsgeschichte weitergeschrieben, die in der Geschichte der Tonaufnahme ihresgleichen - zumindest im Klassikbereich - nicht haben dürfte.

Noch als die Aufnahmeserie in der Berliner Jesus-Christus-Kirche begann, unkte die Konkurrenz, die Deutsche Grammophon Gesellschaft werde sich übernehmen. Das bis dahin teuerste Projekt aller Zeiten müsse ja Verkaufszahlen bis zu 100.000 Einheiten erzielen, um die Kosten hereinzuspielen.

Zehn Jahre später hatte man die Kassette der neun Symphonien eine Million Mal verkauft. Auch in unseren Tagen ist und bleibt dieser Beethoven-Zyklus der Bestseller. Und er ist im Beethoven-Jubiläumsjahr nun wieder in »beiderlei Gestalt« zu haben: auf LP und CD - und sogar auch auf Blue-Ray-Disc in HD-Qualität.

Bleibt nur eine bittere Geschichte nachzureichen: Das »Wunderteam« der »Missa« mit Walter Berry als Bass-Solisten ging im Februar 1965 unmittelbar im Anschluß an die Beethoven-Aufnahmen daran, auch noch Haydns »Schöpfung« aufzunehmen. Doch als diese Produktion nach einer Pause von einigen Monaten fertiggestellt werden sollte, war Fritz Wunderlich bereits tot . . .


19. März



Was das Konzerthaus plant: Klassik und Jazz, Film und Literatur


Programm 2020/21. In Zeiten des Verzichts auf sämtliche Live-Kulturveranstaltungen liest sich die Vorankündigung der kommenden Spielzeit bei Wiens vielseitigstem Veranstalter besonders spannend. Wie gewohnt, kündigt Matthias Naske nicht nur musikalische Höhepunkte an.

Beethovens »Missa solemnis« und »Prometeo« von Luigi Nono umklammern die kommende Spielzeit im Konzerthaus - zwei im Aufwand wie inhaltlich herausfordernde Schlüsselwerke ihrer Epochen. Damit rahmt Intendant Matthias Naske eine Saison mit 600 Veranstaltungen, die - hoffentlich wieder virenfrei - wie gewohnt nicht nur der Musik aller Spielarten, sondern auch dem Film und der Literatur gewidmet sind.

Kern des Programms bilden selbstverständlich wieder die großen Orchesterkonzerte mit einem Repertoire, das vom Barock bis zur zeitgenössischen Musik reicht. Im internationalen Orchesterzyklus dominiert diesmal Semyon Bychkov, der im Herbst und im Frühjahr 2021 mit seiner Tschechischen Philharmonie gastieren wird. Dazu als Rarität ein Gastspiel des Orchesters des Moskauer Bolschoi-Theaters unter Tugan Sokhiev mit Werken von Tschaikowsky (Solist: Julian Rachlin) und Sergej Rachmaninow. Russisches beherrscht auch den Zyklus von Teodor Currentzis, der mit dem SWR-Orchester und seiner MusicAeterna Prokofjew, Tschaikowsky und Skrjabin, aber auch Mahler und Mozart nach Wien bringt.

Einstand des neuen Symphoniker-Chefs

Die Wiener Symphoniker musizieren im Konzerthaus in den unterschiedlichsten Formaten, auch in Matineen und freitäglichen Frühabendkonzerten, nicht zuletzt mit dem Einstandskonzert ihres neuen Chefdirigenten, Andres Orozco-Estrada. Sie musizieren mit Solisten wie Maxim Vengerov, Rudolf Buchbinder, Martha Argerich, aber auch mit dem Gitarrenvirtuosen Milos. Die bewährten Zyklen des Konzerthauses reichen von »Symphonie Classique« über »Originalklang« bis zu »Klangforum« und »Nouvelles Aventures«, aber auch zur großen Chormusik. 2020/21 unter anderem mit Haydns »Jahreszeiten«, Händels »Messias«, Mendelssohns »Paulus«, Mozarts c-Moll-Messe und Orffs »Carmina burana». Bachs »Weihnachtsoratorium« unter Marc Minkowski fettet diesmal die Abonnementreihe mit Bach'schen Kantaten auf.

Die Kammermusik dominieren wieder die »Hausquartette« Artemis, Belcea sowie das Hagen-Quartett, bei dem einmal (für Schostakowitsch) auch Igor Levit gastiert. Der Starpianist nimmt sich auch der nächsten Generation an und musiziert mit Julia Hagen in ihrem Cello-Abend im Rahmen der Reihe »Great Talents« Sonaten von Beethoven und Mendelssohn. Levit führt auch die Reihe der bedeutenden Solisten an, die im Konzerthaus zu Gast sein werden: Grigory Sokolov, Andras Schiff (»Goldberg-Variationen»), Anne-Sophie Mutter und Sängerelite unterschiedlichster stilistischer Provenienz, von Jan Bostridge bis Jonas Kaufmann und Anita Rachvelishvili. Rudolf Buchbinder absolviert den Zyklus sämtlicher Beethoven-Sonaten diesmal wieder im Konzerthaus.

Freunde des Jazz dürfen sich auf eine Gala zum 100. Geburtstag von Charlie Parker freuen, aber auch wieder auf intime »Unplugged»-Abende im Mozartsaal, wo Wienerlieder und Schrammeln zu Hause sind. Ein ähnliches Angebot gibt es auch in der Kategorie World Music. Ein eigener Zyklus ist vier Wiener Singer-Songwriterinnen gewidmet. Dazu kommt »Film + Musik«, Literatur mit und ohne Musikbegleitung.




18. März



Gundula Janowitz: So schimmert Gold musikalisch


Die Erstauflage der »Janowitz Edition« war sofort vergriffen, nun ist die Kult-Box für Stimmfetischisten wieder da.

Gerade jetzt, wenn viele Musikfreunde vielleicht Lust verspüren, sich mangels Ausgehmöglichkeiten einmal aufs Zuhören zu konzentrieren und sich einer der schönsten Stimmen des internationalen Musiklebens des 20. Jahrhunderts zu widmen, bringt die Deutsche Grammophon die »Gundula Janowitz Edition« wieder in den Handel.

14 CDs für Stimm-Fetischisten, die sich hier im wahrsten Sinne des Wortes im akustischen Glanz eines Soprantimbres sonnen dürfen, das in den Sechziger- und Siebzigerjahren zweifellos von einzigartiger Schönheit war. Silber, Gold haben den Rezensenten unzählige Male als Assoziation gedient beim Versuch, das Unbeschreibliche in Worte zu fassen.

Freilich: Die Janowitz hat es nie dabei belassen, einfach ihre unverwechselbare Stimme zu verströmen. Die CD-Sammlung läßt die künstlerische Entwicklung der Sängerin nachvollziehen, die von ihrem Mentor bald aus dem lyrischen ins dramatische Fach begleitet wurde. Die Studioaufnahmen dokumentieren Wagner-Ausflüge bis hin zur Sieglinde (»Walküre« unter Karajan) oder Elisa (»Lohengrin« unter Kubelik), die ihr weiterhin ermöglichten, auch im barocken und klassischen Repertoire auszuspielen.

Die Aufnahme-Reihung beginnt mit der hinreißenden Wiedergabe von Georg Philipp Telemanns »Ino« (1970) und bringt Ausschnitte aus bedeutenden Chorwerken bis zu Orffs »Carmina burana».

Am wohlsten bei Mozart, Strauss

Aus dem Bühnen-Repertoire hört man Arien und Szenen aus dem »Freischütz«, »Tannhäuser«, »Lohengrin«, aber auch Lortzing oder Johann Strauß. Vor allem aber immer wieder Richard Strauss und Mozart, wo sich die Stimme hörbar am allerwohlsten fühlte. Den Schlußgesang aus »Capriccio« (unter Böhm) hat wohl keine Zweite so innig und voll der verhaltenen Leidenschaft zu gestalten gewusst. Und zwischen den beiden Wiedergaben der »Vier letzten Lieder« - eine unter Bernard Haitink, die andere, geradezu sagenumwoben, unter Karajan - kann sich der Janowitz-Verehrer schwer entscheiden. Wobei die Karajan-Aufnahme auch für berühmte Kommentatoren zu den absoluten »Insel-Platten« zählt. Die Klavierlieder-Aufnahmen - voran Schubert - runden das Porträt ab. Daß die Künstlerin jüngst mit der Hugo-Wolf-Medaille geehrt wurde, wird verständlich: Die Durchdringung von Wort und Ton bei absoluter Herrschaft der Melodie als Ausdrucksträgerin ist vollkommen.

Komplett aufgenommen wurden in die Box der erste Aufzug der »Walküre« mit Jon Vickers und Matti Talvela unter Karajan - eine Interpretation von kühnem Schwung und höchster Intensität; und Karl Böhms unschlagbare Deutung von Joseph Haydns »Jahreszeiten« (mit Peter Schreier und Talvela), eine »Inselplatte« für den Schreiber dieser Zeilen, wenn wir schon dabei sind . . .


17. März



Über die Opernliebe in Zeiten des Virus


Klassik-Streaming. Freie Gruppen tun es längst, die großen Musen-Tempel ziehen nun mit kostenlosen Angeboten nach.

Geschlossen, heißt es auf den Programmen der großen Hochkultur-Tempel; und das beinahe weltweit. Die meisten der wichtigen internationalen Konzert- und Opernhäuser mußten wegen der Corona-Krise ihre Pforten schließen. Das heißt aber nicht, daß sie untätig sind. Jene, die den Spielbetrieb wirklich komplett einstellen mußten, kramen in ihren Archiven und holen Aufzeichnungen von Vorstellungen der vergangenen Spielzeiten hervor, um sie kostenlos im Internet zu zeigen.

Die Berliner Philharmoniker, die über das reichhaltigste, für Abonnenten ständig zugängliche Archiv an Musik-Videos verfügen, machen ihre »Digital Concert Hall« für einige Wochen frei zugänglich. Bis 19. April stehen allen Interessenten die zahllosen Video-Aufzeichnungen des Archivs, in dem so gut wie sämtliche Konzertprogramme der jüngst vergangenen Spielzeiten und manch bedeutende historische Videoproduktion des Orchesters gesammelt sind, kostenlos zur Verfügung.

Zaungäste können da gleich auch die neuesten Neuigkeiten von den Berliner Philharmonikern erfahren, ob kühn programmierte Konzerte mit dem Chefdirigenten Kirill Petrenko oder spannende Husarenritte junger Maestri . . .

Die Bayerische Staatsoper streamt kostenlos Aufführungen, die ohne Publikum im Nationaltheater stattfinden. Das Haus, könnte man ironisch anmerken, hat Erfahrung mit solchen Unternehmungen. Die Vorstellungen von Wagner-Opern, die man einst exklusiv für König Ludwig II. gab, sind sagenumwoben. Nun kann die Welt zuschauen und -hören, während das Auditorium leer bleibt.

In Wien läßt man sich nicht lumpen. Die »Fidelio»-Neuinszenierung, die dieser Tage an der Wien herauskommen sollte, wurde zum TV- und Internet-Alleingang. Inzwischen haben sich etliche Musiker in ihrem »Hausarrest« überlegt, wie sie die technischen Möglichkeiten des Internet-Zeitalters nutzen könnten, um das Genre Kammermusik neu zu definieren.

Joyce DiDonato streamte über ihren Facebook-Channel am Sonntag »Carmen« mit Piotr Beczala aus ihrem Wohnzimmer. Morgen, Mittwoch, streamt der Geiger Yury Revich von daheim Werke von Bach über Paganini bis Piazzolla. Im Anschluß an das Konzert dürfen alle Interessierten an einer virtuellen Fragestunde teilnehmen und mit dem Musiker plaudern. Übertragen wird das Konzert ab 18 Uhr auf Revichs Kanälen bei Instagram und Facebook.

Eine Chance bietet die Krise auch freien Gruppen, die ihre Produktionen längst zur freien Begutachtung ins Netz gestellt haben, ohne viel Werbung dafür machen zu können. So wies Peter Wagner gestern via Mail darauf hin, daß seine mit Erling Wold 2018 in Klagenfurt produzierte Oper »Rattensturm« unter vimeo.com/295004685 jederzeit abrufbereit ist: Eine Möglichkeit, ins zeitgenössische Musiktheaterschaffen einzudringen, das jenseits des Mainstreams seine Blüten treibt.


16. März



Was wir in der Karwoche in Salzburg erlebt hätten


Anstelle der Osterfestspiele. Quasi im letzten Moment vor der Theater-Zwangspause konnte Christian Thielemann in Dresden noch Schönbergs »Gurre-Lieder« dirigieren, die ein Vorgeschmack auf das Festival werden sollten - und nun zu einer Art Trostpflaster wurden.
Gemeinschafts-Artikel mit Josef Schmitt
Die abgesagten Osterfestspiele hatten zunächst einmal ein jämmerliches Vorspiel. Denn der von Landeshauptmann Haslauer erwählte künftige Leister des Festivals, Nikolaus Bachler, war sich nicht zu schade, in einem bösartigen Mail-Rundumschlag den derzeitigen kaufmännischen Geschäftsführer, Peter Ruzicka, zu attackieren.

Im Juni wird Bachler zunächst Ruzickas Amt übernehmen - der künstlerische Leiter der Osterfestspiele, Christian Thielemann, der Salzburg dank der Aktion des Landeshauptmanns samt seiner Dresdner Staatskapelle nach 2022 abhanden kommt, muß mit dem ungeliebten und - wie sich gezeigt hat - ungehobelten ehemaligen Burgtheater-Chef zwei Jahre lang auskommen. Den Schaden hat in der Folge Salzburg. Aber das muß der Politiker verantworten. Derweil kooperieren die Festspiele noch mit Dresden. Das ermöglichte reisenden Musikfreunden jüngst noch einen Teil des für heuer vorgesehenen Programms mitzubekommen.

Wie einst Karajan in Berlin bereitet nun Thielemann in Dresden seine Festspiel-Produktionen vor. Mit Spannung erwartete man Thielemanns Auseinandersetzung mit dem Gipfelwerk von Arnold Schönbergs spätromantischer Periode, den »Gurre-Liedern». Die Vertonung von Jens Peter Jacobsens Text gilt neben Mahlers Achter Symphonie als größte Versammlung musizierender und singender Menschen, die je von Komponisten aufs Konzertpodium bestellt wurden.

Dieser Herausforderung stellten sich die um Musiker des Gustav Mahler Jugendorchesters vermehrten Kräfte der Sächsischen Staatskapelle in ihrem Konzert, das unmittelbar vor dem Verbot solcher Großveranstaltungen noch abgehalten werden durfte. Beeindruckend schon vor Beginn die Bühne der Semperoper, die um den angehobenen Orchestergraben erweitert werden mußte, um die fast 150 Orchestermitglieder, den achtstimmigen gemischten Chor und drei (!) Männerchöre aufnehmen zu können.

Leidtragende dieses gewaltigen Aufwands an »Gruppenpersonal« sind bei Aufführungen dieses Werks in aller Regel die Solisten. Vor allem die Stimmen von Tenor und Sopran in den Rollen von König Waldemar und dessen Geliebter Tove werden von den Orchestermassen oft regelrecht ertränkt.

Nicht so bei Christian Thielemann, der die musikalische Gratwanderung meisterte, einerseits die Sänger nicht zu überdecken, andererseits aber nicht auf die von Schönberg geforderte orchestrale Üppigkeit zu verzichten. So konnten Camilla Nylund und Stephen Gould in den deutlich von Wagners »Tristan« beeinflußten Liebes-Liedern schwelgen. Nylunds hell leuchtender Sopran überstrahlte mühelos auch die emotionalsten Aufwallungen, blieb dabei bewundernswert wortdeutlich.

Stephen Gould hatte es angesichts des Riesenaufgebots von Bratschen und Celli, die ihm in seinem Register Konkurrenz machten, deutlich schwerer. Wagner-erprobt mobilisierte er alle Kräfte.

Leichter macht es Schönbergs Instrumentierung im koloristisch behutsam aufgefächerten Lied der Waldtaube der Mezzosopranistin Christa Mayer - nach dem von Thielemann träumerisch-schön ausbalancierten Orchesterzwischenspiel markierte ihr ausdrucksvoller Klagegesang auf die tote Tove einen expressiven Höhepunkt zum Abschluß des ersten Teils.

Auf Stephen Goulds kurzen, aber dank der hohen Lage eindrucksvoll gestalteten Verzweiflungs-Monolog folgte die wahrhaft »wilde Jagd«, von Waldemars Mannen - in der Thielemann doch sicherzustellen wußte, daß es sich hier um raffinierte Polyfonie, nicht um willkürliches Durcheinander handelt. Unterbrochen von skurrilen Episoden - Markus Marquards abergläubischem Bauern und Wolfgang Ablinger-Sperrhackes ironisch-bissigem, doch schönstimmigem Klaus-Narren - mündet das Pandämonium ins Hohelied der Natur, dem Franz Grundheber seinen sonoren Sprechgesang lieh.

Die von Jörn Hinnerk Andresen und Jan Hoffmann einstudierten Leipziger und Dresdner Chöre brillierten im Sonnengesang des Finales. Jubelstürme für das Ereignis, das leider nun nicht exportiert wird.


16. März



Zwischentöne


Die Staatsoper zeigt den »Ring« trotz allem.


Jetzt ist der Moment gekommen, wo die Segnungen der modernsten Video-Technik uns über eine unfreiwillige Pause im Kulturleben helfen.

Wagnerianer sind unter den Opernfreunden die durchschlagskräftigsten. Das weiß man. Kein Mailänder Loggionista kann mithalten, wenn Bayreuth-Jünger, deren Vorbild immerhin Hagens Mannenruf ist, loslegen. Insofern ist es klug zu versuchen, den teutonischen Grimm im Zaum zu halten.

Das geschieht angesichts der gesundheitspolitisch verordneten Theater-Schließungen in Wien. Das einzige Opernhaus der Welt, das im vergangenen Dezennium imstande war, in jeder Spielzeit einen kompletten Durchlauf der Nibelungen-Tetralogie zu bieten, gibt sich auch keine Blöße, wenn es anno 2020 nicht möglich ist, den geplanten »Ring« live zu zeigen.

Jetzt lassen sich die Früchte ernten. Was den Göttern die goldenen Äpfel aus Freias Garten sind, das ist Dominique Meyer sein Archiv aus Aufnahmen, die im Zug der etwa drei Dutzend im Internet übertragenen Live-Streams entstanden: Die zweite Hälfte seiner Amtszeit ist bestens dokumentiert.

So konnte gestern eine Reihe beginnen, in der ab sofort Tag für Tag wechselnd Vorstellungen der jüngeren Vergangenheit abgerufen werden können. Heute läuft noch das »Rheingold« vom 10. Jänner 2016 - unter Adam Fischers Leitung, der beim diesjährigen »Ring« am Pult stehen sollte. Am Abend des 18. März (dann wie alle anderen Streams 24 Stunden abrufbar) ist die »Walküre« vom 31. Mai 2015 zu sehen. »Siegfried« (22. März) und »Götterdämmerung« (28. März) sind dann Dokumentationen aus dem viel beachteten »Ring« unter Axel Kobers Leitung aus dem Vorjahr.

Wie bei antiken Tragödien gibt es zum »Ring« Satyrspiele, mehrheitlich buffonesker Art und allesamt aus dem italienischsprachigen Repertoire: »Falstaff« und »Cenerentola«, »Figaro« und »Tosca« - und morgen, Dienstag, einen Ausflug ins Zeitgenössische: Peter Eötvös' Tschechow-Oper »Tri Sestri« mit den fulminanten drei Schwestern aus dem Ensemble, Aida Garifullina, Margarita Gritskova und Ilsejar Khayrullova, aus der vom Komponisten geleiteten Premierenserie 2016.

Und da wir alle brav zu Hause bleiben, empfiehlt sich, zur Lektüre während der »Ring»-Pausen ein neues Buch zu bestellen, das so aufschlußreich wie amüsant zu lesen ist.

Die Wiener Musikwissenschaftlerin Andrea Harrandt hat Anton Bruckners Beziehungen zu Richard Wagner genau erforscht und mit ihrem Band »Anton Bruckner in Bayreuth« eine lesenswerte Studie vorgelegt, die dank der Schrulligkeiten des großen Symphonikers auch viel Gelegenheit zum Schmunzeln bietet.

Wer bei der erstbesten Suchmaschine nicht gleich fündig wird: Nicht aufgeben! Auch in Österreich verkaufen Händler Bücher - sogar online, wenn es sein muß. Es lohnt sich . . .

11. März



Da fangen Komponisten Feuer


Im Gespräch. Margarita Gritskova über ihre Arbeit mit Peter Eötvös, der nach der Premiere seiner »Tri Sestri« an der Staatsoper für die Mezzosopranistin ein neues Stück komponierte.

Mit voller Energie hat man an der Staatsoper in den vergangenen Wochen an der Wiederaufnahme von Peter Eötvös' Tschechow-Oper »Die drei Schwestern« gearbeitet, die nun nicht stattfinden kann. Die Premiere der Inszenierung Yuval Sharons war ja eine kleine Sensation. Das Publikum jubelte, nachdem es während der »Sequenzen«, wie die Akte in diesem Werk heißen, den Atem angehalten hatte.

Der Erfolg bestätigte die These, daß es für ein bedeutendes Opernhaus weniger wichtig ist, viele Uraufführungen herauszubringen, als zeitgenössische Werke, die sich als besonders eindrucksvoll entpuppt haben, nachzuspielen.

Und das möglichst in mustergültigen Einstudierungen. Dafür war im Falle der in russischer Sprache gesungenen »Tri Sestri« gesorgt. Wie schon anlässlich der Erstaufführung von Thomas Ades' Shakespeare-Oper »The Tempest« leitete der Komponist persönlich Proben und Aufführungen.

Peter Eötvös wurde in dieser Zeit zum Liebling des Ensembles, wie umgekehrt er die Qualitäten der Wiener Musiker und Sänger schätzen lernte. Weil ihm im Staatsopern-Ensemble drei Damen zur Verfügung standen, die des Russischen mächtig sind und als Darstellerinnen perfekt zu ihren Rollen paßten, schrieb er die Partien der drei Schwestern für die Wiener Premiere um.

Ursprünglich verkörperten drei Countertenöre Irina, Mascha und Olga. Nun waren es drei bildhübsche Sängerinnen: Aida Garifullina, Margarita Gritskova und Ilseyar Khayrullova. Die Irina hätte diesmal Valentina Nafornita gesungen.

Tschechow und die Neue Musik

Die Zuneigung zwischen Sängern und Komponist/Dirigent beruhte bei der Probenarbeit wieder absolut auf Gegenseitigkeit. Margarita Gritskova meint im Gespräch: »Zweifellos war die Arbeit an dieser Wiederaufnahme eine große Freude für mich, weil ich eine ganz besondere Beziehung zu dieser Produktion, zur Inszenierung und natürlich zum Komponisten gewonnen habe.«

Die St. Petersburgerin ist begeistert, wie gut Peter Eötvös den »echten Tschechow-Konflikt zwischen der Realität des Hier und Jetzt - mit dem man nicht glücklich ist - und dem, was man mit seiner ganzen Seele sich wünscht« eingefangen habe.

In drei »Sequenzen«, jeweils aus der Sicht einer anderen der handelnden Figuren, werde ein und dieselbe Geschichte erzählt: »Das, woran man sehnsüchtig glaubt, dieser Traum von einer besseren Zukunft, entpuppt sich jedes Mal als Utopie«, sagt Gritskova, »aber genau darin besteht der besondere Reiz der Charaktere bei Tschechow: Trotz aller Unwegsamkeiten glauben sie an die Wendung zum Besseren - und jeder versucht, das Seinige dazu zu tun.«

Die Mezzosopranistin glaubt sogar aus Eötvös' Musik herausgehört zu haben, daß der Komponist seinen Figuren eine Chance auf Erfüllung zubilligt: »Wenn Andrei, der ältere Bruder verkündet, ihm sei die Gegenwart zuwider, aber die Zukunft würde die ,Befreiung von der Leere' bringen, dann singt er ein Motiv, das der russischen Nationalhymne ähnelt und lächelt . . .«

Peter Eötvös, angetan von der dreieinhalb Oktaven mühelos umgreifenden Stimme Gritskovas, fühlte sich inspiriert zu einer Vokalise, einem unbegleiteten Gesang nach Marina Zwetajewas Gedicht »Bitternis«, den er der Sängerin widmete.

Auf die außergewöhnlichen Qualitäten Gritskovas sind mittlerweile nicht nur Komponisten und internationale Opernhäuser aufmerksam geworden - jüngst debütierte sie in Paris als Rossinis »Italienerin in Algier« -, sondern auch die CD-Produzenten.

Russische Liedkunst auf CD

Im Verein mit Maria Prinz produzierte sie für das Label Naxos Aufnahmen russischer Liedkunst. Erschienen ist bereits eine CD mit Werken von Rachmaninow, Tschaikowsky und Rimskij-Korsakow, demnächst kommt eine Aufnahme von Liedern Sergej Prokofieffs in den Handel, für den Herbst ist die Veröffentlichung einer Schostakowitsch-CD geplant, die bereits aufgenommen ist.

Vieles davon wird nicht nur für Musikfreunde in Westeuropa und den USA eine Entdeckung sein; nicht zuletzt Prokofieff erscheint als Melodiker in ganz neuem Licht.

Jetzt heißt es für Margarita Gritskova erst einmal Abschied nehmen von der Staatsoper, die für viele Jahre ihre Heimat war: »Ich bin Direktor Dominique Meyer dankbar dafür, daß er mir sein Vertrauen geschenkt hat und mir viele großartige Aufgaben anvertraut hat.«

Immerhin war Gritskova zuletzt die Carmen an der Seite von Piotr Beczala anlässlich von dessen Welt-Debüt als Don Jose, und sang im Vorjahr mit Juan Diego Florez durchaus »auf Augenhöhe«, wie die Kritiker bestätigten, im »Barbier von Sevilla».

»Leben werde ich aber weiterhin in Wien«, sagt die Künstlerin, und freut sich auf die große Abschiedsgala am Ende der Ära Meyer, die den jungen Ensemble-Mitgliedern gewidmet ist. Nach ihrem Debüt als Giovanna Seymour in Donizettis »Anna Bolena« am Münchner Gärtnerplatztheater im Herbst singt sie dann ja doch wieder in Wien: im Rahmen von »Christmas in Vienna». Und auch Konzertauftritte, unter anderem unter Lorenzo Viottis Leitung, sind für 2021 schon fixiert.


9. März



Zwischentöne


Von der Kunst, aus dem Kleinsten das Größte zu machen


Wie Beethovens Erben ihre Auswege aus dem schwer überschaubaren Terrain fanden, das er mit seinem Schaffen erobert hat.

Auch kleine Dinge können uns entzücken«, heißt es in Hugo Wolfs »Italienischem Liederbuch». Das klingt wie das Motto der deutschen Romantik, die der Musikgeschichte unter anderem die Formenwelten des Charakterstücks bescherte. In bewußtem Gegensatz zu Beethoven, der mit enormen architektonischen Entwürfen - etwa in der Neunten oder der »Hammerklavier-Sonate« - die klassische Formbeherrschung auf die Spitze getrieben hat.

Vollendet, in den Augen der Nachwelt. Und schwer zu übertreffen. Ein Mann wie Brahms brauchte denn auch vier Jahrzehnte, bis er sich an seine Erste Symphonie wagte. Mit Bruckner war es nicht anders.

Robert Schumann schrieb Symphonien, die eher aus dem Geiste seiner pianistischen Charakterstücke gebildet scheinen - auch durch kunstvoll gefügte Mosaike ließen sich ja größere, zusammenhängende Formen bilden: Der Szenen aus Jean Pauls »Flegeljahre« verarbeitende »Carnaval«, den Leif Ove Andsnes am Donnerstag im Konzerthaus auf dem Programm hat, beweist das.

Andererseits versucht sich Schumann in der Vierten, die chronologisch gesehen seine Zweite Symphonie ist, an einer zyklischen, aus einem einzigen Grundmotiv entwickelten Struktur, deren Sätze pausenlos auseinander herauswachsen. Franz Liszt übernahm diesen Gedanken für seine große h-Moll-Sonate, die er nicht von ungefähr Schumann zueignete - und die bis in die musikalische Moderne hinein Modell für manch späteren Versuch bleiben sollte. (Schönbergs Erstes Quartett und die Kammersymphonie sind prominente Beispiele.)

Für Schubert, der die pianistische Kleinform als einer der Ersten veredelt hat, war die große Symphonie mit vier voneinander getrennten Sätzen das erklärte Ziel der künstlerischen Wünsche. Über die Kammermusik suchte er es zu erreichen und er experimentierte noch mit ausufernden Formen, als er seine »Große C-Dur-Symphonie« längst in Partitur gesetzt hatte.

Dem verdanken wir das allerletzte der Schubert'schen Quartette, in G-Dur und schon mit dem atemberaubenden einleitenden Wechsel von Dur und Moll in die harmonische Zukunft weisend. Alfred Brendel, der große Schubertianer, erläutert uns das dramatische Werk im Rahmen des Jeunesse-Auftritts des jungen Simply Quartet: Am 15. März darf man sich im Brahmssaal des Musikvereins eineinhalb Stunden lang in ein Meisterwerk versenken: Die Aufführung folgt pausenlos auf Brendels Vortrag.

Daß Schubert hier seine Antwort auf Beethovens riesenhafte Vorbilder gefunden hat, steht fest - wie weit sich der Jahresregent in Sachen Weitung des Horizonts nicht vielleicht manchmal selbst ausgetrickst hat, davon demnächst mehr . . .

4. März



Der spannendste Beitrag zum Beethoven-Jahr


Rudolf Buchbinder. Der Wiener Pianist stellte am Dienstag im Musikverein seine jüngste Doppel-CD vor, eine Variation über die Diabelli-Variationen, sozusagen: Beethoven, gekoppelt mit seinen und unseren Zeitgenossen.

Rudolf Buchbinder bat gestern, Dienstag, Abend in den Musikverein zu seinem »Diabelli-Projekt»: Seine 100. Wiedergabe der Diabelli-Variationen kombinierte er mit neun Uraufführungen. Bei Komponisten (auch musikalisch) unterschiedlichster Provenienz hat er Variationen über das Walzerthema in Auftrag gegeben, das Anton Diabelli einst ebenso an führende Komponisten seiner Zeit gesandt hat.

Daß Beethoven daraufhin 33 Variationen geliefert und damit nicht nur Diabellis Projekt gesprengt hat, weiß man. Buchbinder setzt dieses einzigartige Opus 120 nun in ein neues Umfeld. Auf CD ist das Programm soeben erschienen. Die neuen Variationen konnte Buchbinder alphabetisch reihen - es ergab sich daraus eine wunderbare Gliederung. Lera Auerbachs Variation steigt aus düsteren Tiefen zu leidenschaftlichen Aufwallungen. Brett Deans absolviert daraufhin kapriziöse Bocksprünge, unterbrochen von stillen, nachdenklichen Oasen.

Toshio Hosokawa »Verlust« meditiert über jeden Takt des Themas, breitet die einzelnen Figuren, Akkorde, Töne behutsam vor dem Hörer aus, von drohenden Clustern im Bass unterminiert. Christian Jost »Rock it, Rudi!« reißt uns daraufhin wild pulsierend aus der Rückschau, bevor mit Brad Lubman zumindest für Momente die fragmentierte Ästhetik Webern'scher Prägung vernehmbar, freilich sogleich durch kräftige Akzente wieder ausgetrieben wird.

Philippe Manouri behandelt das Material wie einen naiven Auszählreim, der außer Kontrolle gerät. Max Richte lieferte den letzten Ruhepunkt im bald wieder wirbelnden Geschehen, das Rodion Schtschedrin mit einer Geläufigkeits-Etüde, unterbrochen von kecken Stakkati, wieder vorantreibt, hermetischer freilich als im folgenden Johannes Maria Stauds, der zwischen swingenden Bassgängen und frei hingeschleuderten Akkordketten changiert.

Tan Duns »Blue Orchid« eröffnet mit einem Fragezeichen, das Diabellis neckischen Anfangsvorschlag auffaltet, um dann zarte Pflänzchen aus Elementen des Themas hochzuziehen, die nach und nach den ganzen Tonumfang des Flügels überwuchern.

Wie nach Beethovens Parforceritt scheint Diabellis »Walzer« damit vollkommen ausgelöscht. So kann der Zyklus der »neuen Variationen« mit einem raffinierten Stück des Schweizers Jörg Widmann schließen, der allen miteinander die lange Nase dreht. Kompositionstechnisch ist das gewiß der elaborierteste Beitrag, taugt daher nicht nur alphabetisch gesehen als Finale, eine sanfte Revolution der Töne, die taumelnd an Diabellis Noten entlang dem Abgrund zusteuern, ein bisschen sogar wienerische Stimmung streifen und auf dem Höhepunkt auf den »Radetzkymarsch« treffen, um ihn in einen Boogie zu verwandeln; und das nur scheinbar im Delirium, in Wahrheit ganz logisch aus Diabellis Auftakt entwickelt.

So meisterlich sind auch nicht alle Komponisten der Beethoven-Zeit mit der Aufgabe fertiggeworden. Buchbinder hat einige Versatzstücke aus Diabellis Projekt aufgenommen, darunter Virtuoses von Johann Nepomuk Hummel oder Friedrich Kalkbrenner, das verrät, was man im Biedermeier unter pianistischer Brillanz verstand. Ob in der Wunderkind-Variation des elfjährigen Liszt schon das Genie zu erkennen ist? Schubert freilich verwandelt die Stimmung im Nu, auch wenn er über Diabelli improvisiert, entsteht sozusagen von selbst große Musik.


29. Februar



Turandot mit Mut zur Leichtigkeit


Staatsoper. Elena Pankratova und Roberto Alagna geraten in Puccinis letzter Oper kräftig aneinander, um im Verein mit Golda Schultz auch sanftere Töne anzuschlagen.

Puccinis »Turandot« zählt im italienischen Repertoire zur gefährdeten Spezies. Die dramatische Anlage des Mittelakts mit seiner Rätselszene bedingt Besetzungen mit großen, durchschlagkräftigen Stimmen. Die Titelpartie zumal haben sich die bedeutendsten Wagner-Heroinen zu eigen gemacht. Das hat über die Jahrzehnte zu einer Art spezifischem »Turandot»-Gesangsstil geführt, der mit den ästhetischen Anforderungen des sonstigen Puccini-Repertoires nur zum Teil kompatibel scheint.

Nun finden wir im besten Fall natürlich Primadonnen des heroischen Fachs, die imstande sind, auch Strauss' Elektra zu singen, aber für Turandot dann doch auch vom Tragödienton zu einer gewissen vokalen Humanität finden.

Elena Pankratova ist eine solche Interpretin. Ihre Turandot ist eine Wucht, schon deshalb, weil ihr Sopran auch in den wütendsten Entladungen von Hass- und Rachegefühlen nichts an Sicherheit einbüßt: Die Töne überstrahlen das Wiener Orchester, auch unter Ramon Tebar nicht zimperlich, mühelos und strahlend.

Den sportlichen Ehrgeiz von Roberto Alagna, den man nie unterschätzen sollte, fordert sie dadurch auf das Äußerste. Seine Attacken im Quiz auf Leben und Tod setzt der Tenor mit dem ihm eigenen Totaleinsatz - und gewinnt bis hinauf zum hohen C, das gewiß nicht besonders farbenreich, doch imposant sein Selbstbewusstsein dokumentiert: Ein solcher »fremder Prinz« unterliegt nicht.

Der Tod und die Komödie

Obwohl er im »Nessun dorma« zu Beginn des dritten Akts dann ein wenig kurzatmig wirkt und im Schlußduett sogar ein paar Töne nicht ganz dort sitzen, wo sie sollten, bilanziert Alagna dank seiner umwerfenden Bühnenpräsenz positiv. Vor allem steht er spätestens in der Kußszene einer Herausforderin gegenüber, die ihrer Stentorstimme plötzlich manch lyrischen Klang abgewinnen kann.

Schon ihre verwunderte Reaktion auf die Standhaftigkeit der Sklavin Liu, die lieber stirbt als daß sie das Geheimnis ihres adorierten Prinzen preisgäbe, verrät, daß hinter der Maske des Todesengels manch zartere Saiten schwingen.

Golda Schultz, erstmals als Liu in Wien, bietet ja tatsächlich anrührend das Gegenbild zur bis dahin vollkommen kaltblütigen Herrscherin, ganz verinnerlicht singt sie, hie und da beinah zu wenig spürbar in Richtung Publikum. Doch gilt ihr dessen volle Teilnahme, dank schwebender Pianissimi und zart, aber fest gesponnenen Phrasen in den beiden Arien vor dem Finale. Ryan Speedo Green (Timur) beweint ihren Freitod dann herzzerreißend.

Rundum wirbelt relativierend Marco Arturo Marellis Theater-im-Theater-Inszenierung mit all ihren clownesken Anspielungen auf die komödiantische Herkunft der Opernvorlage aus Carlo Gozzis Commedia-dell'Arte-Kabinett. Alles halb so wild, aber effektvoll.


28. Februar



In Paris darf die Oper noch wirklich »comique« sein


Salle Favart. Im zauberhaften kleineren der beiden historischen Pariser Opernhäuser gibt man dieser Tage Boieldieus »Weiße Dame« und weiß, was man dem heiklen Genre »komische Oper« schuldig ist. Die Geschichten sind kurios genug, um keine Regieverdrehungen mehr zu brauchen.

Für Freunde des fortschrittlichen Intendantentheaters ist das nichts. Wer aber eines der wichtigsten Werke des Genres Opera comique kennenlernen möchte, hat am gleichnamigen Pariser Haus Gelegenheit dazu: Man spielt dort Francois-Adrien Boieldieus »Weiße Dame« auf, wie ein französischer Rezensent das ausdrückte, wirklich altmodische Weise. Also so, wie's im Büchel steht.

Das ist kurios genug, braucht keine Verdrehungen. Das Stück ist eine der Veroperungen der Anfang des 19. Jahrhunderts beliebten Schauergeschichten Walter Scotts, dem wir ja auch Donizettis »Lucia di Lammermoor« verdanken. Auch die weiße Dame wandelt im schottischen Hochland. Allerdings ist sie nicht dem Wahnsinn verfallen, sondern nutzt ihre gespenstischen Auftritte zum Wohle der Wiedereinsetzung der alten Herrschaft im Schloss.

Der baritonale Bösewicht, der den Herrschaftssitz unter Ausschaltung legitimer Konkurrenz wohlfeil ersteigern will, läßt sich durch die Spukgestalt nicht vertreiben. Doch die nächtliche Erscheinung stachelt den Besitzer, der nichts von seinem Glück ahnt, dazu an, dem Usurpator mutig entgegenzutreten. Das gelingt, es ist ja eine gut gelaunte, wahrhaft komische Oper, von der niemand Geringerer als Weber gemeint hat, es sei die beste seit Mozarts »Figaro».

Ob Boieldieus »Dame blanche« auch in den Augen der Nachwelt ganz so hoch oben in der historischen Hierarchie siedelt, bleibe dahingestellt. Ein witziges, brillant komponiertes Stück heiterer Musikdramatik ist sie jedenfalls; sie bildete deshalb für manch spätere Opera comique das Vorbild, ist sozusagen eine der Großmütter der Operette.

Die Regie: Textgetreu und lebendig

Im Paris der wieder eingesetzten Bourbonen-Regentschaft sah und hörte man vermutlich mit Genugtuung, wie freudig im Dorf die Restauration der alten Grundherrschaft begrüßt wurde. Zumal die Sache mit französischem Esprit und jedenfalls nicht ganz ohne Ironie abgehandelt wird.

So viel Brechung genügte Pauline Bureau für ihre Neuinszenierung im historischen Salle Favart, um in den tatsächlich ebenso historisch anmutenden Dekors von Emmanuelle Roy eine vollkommen textgetreue, quicke Regie zu realisieren. Einige Videoprojektionen ermöglichen sogar den ganz und gar nicht feenhaften Hauptdarstellern in der einleitenden Dorfszene beinah übersinnlich wirkende Auftritte.

Die eigentliche Geistererscheinung der weißen Dame wiederum schwebt im Mittelakt ganz bewusst an den Rand der Parodie; es ist ja tatsächlich eine mädchenhaft-naive Inszenierung, die da stattfindet. Und sie tut ihre zauberhafte Wirkung, weil das nachmalige Liebespaar sich da in einem virtuosen, leichtfüßig agilen Duett findet: Der lichte Sopran Elsa Benoits und der für dieses Repertoire ideal, fast »weiß« timbrierte Tenor von Philippe Talbot liefern einander ein spielerisch-feines Koloraturen-Duell. Talbot jagt, mehrheitlich höchst erfolgreich, in den Regionen rund ums hohe C; und versteht sich auch auf den in diesem Stil unabdingbaren Einsatz des Falsetts, vor allem aber auf die sicher in die Höhe geführte Mischstimme.

Jerome Boutillier als Gaveston setzt dem edlen Pärchen ein bis zwei Oktaven tiefer die nötigen markigen Bösewicht-Akzente entgegen. Auch der Rest der Besetzung kann sich hören - und sehen lassen: Aude Extremo etwa als gütig-besorgte Marguerite, deren erste Erscheinung sie in hitchcocktauglichem Verwirrspiel schon wie eine Verkörperung der Titelheldin erscheinen lässt.

Man weiß es bald besser. Figuren wie der bäuerliche Hasenfuß von Yann Beuron und seine patente Jenny, Sophie Marin-Degor, sorgen für die buffonesken Momente, denen Boieldieus Musik ebenso liebevoll assistiert wie den gefühlvolleren Episoden: Mag sein, die Melodik ist nicht von der feinsten Bellini-Qualität, aber gefällig und schmiegsam; vor allem aber triumphiert der Ensemblegeist: Dank Julien Leroys zündendem Dirigat entfalten die an Rossinis Brio und Differenzierungskunst orientierten, aber durchaus französisch-elegant gepflegten vielstimmigen Nummern unwiderstehlichen Charme.

Jubel für das ganze Team - er schloss auch die unsichtbaren Techniker und Bühnenarbeiter ein, die vor der Premiere gegen die geplante Rentenreform im Land demonstrierten: Man möge sie, die kleinen Rädchen des Betriebs, nicht vergessen. Ohne sie ginge ja gerade in einem so trickreichen theatralischen Mobile wirklich gar nichts . . .

26. Februar



Ein Elfentanz und ein dämonisches Drama


Streichoktette. Mendelssohn Bartholdy hat den bis heute einzigen populären Beitrag zu dieser raren Gattung geschrieben. Ein neues Album stellt ein faszinierendes Fin-de-siecle-Stück von George Enescu dazu.

Kammermusikfreunde assoziieren mit dem Wort Streichoktett sogleich Felix Mendelssohn Bartholdy. Tatsächlich ist sein Werk der bis heute einzig populäre Beitrag zur raren Gattung, nicht einfach ein Stück für zwei konkurrierende Streichquartette, sondern eine raffinierte Melange aus acht eigenwilligen Stimmen. Der Geniestreich des Teenagers gehört zu den positivsten, fröhlichsten Werken der musikalischen Literatur. Das sprudelnde, leichtfüßige Scherzo ist der Prototyp des unverwechselbaren Mendelssohn-Elfentanzes, wie wir ihn später, am populärsten ausgeprägt, auch in seiner »Sommernachtstraum»-Musik finden.

Den Oktett-Satz fand schon Mendelssohns Schwester Fanny bezaubernd: »Man fühlt sich so nahe der Geisterwelt, so leicht in die Lüfte gehoben». Die jüngste CD-Aufnahme durch ein multikulturelles Ensemble aus dem Quartett um den Geiger Ilya Gringolts und das finnische Ensemble Meta4 läßt diesbezüglich keine Wünsche offen. Das ganze Stück über behalten die acht Musiker die nötige Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, auch angesichts aberwitziger spieltechnischer Ansprüche, nicht nur im Scherzo, auch im rasanten Finale.

Der animierten Aufnahme folgt als hörenswerte Ergänzung das Oktett aus der Feder des rumänischen Meisters George Enescu, das im internationalen Repertoire keine Rolle spielt, für den Kammermusik-Freund aber eine veritable Entdeckung darstellt. Der typisch leidenschaftlich-expressive Stil Enescus - man erlebte zuletzt bei den Salzburger Festspielen seine eindrucksvolle »Oedipus»-Vertonung - zieht sich durch die vier Sätze wie bei Mendelssohn der Elfenzauber.

Enescus Stück, um die vorvorige Jahrhundertwende entstanden, stellt einen bemerkenswerten Versuch mit der von Liszt in seiner Klaviersonate vorgebildeten Form einer großen, pausenlosen Bogenstruktur dar, die deutlich in vier Sätze gegliedert ist, wobei ein wildes Scherzo und ein über weite Strecken faszinierend um die eigene Klangachse kreisender langsamer Satz den Durchführungsteil des riesigen Sonatensatzes bilden, während das Finale eine sehr freie, fantastische Reprise des Motiv-Materials des Kopfsatzes ist.

Die wild hochfahrenden Klanggesten, die kraftvollen Steigerungen sprechen die dramatische Sprache der »Oedipus»-Musik. Das Finale ist eine besonders originelle Verquickung von Walzer-Rhythmus und strenger kontrapunktischer Arbeit: Die Themen, die dem Werk seinen Halt geben, werden hier in einem deliranten Tanz durcheinandergewirbelt. Das Stimmengeflecht scheint an den Höhepunkten tatsächlich aus acht gleichberechtigten Linien gebildet.

Wer dieses Stück das erste Mal hört, dem ergeht es vielleicht wie mit der Lektüre eines hochkomplexen, aber spannenden Romans. Man schlägt das Buch gleich noch einmal auf und beginnt von vorn. Wer mit Track eins wieder startet, bekommt noch einmal den luftigen Mendelssohn als willkommenes Satyrspiel zum dämonischen Fin-de-Siecle-Drama dazu geliefert . . .


21. Februar



Streichquartett im Ausnahmezustand


Konzerthaus. Ein wahrlich besonderer Abend: Das Quatuor Ebene mußte für den Beginn seines Beethoven-Zyklus kurzfristig den Primgeiger wechseln.

Der GAU für ein Streichquartett: Man steht im Abfertigungsgebäude des Flughafens, um zum nächsten Konzert zu fliegen, und der Primgeiger erscheint nicht.

So geschehen am Dienstag in Paris: Das Quatuor Ebene flog nur als Terzett nach Wien. Pierre Colombet war plötzlich erkrankt und konnte nicht mitkommen. Die Entscheidung, den Beginn des Beethoven-Zyklus - man musiziert sämtliche Streichquartette des Jahresregenten im Mozartsaal des Konzerthauses - dennoch nicht abzusagen, bescherte dem Wiener Publikum einen wahrlich besonderen Abend.

Einspringer Fouchenneret

Pierre Fouchenneret, seit 2013 Primarius des Quatuor Strada und mit den Ebenes bestens befreundet, erklärte sich bereit, einzuspringen. Nun ist es bei einem Streichquartett nicht so einfach, den ersten Geiger zu wechseln wie, sagen wir, in der Oper, in der »Tosca« die Titelheldin auszutauschen. Der Primgeiger spielt keine Rolle in einer größeren Inszenierung, sondern ist Teil eines musikalischen Organismus. Und bei solchen Gelegenheiten begreift der Musikfreund ganz und gar, warum man von einem Klangkörper spricht. Die vier Musikanten eines Quartetts sind nicht mehr vier, wenn sie aufspielen, sondern eins. In diesem Sinne ist es vollkommen unmöglich, über Nacht Teil einer über Monate erarbeiteten Interpretation durch ein Ensemble zu werden, das über Jahre zu besagtem Klangkörper zusammengewachsen ist.

Was also bei solchen Drahtseilakten geschieht, wie man sie anhand dreier Beethoven-Quartette am Mittwoch im Mozartsaal erleben konnte, darf man getrost und mit allerhöchstem Respekt als sportliche Glanzleistung bezeichnen. Wer wollte, konnte schon beim F-Dur-Quartett, das Beethovens Werkreihe eröffnet, studieren, mit welchem Maßstab man diese Leistung messen könnte. Und woran abzulesen beziehungsweise abzuhören sein könnte, wo die unüberwindlichen Hürden für die vier exzellenten Musiker liegen; und exzellente Musiker müssen es sein, denen es gelingt, ein Auditorium zu Bravorufen zu bewegen, obwohl sie durchwegs daran gehindert sind, das vorzuführen, was sie mühevoll und akribisch einstudiert haben.

Rhythmische Millimeterarbeit

Natürlich weiß man beim eigenen Primarius, wie er atmet. Wie er tickt, um ein umgangssprachliches Diktum zu gebrauchen und auch den essenziellen Unterschied zwischen menschlichem Rhythmusgefühl und einem Metronom ins Spiel zu bringen.

Die Millimeterarbeit, die nötig ist, um vier Ansichten über punktierte Achtel- und die ihnen folgenden Sechzehntelnoten zu harmonisieren, die - gerade im Kopfsatz von op. 18/1 so maßgebliche - Frage, wie kräftig ein Sforzato zu akzentuieren und dynamisch in seine Umgebung zu integrieren ist, sind nicht bei einer kurzen Verständigungsprobe zu klären. Was, um ein Beispiel zu geben, in einer normalen Darbietung des Quatuor Ebene wie ein Echo klingt, nimmt sich bei Ebene minus eins plus Fouchenneret wie eine etwas andere Formulierung des nämlichen Sachverhalts aus.

Weicherer, zarterer Ansatz

Das ist ein ebenso gewaltiger Unterschied wie der grundsätzlich weichere, zartere Ansatz im Spiel des Gastprimarius, der sich gegen den auch im Pianissimo durchwegs herzhafteren Zugriff der Ebenes zumindest zu Beginn des Abends zaghafter ausnahm. Ohne daß dadurch das Hörvergnügen beeinträchtig gewesen wäre, das dem Publikum die übermäßigen Anstrengungen der vier Musiker auf dem Podium bereitet haben dürften - und das sich, versteht sich, jeglicher Kritik von vornherein entzog. Daß man angesichts der Lage das dritte Rasumovsky-Quartett mit seiner halsbrecherischen Schlußfuge durch das zweite Quartett ersetzt hat, hat jedenfalls bestimmt niemanden gestört.

Der Beethoven-Zyklus des Quatuor Ebene beginnt nun am 26. März. Am 19. Februar waren die Abonnenten bei einem singulären Ereignis zu Gast.


17. Februar


Subtext

Dieser Mann war doch in Wirklichkeit ganz anders!


Eine Außtellung und ein dazugehöriges Buch zeigen uns Ludwig van Beethoven, wie er sich in seiner Zeit im Theater an der Wien gab.

Nichts Genaues weiß man nicht« - die alte Historiker-Räson ist die beste Grundlage für eine Außtellung. Wie und wo und wann genau und wie lang Ludwig van Beethoven im Theater an der Wien gewohnt hat, ist auch bei sorgfältigstem Quellenstudium nicht herauszufinden. Aber daß er im von Emanuel Schikaneder errichteten Haus Logis nahm, ist sicher.

Und daß er daselbst weite Teile seines »Fidelio« komponierte, darf ebenfalls angenommen werden. Eine regelrechte Dienstwohnung hat Schikaneder dem Komponisten zugewiesen und gemeint, er werde dort sein Libretto zur Oper »Vestas Feuer« in Musik setzen - als Nachfolgeprojekt zur »Zauberflöte«, mit der Schikaneder alias Papageno berühmt geworden war. Daraus wurde nichts. Aber Beethoven schrieb für Schikaneders Nachfolger seine einzige Oper.

Das ist bekannt. Bekannt ist auch, daß er im Verein mit seinem Bruder Karl im Theater gewohnt hat. Die Wohnung Karls kann man lokalisieren - sie lag in jenem Gebäude, das Anfang des 20. Jahrhunderts niedergerissen und durch ein Zinshaus ersetzt wurde, das heute noch die Vorderfront zur Wienzeile bildet.

Beethoven hatte nachweislich ein Quartier mit Fenstern in den Hof - und nahm daraufhin relativ bald eine andere Mietwohnung am Alsergrund, die ihm freien Blick bot. Die Zimmer an der Wien hat er aber offenbar nicht aufgegeben; oder jedenfalls immer wieder bezogen.

Wie auch immer: Das Theater wurde zur wichtigsten Beethoven-Spielstätte - nicht nur »Fidelio«, auch einige der Symphonien und Klavierkonzerte sind dort uraufgeführt worden. Grund genug, ab heute, Montag, die Gedenkveranstaltungen zum Beethoven-Jahr um eine Außtellung zu bereichern, die im Theater an der Wien an des Komponisten Zeit am Ort und deren Verklärung durch die nachgeborenen Chronisten erinnert.

Dazu ist bei Böhlau ein schöner Dokumentar-Band erschienen, der die Sache aus allen möglichen Perspektiven beleuchtet, präzisiert und relativiert, wie sich das für ein wissenschaftlich grundiertes Buchprojekt gehört. Das liest sich nicht nur als Begleitkatalog zur Schau spannend, sondern wird auch ein nützlicher Bestandteil jeder gut sortierten Beethoven-Bibliothek bleiben.

Was die Musikologen, Historiker und Studenten der Musik-Universität zusammengetragen haben, bildet ein buntes Kaleidoskop der von den Napoleonischen Kriegen umtosten Ära. Und es sorgt dafür, daß unser Bild der Persönlichkeit des Komponisten, seiner Netzwerke, seiner Beziehung zu politischem Fortschritt und der - gar nicht holden, sondern auch hie und da wehrkräftigen - Weiblichkeit noch schärfere Konturen erhält.

Wie meinte doch Kapellmeister Seyfried über die Brüder Beethoven und ihre Gepflogenheiten in der Zeit im Theater? »Sie besuchten fast tagtäglich, da wir eine Garcon-Wirthschaft trieben, selbander das nehmliche Speisehaus, und verplauderten zusammen manch unvergessliches Stündchen in collegialischer Traulichkeit; denn Beethoven war damals heiter, zu jedem Scherz aufgelegt, frohsinnig, munter lebenslustig, witzig, nicht selten auch satyrisch.«

Na, wer sagt's denn . . .


17. Februar



Wenn der Griesgram einmal zu lächeln beginnt


Musikverein. Rudolf Buchbinder und Nikolaj Szeps-Znaider präsentierten zum Auftakt ihres heute endenden dreitägigen Violinsonaten-Marathons im großen Saal einen ungewöhnlich humorvollen Ludwig van Beethoven.

Der ewige Titan? Über die vielgestaltigen Charaktere von Beethovens Musik, die jegliches Klischee Lügen strafen, hat Rudolf Buchbinder schon in seinem ersten Beethoven-Buch - ein zweites zum Jubiläumsjahr kommt demnächst in den Handel - erzählt. Mehr als einmal beschwört die Musik des Komponisten der »Eroica« und der sogenannten Schicksalssymphonie auch Humor und buffoneske Theatralik.

Gerade in der Kammermusik gibt es etliche Gelegenheiten für die Spieler, einander Pointen zuzuwerfen und sogar ein wenig von der Kunst des possenhaften Extemporierens auszuprobieren. Für diesbezügliche Abenteuer hat der Pianist mit dem jungen Geiger Nikolaj Szeps-Znaider einen Partner gefunden. An drei aufeinanderfolgenden Abenden musizieren die beiden im großen Musikvereinssaal sämtliche Violinsonaten des Jahresregenten. Worauf können sich die Besucher des Abschlußkonzerts am heutigen Montagabend einstellen?

Es geht jedenfalls nicht immer so musterschülerhaft gelehrt zu, wie bei Beethoven-Aufführungen gemeinhin üblich. Wo der Komponist mit dynamischen und agogischen Nuancen Abweichungen von der Norm bezeichnet, machen seine beiden Interpreten Gebrauch davon. Buchbinder vor allem hat seine spürbare Freude daran, Erwartungshaltungen der Hörer verschmitzt zu konterkarieren.

Beethovens theatralische Pointen

Daß er dabei nur realisiert, was Beethoven aufgeschrieben hat, macht den Spaß noch größer. Znaider reagiert meist spontan und verschafft auch vertrackten Sechzehntelläufen ein blitzsauberes Echo. Man versteht einander - und jeder läßt dem andern seine Freiheiten. Solang der gute und einheitliche »Umgangston« gewahrt bleibt, darf man sich im »Tonfall« auch einmal auseinanderleben. Gegen manch behutsame Passage setzte Znaider recht schroff gezeichnete Linien. Vor allem in den ersten beiden Sonaten des Opus 12, im lyrischen Mittelsatz der A-Dur-Sonate zumal, entlockte er seiner »Kreisler»-Guarneri oft verstörend scharf geschnittene Klänge in maximaler Entfernung zum gewohnten, vom Pianisten auch kunstvoll geübten »Cantabile».

Als folgte er einem dramaturgischen Plan, milderten sich die Schärfen nach der Pause - und in der abschließenden G-Dur-Sonate (op. 30/3) blühte dann auch der Geigenklang bald in Harmonie mit Beethovens Spielanweisung »grazioso».

Das Finale bot dann Gelegenheit zur geradezu sportlichen Leistungsschau: In diesem Perpetuum mobile waren beide Künstler in ihrem Element.

Heute, 19.30 h: Op. 24, op. 30/2 und op. 96.


15. Februar



Frauenliebe und -leben, einmal ganz anders


Musikverein. Patricia Petibon und Susan Manoff präsentierten das Lied-Programm ihrer jüngsten CD im Brahms-Saal und schufen mit ihrem inszenierten Klangtheater den adäquaten Raum für große Emotionen.

Es klingt anders. Es sieht auch anders aus. Ein ganz normaler Liederabend ist von Patricia Petibon und Susan Manoff nicht zu erwarten. Das weiß mittlerweile auch das treue Wiener Abonnementpublikum und fühlt sich nicht mehr provoziert, wenn die Damen auf dem Podium des Brahms-Saals erscheinen. Man hat gelernt zu genießen, was dieses Künstler-Gespann zu bieten hat.

Gegen alle klassischen Gesetze

Den schlimmsten Herausforderungen eines Solo-Recitals sieht die Petibon ja ohne Weiteres in die Augen. Sie steht stumm auf dem Podium, während ihre Pianistin zum Auftakt Busonis Arrangement des Bach-Chorals »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« spielt - und lauscht, wie das Publikum, was Susan Manoff da zu bieten hat.

Sie ist auf die Umhegung frei fließender Gesangslinien so sehr konditioniert, daß sie die Melodie auch in dieser Choral-Bearbeitung vom ersten Moment an, deutlich artikulierend, zur Hauptstimme macht. Drum herum läßt sie Bachs Kontrapunkte fließen, als wären es ihre eigenen Improvisationen. In dieser Art musiziert sie auch den ganzen folgenden Abend lang sozusagen fantasievoll um den Gesang der Sopranistin herum, ihn kommentierend, vorantreibend oder kontemplativ grundierend.

Mit Raffinement baut Petibons Kunst das Klangtheater, das schon auch von dem notorischen Hang der Sängerin zu Stofftieren und tänzerischer Verbrämung ihrer Programmfolgen Gebrauch macht. Doch dienen die theatralischen Zelebrationen in der Regel der Unterstützung des musikalischen Eindrucks - und der ist enorm, vor allem dort, wo die Stimme rücksichtslos gegen alle Gesetze des klassischen Schöngesangs, gradlinig und messerscharf Texte nachempfindet.

Die sind im aktuellen Programm oft liebessehnsüchtig oder auch todesbereit - dann aber gleich wieder himmelhoch jauchzend; und haben alle irgendwie mit dem Meer zu tun. Wenn aber zuletzt der Sopran ganz innig die Erinnerung an »Danny Boy« beschwört, tropft manchem im Saal ein Tränlein von der Backe . . .


»Die Presse« Nr. 05 / 2020 vom 14.02.2020 Seite 38

13. Februar





So wunderbar einfach spielt sich Mozart . . .


Friedrich Gulda. In den frühen Jahren seines Ruhms nahm der Wiener Pianist in Stuttgart Konzerte von Mozart bis Richard Strauss auf. Sie erschienen nach den Mitschnitten der Soloabende nun gesammelt auf CD.

Was war nun das Geheimnis? Man weiß, es bleibt unsagbar; aber hören kann man es: Keiner hat Mozart gespielt wie Friedrich Gulda. Jüngst kam - als Ergänzung zu einer (mehrheitlich Beethoven gewidmeten Box mit Livemitschnitten von Soloauftritten des Pianisten) eine Sammlung von drei CDs auf den Markt, die Guldas Konzertaufnahmen mit dem Stuttgarter Rundfunkorchester dokumentieren.

Von 1959 bis 1962 war Gulda wiederholt beim SWR zu Gast, um nebst Beethovens Vierter, dem Werk, das die Eckpunkte seiner langen, wechselvollen Karriere markierte, vor allem Mozart zu musizieren. Aber auch - eine Gulda-Rarität - das D-Dur-Konzert Joseph Haydns und die »Burleske« von Richard Strauss.

Die wiederum hat er in den ersten Jahren seiner Laufbahn des Öfteren gespielt und aufgenommen. Sie zeigt uns den Interpreten aus einem etwas anderen Blickwinkel als gewohnt. In der Regel darf ja behauptet werden, daß Gulda dem typischen Virtuosenrepertoire eher aus dem Weg gegangen ist. Dort, wo haarsträubende technische Schwierigkeiten in die Auslage gestellt werden, sah er nie seinen Platz.

Wo sie verborgen bleiben, das große Publikum vorrangig kraftvolle Musik, oft hintergründig-witzig abgezirkelt, vernimmt, wußte er seine eminente Technik einzubringen, ohne damit Schindluder zu treiben. Hans von Bülow hatte dem jungen Strauss die »Burleske« empört zurückgeworfen. Er werde wegen eines Rotzbuben nicht wieder anfangen, Klavier zu üben.

Gulda war sich seiner Meisterschaft bewusst, spielte selbst die äußersten Vertracktheiten mit einer Selbstverständlichkeit, daß der Hörer wirklich nur die musikalischen Pointen vernimmt. Der pianistischen Mühe, die dahintersteckt, wird er nicht gewahr.

Bis heute unerreicht

Rundum drei Mozart-Konzerte, die wie die D-Dur-Sonate, KV 576, in der früher erschienenen Box mit den Stuttgarter Solo-Recitals Dokument einer Spielkultur darstellen, wie sie schon zu Guldas Zeiten kaum noch existierte. Vor allem die Konzerte KV 448 und 449, von Hans Rosbaud dirigiert, demonstrieren ideal den ganz speziellen Zugang des Pianisten zur Musik seines Hausgottes: Vom viel zitierten Zuckerguss älterer Mozart-Verzärtelungen ist bei ihm so wenig zu verspüren wie von der Holzhammer-Attitüde der Originalklang-Vorkämpfer.

Gulda spielt mit der ihm eigenen rhythmischen Akkuratesse und einem singulären Gefühl für kaum merkliche, aber lebendige agogische Nuancen - inwendig, sozusagen. Nach außen bleiben die Linien klar, beinah trocken, jedenfalls ohne jeden spürbaren Nachdruck. Ganz einfach, möchte man meinen - gerade deshalb bis heute unerreicht.


13. Februar



Der unerschöpfliche Haydn


Musikverein. Giovanni Antoninis auf viele Jahre angelegter Zyklus sämtlicher Symphonien bietet von Station zu Station Überraschungen.

Eine der originelleren Ideen zur Tempobeschleunigung des europäischen Klassikkarussells war Giovanni Antoninis Projekt, sämtliche Symphonien von Joseph Haydn aufführen zu wollen. Dergleichen kann nicht wie bei Beethoven oder gar Brahms innerhalb einer Jubiläumsspielzeit funktionieren. Angesichts der Herausforderung von mehr als 100 Werken hat der Maestro entschieden, die Sache auf Jahrzehnte anzulegen und im Haydn-Jahr 2032 damit fertig zu werden.

Wir halten also mittendrin und erleben, so viel darf jetzt schon zwischenbilanziert werden, von Station zu Station unsere Überraschungen. Denn so oft konnte das Genie sich der von ihm erst so recht auf den Weg gebrachten viersätzigen Form gar nicht nähern, als daß er sich einmal hätte wiederholen müssen. Haydns Geist war sprühend genug, um von Mal zu Mal neue Geschichten zu erzählen.

Das schätzt das Publikum im Brahms-Saal des Wiener Musikvereins, wie zu hören ist, besonders. Es feiert Antonini und das Basler Kammerorchester, neben dem eigenen, Giardino Armonico, Antoninis bevorzugtes Ensemble, bei jedem Erscheinen.

Ganz gleich ob frühes Probestück, aufgewühltes Sturm-und-Drang-Drama oder reifes, oft verschmitzt-hintergründiges, oft empfindsam introvertiertes Charakterstück, Antoninis Mitstreiter finden den rechten Ton; und versehen ihn jedenfalls niemals mit einem Vibrato. So viel Originalklang-Grundlage muß sein, auch wenn sie jede kleinste Unsauberkeit im Zusammenspiel der Geigen drastisch hörbar werden läßt und etwa das Flötensolo im langsamen Satz der Sinfonia Numero 24, der fast ein Konzertsatz ist, reichlich pfeifend klingen lässt. In der kurzen Kadenz blüht der Klang sogleich erfreulich auf . . .

Freilich: Die Kammerorchester-Stärke erweist sich für die akustischen Bedingungen des Brahms-Saals als ideal. Die Zuhörerschaft sitzt mitten im Geschehen und hat von den großen dynamischen und emotionellen Steigerungen der Musik einen Eindruck, wie ihn vermutlich weiland Fürst Esterhazy nicht eindringlicher haben konnte. Auch leise Pointen sitzen hier effektsicher.


11. Februar



Sie sang. Und das genügte.


Nachruf. Am Sonntag starb die Sopranistin Mirella Freni kurz vor ihrem 85. Geburtstag in ihrer Heimatstadt Modena. Unter Karajans Fittichen war sie zum Weltstar geworden.

La Boheme« ist gewiß das Erste, was Opernfreunde mit dem Namen Mirella Freni assoziieren. Die Sopranistin mit der Engelsstimme aus Modena war für Generationen der Inbegriff der Mimi, deren Schicksal sie erlebbar zu machen wußte wie keine Zweite. Mit der legendären Doppelpremiere der bis heute geliebten Zeffirelli-Inszenierung des Werks - Herbert von Karajan dirigierte an der Mailänder Scala und an der Wiener Staatsoper - war die Weltkarriere der jungen Künstlerin gestartet.

Kenner wußten schon zuvor, daß da eine außergewöhnlich schöne Stimme zu entdecken war. Kenner - und die Eltern der Künstlerin, für die klein Mirella ein Star war, als sie mit zehn hell und sauber Violettas Koloraturen aus Verdis »Traviata« trällerte.

In Modena wuchs zur selben Zeit ein weiterer jugendlicher Opernheld heran, der später (oft an der Seite der Freni und begleitet von Frenis erstem Mann, Leone Magiera) Weltkarriere machen sollte: Luciano Pavarotti. Manche munkelten, die beiden hätten dieselbe Amme gehabt . . .

Herbert von Karajan führte die beiden im Plattenstudio und bei den Salzburger Osterfestspielen als Rodolfo und Mimi zusammen. Die Produktion gilt bis heute als unübertrefflich. Wie manches, an dem die Freni beteiligt war, deren Stimme strömte wie reines, klares Quellwasser, in dem die Sonne faszinierende Farbspiele treiben konnte, je nachdem, welche Emotionen der dramatische Augenblick gerade forderte. Die Freni war in ihrem Bühnenleben keine Sängerin, die ihrer Stimme um des Ausdrucks willen mit viel Attacke oder expressivem Druck zugesetzt hätte. Sie sang. Und das genügte.

Solange sie sich im lyrischen Fach bewegte, gab es auch unter den Kritikern keine Diskussion. Widerspruch im Publikum regte sich nur einmal, als Karajan sie an der Scala als Violetta besetzte; da protestierten nicht nur die Callas-Aficionados. Auch mancher Connaisseur konstatierte Mängel im Ziergesang. Vor allem schienen die Grenzen der Entfaltungsmöglichkeiten dieses Soprans deutlich zu werden, Grenzen, die Freni lang nicht überschreiten wollte.

Für Karajan sang sie dann aber doch die Elisabeth von Valois (im »Don Carlos») und vor allem die Aida. Auch hier flossen Verdis Kantilenen in makelloser Schönheit. Im großen Monolog im letzten Bild der Karajan-Produktion des »Don Carlos« stand die Freni inmitten der leeren Bühne und tönte so bewegend, wie sie optisch unbeweglich blieb.

Wenig später bot der Maestro seinem Lieblingssopran die Nanetta für die Salzburger »Falstaff»-Produktion an. Die Mädchenrolle hatte die Freni für Georg Solti zwei Jahrzehnte zuvor an Nicolai Geddas Seite unvergleichlich gesungen. Nun sagte die Sängerin ihrem großen Förderer erstmals Nein. Sie hätte gern die reife Spielmacherin Alice Ford gesungen, nicht aber eine Partie, in der sie sich nicht mehr finden konnte.

An Karajans Seite hatte sie einst das Wiener Publikum überwältigt. Sie war im Haus am Ring während Karajans 13-jähriger Absenz kaum zu erleben, kehrte aber mit ihm 1977 zurück: wieder als Mimi, diesmal an der Seite von Jose Carreras. Pavarotti war später ihr Rodolfo, als Carlos Kleiber in einer kurzen Serie den »Boheme»-Taktstock schwang.

Auch in den dramatischeren Partien, die Freni für ihr treues Wiener Publikum sang, lag man ihr zu Füßen, mochte die Kritik auch das unvergleichliche Timbre gefährdet sehen, als Manon Lescaut, als Tatjana (»Eugen Onegin») oder Lisa (»Pique Dame»). Für Letztere entrümpelte man auf Aufforderung der Diva sogar das Bühnenbild!

Bleibende Ton- und Videodokumente

Mirella Freni, die mit ihrem Bassisten-Ehemann Nikolai Ghiaurov eine Zeit lang in Wien ein Domizil hatte, hat nicht allzu viele Vorstellungen an der Staatsoper gesungen. Doch der Eindruck, den sie hinterließ, bleibt für zwei Generationen von Opernfreunden unvergesslich.

Den Nachgeborenen bleiben einige Ton- und Videodokumente, allen voran die Verfilmung der »Boheme« durch Zeffirelli und Karajan, die »Figaro»-Susanna unter Karl Böhm in Jean-Pierre Ponnelles Regie. Und nicht zu vergessen, die Filmdokumentation von Karajans Salzburger »Carmen»: In den Melodienbögen der sanften Micaela war dieser Sopran so gut aufgehoben wie vielleicht nirgendwo sonst. Ihre Arie im dritten Akt ist und bleibt für Musikfreunde ein tröstlicher Moment für die Ewigkeit.


10. Februar



Bruckner aus Linz, das ist für Wien keine Petitesse


Das Brucknerorchester unter Markus Poschner gastierte im Musikverein.

»Musik der Meister«, der Konzertzyklus des Volksbildungswerks, und die Jeunesse sorgen für regelmäßige Gastspiele des Linzer Brucknerorchesters unter der Leitung seines Chefdirigenten Markus Poschner im Musikverein. Unter Wiener Musikfreunden versichert man sich seit geraumer Zeit, diese Auftritte seien durchaus nicht als Nebenveranstaltungen zu bewerten. Die Aufführungen von Mozarts »Haffner»-Symphonie und Bruckners Sechster am vergangenen Samstag bewiesen jedenfalls, daß die Gäste aus Oberösterreich mit jenen aus ferneren Regionen, die regelmäßig in den »großen Zyklen« des Musikvereins gastieren, mühelos mithalten können.

Poschner ist nämlich ein Mann, der ziemlich genaue Vorstellungen zu haben scheint und im Verein mit seinen Musikern wirkliche Interpretationen anzubieten hat, nicht einfach solide Durchläufe, »wie's Brauch der Schul». Gerade bei solch klassischen Programmabläufen sorgt das für spannende Hörabenteuer.

Denn in Linz wird während der Proben offenbar minutiös an Details der Phrasierung und der dynamischen Abstufung gefeilt. Das hierzulande traditionelle, bequeme, weil wohlig konsumierbare Überlegato weicht differenzierter Artikulation. Ob Bruckner einen Bogen über ganze Takte setzt oder nicht, macht ebenso einen hörbaren Unterschied wie die feine Beachtung der angegebenen Lautstärke-Grade.

Punktgenaue Paukenschläge

So hört man mehr im großen orchestralen Gefüge, ohne daß der symphonische Erzählfluß an Konsistenz verlöre. Dafür sorgt Poschners Tempo-Dramaturgie, die ebenso überlegt und detailversessen ist: Zäsuren, Ritardandi, fließende Übergänge ergeben sich aus den rhetorischen Zusammenhängen. Auch bei Mozart, wo nur die - rhythmisch übrigens punktgenauen - Paukenschläge ein wenig auch den Einfluß der Originalklangästhetik verraten. Im Übrigen pflegen die Linzer aber die Neubeleuchtung und Auffrischung gewachsener Spieltraditionen.

Da kann gewiß noch manches an klanglicher, zuweilen auch spieltechnischer Finesse wachsen. Doch ist man auf einem durchaus individuellen Weg, der im mehrheitlich kaum noch unterscheidbaren Kauderwelsch der reisenden sogenannten Spitzenorchester eine prägnante Sprache vernehmen lässt. Dergleichen fällt auf. Wien feierte das jüngste Gastspiel des Brucknerorchesters mit ebenso deutlich artikuliertem Jubel.


10. Februar



»Wir leben in einer Zeit der Schubladen»


Im Gespräch. Rudolf Buchbinder über seine Projekte zum Beethoven-Jahr und die aufregende Beschäftigung mit neuen »Diabelli-Variationen«, die er bei zeitgenössischen Komponisten in Auftrag gegeben hat. Am 3. März stellt er sie in Wien vor.

Daß Rudolf Buchbinder im Beethoven-Jahr besonders häufig auf den Wiener Konzertpodien erscheinen würde, war klar. Aber der Pianist hat sich besondere Projekte ausgedacht, um seine Leidenschaft für diesen Komponisten aufs Neue zu dokumentieren. Eine der buchbinderschen Konzertserien beginnt kommenden Samstag und ist zwei Tage später auch schon wieder zu Ende. Im Verein mit Nikolaj Szeps-Znaider spielt Buchbinder sämtliche Violinsonaten des Meisters an drei aufeinanderfolgenden Abenden im großen Musikvereinssaal. Kompakter geht es nicht.

»Mit Znaider«, erzählt der Pianist, »habe ich schon etliche Male einzelne Beethoven-Sonaten aufgeführt. Jetzt haben wir dieses Projekt fürs Jubiläumsjahr, das es nur zweimal geben wird: Einen Durchlauf haben wir für Kopenhagen geplant, nun folgt Wien.« Nur zweieinhalb Wochen später setzt Buchbinder dann einen der markantesten Akzente, die das Beethovenjahr weltweit parat hat: Am Abend des 3. März spielt er im Musikverein - zum 100. Mal in seiner Karriere - die »Diabelli-Variationen».

Und nicht nur das: Der erste Teil des Konzerts gibt Anlass zu Reflexionen über die Entstehung dieser gewaltigen Variationenreihe. Der Komponist und Verleger Anton Diabelli hatte an etliche zeitgenössische Komponisten ein Walzer-Thema gesandt und bat jeden der Adressaten um eine Variation für eine Publikationsreihe namens »Vaterländischer Künstlerverein«, die 1823 und 1824 in zwei Teilen erschien.

Die kuriose Geschichte von 33 Piecen

Beethoven war verärgert, weil er sich nicht mit vier Dutzend seiner Kollegen in einen Topf werfen lassen wollte. Er schwieg zunächst, erteilte aber dann Diabelli eine besondere Lektion, komponierte nicht eine, sondern 33 Variationen über das recht schlichte Thema - und schuf damit ein Kompendium der Variationstechnik, das in seiner Vielgestaltigkeit und inhaltlichen Tiefe wohl nie mehr übertroffen worden ist. Nun konfrontiert Rudolf Buchbinder diese »Variationen aller Variationen« mit einigen ausgewählten der von Diabelli bestellten Stücke, darunter ein Beitrag von Mozarts Sohn Franz Xaver, eine sehnsüchtig-schöne c-Moll-Variation von Franz Schubert und eine erstaunliche Talentprobe des elfjährigen Franz Liszt.

Diese Auswahl aus dem »Vaterländischen Künstlerverein« rundet die erste Konzerthälfte ab. Am Beginn des Abends aber erklingen elf Uraufführungen. Buchbinder hat zeitgenössische Komponistinnen und Komponisten aufgefordert, den »Künstlerverein« ins 21. Jahrhundert herüberzuretten.

»Die einzige Vorgabe war«, sagt der Pianist, »eine gewisse Länge oder sagen wir besser: Kürze nicht zu überschreiten. Die meisten haben sich daran gehalten. Im Übrigen war es mir wichtig, die enorme stilistische Bandbreite zu zeigen, die heute auf dem Sektor der sogenannten Neuen Musik herrscht.«

Dergleichen ist auch dem Veranstalter Buchbinder wichtig, der als Intendant des Festivals von Grafenegg jedes Jahr einen Composer in Residence verpflichtet: »Auch da möchte ich die Vielfalt der Möglichkeiten aufzeigen« und möglichst keine Genregrenzen gelten lassen: »Wir leben in einer Zeit der Schubladen.« Für Rudolf Buchbinder hingegen gibt es diese Schubladen nicht. Er spielt »gute Musik». Die kann auch Freunde von Rock oder Jazz faszinieren: »Mein Sohn liebt zum Beispiel die Variation von Brett Dean sehr.«

Und das Publikum - nach dem Musikverein in 19 weiteren Metropolen - wird staunen, wenn es auch einmal »gewaltig rockt« (bei Christian Jost); oder wenn sich Toshio Hosokawa in Anlehnung an Schubert der ganz unverfälschten Tonart c-Moll bedient. Was die Reihung der Uraufführungen betrifft, hat sich Buchbinder nicht aufs Glatteis begeben: »Ich spiele die Stücke in alphabetischer Folge, am Beginn steht Lera Auerbach, am Ende Jörg Widmann. Aber es hat sich gezeigt, daß das keine Notlösung ist, sondern daß die langsamen Variationen gliedernd im richtigen Moment erscheinen.«

Abschied von Mariss Jansons

Manchmal ist der Zufall der beste Regisseur. Er führte ja bereits vor langer Zeit den 15-jährigen Rudi Buchbinder aufs Podium, als er 25 der alten Stücke des »Vaterländischen Künstlervereins« zum Besten gab!

Gar nicht zufällig hingegen war die Auswahl der Dirigenten, die der Pianist für sein drittes großes Beethoven-Projekt 2020 eingeladen hat, mit ihm die Klavierkonzerte aufzuführen und für CD aufzunehmen. Dabei kam es zu einem letzten Zusammentreffen Buchbinders mit Mariss Jansons. Und dann nahm der Zufall schicksalhafte Form an: Jansons starb am 1. Dezember 2019 in Sankt Petersburg; am selben Abend spielte Buchbinder Schubert - in Sankt Petersburg! Er widmete das Konzert Jansons' Andenken: »Ich habe die Abschiedsworte auf dem Podium kaum über die Lippen gebracht.«


10. Februar



Zwischentöne


Wenn ein Komponist eine Jugendsünde zweimal begeht


Was Richard Strauss einst von seinem Enkel lernen konnte und was man in seinem Nachlass noch alles an musikalischen Juwelen finden kann.

Am vergangenen Wochenende ist nach langer Krankheit Christian Strauss gestorben, der jüngere der beiden Enkelsöhne von Richard Strauss. Seines Zeichens Mediziner, in Wien aufgewachsen, hat er sich als Oberhaupt der Familie doch lange Zeit um die Verwaltung des künstlerischen Erbes gekümmert.

Die Strauss-Gesellschaft bewahrt nicht nur die berühmte Villa in Garmisch, sondern in einem eigenen Gebäude auch den musikalischen Nachlass, Partituren, Aufzeichnungen und Notenmaterial, das den Interpreten Strauss dokumentiert: Als Dirigent war der Komponist zuzeiten ebenso berühmt wie sein gleichfalls dirigierender Kollege Gustav Mahler.

Der Zufall will es, daß am Todestag von Christian Strauss eine neue CD (Sony) erschien, die Musikfreunde nachhören lässt, welche Schätze sich aus solch einem Archiv heben lassen.

Das Duo Raphaela Gromes und Julian Riem hat fast auf den Tag genau vor zwei Jahren sein Wien-Debüt mit einer fulminanten Wiedergabe der frühen Strauss'schen Cello-Sonate op. 6 gefeiert. Diese gilt neben der Violin-Sonate op. 18 als wichtigstes Dokument der ersten Kompositions-Phase des späteren Meisters der symphonischen Dichtung und des Musikdramas. Im Strauss-Archiv fand sich nun ein weiteres, zwei Jahre älteres Manuskript einer Cello-Sonate, die nur auf den ersten Blick wie eine Frühfassung des Opus 6 von 1883 aussieht. Zwar gibt es eine enge Verwandtschaft zwischen den beiden Kopfsätzen, doch hatte Strauss ursprünglich zwei völlig andere Sätze folgen lassen.

So kann man tatsächlich von zwei Cellosonaten des später der Kammermusik abholden Richard Strauss sprechen. Gromes und Riem haben nun beide Werke für CD eingespielt - die Sonate von 1881 als Welt-Erstaufnahme. Das muß jeder Richard-Strauss-Verehrer gehört haben, erstens weil da wirklich ein zumindest zu zwei Dritteln völlig unbekanntes Stück zu entdecken ist, und zweitens weil die beiden ganz einfach schön und mit hinreißendem Schwung musizieren.

Einige leuchtend aufblühende Lied-Arrangements und eine kleine, von Julian Riem effektsicher eingerichtete »Rosenkavalier»-Suite ergänzen das CD-Programm, dessen Zusammenstellung dem Strauss-Enkel noch große Freude bereitet hatte.

Den kindlichen Instrumental-Studien von Christian Strauss verdankte übrigens wiederum der Großvater seine späte Zuwendung zu kleinen Etüden - und die Erkenntnis, 6/8- sei schwerer zu bewältigen als 2/4-Takt. . .

Für alle, die Strauss' Jugendsonate live hören möchten: Beim nächsten »Presse»-Musiksalon am 24. März im MuTh sind Raphaela Gromes und Julian Riem zu Gast und bitten zur österreichischen Erstaufführung!


8 Februar



Sturmwarnung für die Staatsoper: Diese Elektra überwältigt


Oper. Die letzte Aufführungsserie der Kohlenkeller-Inszenierung von Richard Strauss' »Elektra« wartet mit bemerkenswerten Rollendebüts auf: Michael Volle als Orest, Simone Schneider als Chrysothemis - und in der Titelpartie Christine Goerke, die erst im Finale zur vollen Form findet.

Orkanstärke im Orchester und hernach beim Applaus: Das dürfte der übliche Opernsturm-Befund für jede bessere Aufführung der »Elektra« sein. Auch bei der voraussichtlich letzten Aufführungsserie der Kohlenkeller-Inszenierung Uwe Eric Laufenbergs erreichte man diesbezüglich wieder Höchstmarken. Wenn auch der Umsicht des Dirigenten zu danken ist, daß zwischendurch immer wieder vollkommene Stille zu herrschen schien - was dazu führte, daß diesmal durchgehend eine dramatische Hochspannung herrschte.

Für Semyon Bychkov schließt sich, wie er im Gespräch bekannte, ein Kreis, feierte er doch mit diesem Werk einst sein Staatsoperndebüt. Wegen seiner vielen Verpflichtungen in den kommenden Jahren wird er hier nicht so bald wieder erscheinen. Er ist ein Mann, der das Wiener Orchester sicher und bestimmt zu führen versteht, den Musikern aber offenbar das Gefühl gibt, sich frei entfalten zu können. Das führt an einem solchen Abend spätestens ab der Erkennungsszene zu einem regelrechten Flow. Die Klänge strömen, zuletzt von euphorischen Tanzrhythmen vorangetrieben, mehr oder weniger taktstrichlos dahin, reißen mit - auch die Sänger auf der Bühne.

Christine Goerke fand bei ihrem Hausdebüt in der Titelpartie im Finale zur vollen Form. Anfangs schien sie noch mit der hohen Orchesterstimmung auf Kriegsfuß, artikulierte auch den Text recht undeutlich. Doch bald entfaltete sie ihren dunkel timbrierten, aber zu immenser Kraftentfaltung befähigten Sopran ungehindert und mit der Leuchtkraft, die es braucht, um die philharmonische Exuberanz strahlend zu durchdringen. Eine Leuchtkraft, über die Simone Schneiders Stimme vom ersten Moment an gebietet: Ihre Chrysothemis tönt tatsächlich geschwisterlich satt, aber um jenes Maß heller, das es ihr gestattet, die emanzipatorischen Visionen glaubwürdig und anrührend zum Klingen zu bringen.

Ein veritabler Opernthriller

Goerkes Elektra mobilisiert ihre düster-gefährlichen Energien am Entschiedensten, wenn es darum geht, der Rabenmutter Klytämnestra Paroli zu bieten. Das macht diesmal besonderen Effekt, denn mit Waltraud Meier steht ihr eine der machtvollsten Bühnenpersönlichkeiten unserer Zeit gegenüber - oder besser sitzt, denn sie läßt sich im Rollstuhl führen. Da verknotet sich dann präzise vokale, sprachliche Charakterisierungskunst mit den kleinteiligen instrumentalen Kommentaren aus dem Orchester zum veritablen Opernthriller. In wirkungsvollem Kontrast bereiten dann die Tuben und Posaunen mit unirdischen Akkordsäulen den Auftritt des Rächer-Erlösers vor: Michael Volle (noch ein bemerkenswertes Rollendebüt!) ist imstande, auch dieser Herausforderung äußerster Klangschönheit mit seinem Bariton zu begegnen. Einen edler timbrierten Orest wird man heute vermutlich nirgendwo finden.

Und auch keinen prägnanteren Aegisth als Norbert Ernst, der die finale Katastrophe mit der rechten ätzenden Schärfe einleitet, ohne in die falsche Karikaturhaftigkeit mancher Interpreten dieser Partie zu verfallen.

Der Rest ist dann Überwältigung - völlig ungestört, denn auch die kleinen Partien sind exzellent besetzt.

6. Februar



So klingt die Schweizer Heimat


Regula Mühlemann. Die Luzerner Sopranistin mit der glockenhellen Stimme hat ein Album herausgebracht, das zeitgeistig - aber unberechtigt - als verdächtig gelten könnte.

Keine Angst, es bläst kein Alphorn auf dieser CD, auch wenn einer schweizerischen Künstlerin vermutlich sogar das erlaubt wäre. Im Übrigen ist es in Zeiten wie diesen schon bemerkenswert, wenn ein Album namens »Lieder der Heimat« erscheinen darf.

Also deutschsprachige Heimatlieder? Nicht nur. Wie gesagt, es handelt sich um eine Künstlerin aus der Schweiz. Da spricht man ja viele Sprachen - und in allen diesen Sprachen singt Regula Mühlemann, die am 16. Februar ihr Wiener Staatsoperndebüt als Adina in Donizettis »Liebestrank« feiern wird, auf dieser CD.

Noch ungewöhnlicher ist, daß es sich hier um ein völlig chauvinismusbefreites künstlerisches Unterfangen handelt, in dem auch Franz Schuberts »Hirt auf dem Felsen« seinen Platz hat, dessen Klarinettensolo mit der rechten Mixtur aus Melancholie und Bravour ein Gast aus Wien bläst: der philharmonische Solist Daniel Ottensamer.

Von der Kunst und der Natürlichkeit

Diese Nummer eins dieser CD läßt auch gleich die Stärken der Sopranistin studieren, deren glockenheller Sopran sich mit sehr karg dosiertem, oft völlig vermiedenem Vibrato, also sehr gradlinig ausbreitet. Der Sopran leuchtet und jubelt zuletzt wirklich dem ersehnten Frühling entgegen. Nur die düsteren Klüfte, aus denen der Widerhall der Stimme zurücktönen soll, der liegt für Regula Mühlemann wirklich tief drunten im Tale. Mittellage und Höhe des Soprans leuchten und strahlen, ganz nach Maßgabe der Gedichte. Für die stille Freude von Othmar Schoecks »In der Fremde« findet Mühlemann den schlichtesten Ton ebenso wie die erfrischende Klarheit für »Die Tage der Rosen« von Wilhelm Baumgartner. Man sieht: Es ist für Musikfreunde allerhand zu entdecken in den schweizerischen Musik-Bergen. Von Baumgartner enthält die CD gleich fünf Kompositionen. Der Chorleiter aus Rohrschach zählte immerhin zum Freundeskreis von Gottfried Keller und war als Musikdirektor der Zürcher Universität mit Richard Wagner während der Zeit von dessen Schweizer Exil in engem Kontakt.

Die Brückenschläge zwischen simplem Volkston und anspruchsvollem Kunstlied gelingen Mühlemann und ihrer Kavierpartnerin Tatiana Korsunskaya insgesamt gut. Wir lernen Komponisten wie Friedrich Niggli, Walhter Geiser oder Richard Langer kennen. Wir hören anhand eines Beispiels aus den »Annees de pelerinage«, wie Franz Liszt den Anblick des Walensees in duftige pianistische Klangwellen verwandelte. Dem Klavier-Solo folgt eine A-Cappella-Studie von vollkommener Klarheit: »Das alte Guggisberger-Lied«, ein veritabler »Kuhreigen«, den Mühlemann zu veredeln weiß, indem sie ihre Gesangs-Kunstfertigkeit zu höchster Natürlichkeit nutzt. Da wäre übrigens noch Richard Flurys »Wandern mit dir«, ein Lied, in dem - apropos künstliche Natürlichkeit - eine volksliedartige Melodielinie über aparten Harmonien schwebt; das gibt es so auf keiner Alm, weiß Gott, und klingt doch wie ein gerade innigst improvisiertes Liebeslied.

Zur politischen Korrektheit trägt vielleicht doch noch bei, daß man eine Komponistin entdecken kann: Von der Ernest-Bloch-Schülerin Marguerite Roesgen-Champion finden sich zwei französischsprachige Stücke; fürs Italienische sorgen Rossini und - zuletzt noch einmal - Schubert.

Staatsoper: »L'elisir d'amore«, 16. und 23. Februar.


3. Februar



Zwischentöne


Und was, wenn es die letzte Fassung des »Fidelio« nicht gäbe?


Korrekturwut oder notwendige Verbesserung? Zur Frage, warum Komponisten viel Zeit verschwenden, ihre Werke zu revidieren.

Dreimal hat Beethoven seine »einzige« Oper komponiert. 1804, 1805 und 1814 legte er ,,Fidelio« in durchaus unterschiedlicher Gestalt vor. Ungewöhnlich genug, kann man im Jubiläumsjahr alle drei, szenisch aufbereitet, in Wien erleben, von der klassisch-unverfälschten Otto-Schenk-Produktion der Letztfassung bis - siehe die Rezension von Walter Weidringer. So spannend es ist, einem Genie über die Schulter schauen zu dürfen, so unruhig macht den Musikfreund die - ich weiß, für Historiker unzulässige! - Frage, was denn gewesen wäre, wenn.

Wenn es der Komponist also anno 1814 mit einer der Vorgängerversionen noch einmal versucht hätte. Es hätte den Zeitgenossen und uns Nachgeborenen vermutlich genügt. Aber besäßen wir dann eine zweite Beethoven-Oper, die er in der ver(sch)wendeten Zeit hätte komponieren können?

Das leidige Problem des Umarbeitens hat in der Musikgeschichte manch missliebige Blüten getrieben. Bruckner hat manche Symphonie bis zu dreimal umfassend revidiert. Traurig stimmt, wenn man die Urfassung der gewaltigen Achten hört, daß der für die Uraufführung ins Auge gefaßte Hermann Levi - Premierendirigent des »Parsifal« - die Partitur als »unverständlich« zurückschickte.

Sie gälte uns Brucknerianern auch im Original als »Symphonie aller Symphonien». Und wir hätten - ich weiß, unzulässiger Schluß! - die Neunte mit Finale. Andererseits: Mag sich jemand die Vierte ohne das »Jagd-Scherzo« vorstellen? Mancher Kenner sagt: gern. Viele Musikvereins-Abonnenten aber wären zumindest irritiert.

Und eine Oper wie »Ariadne auf Naxos« wäre in der Urfassung nicht lebensfähig - Richard Strauss schenkte uns mit dem neuen »Vorspiel« ein musiktheatralisches Kabinettstück!

Paul Hindemith gab uns zwei Beispiele für Sinn und Unsinn des Bearbeitens: Sein Zyklus »Marienleben« nach Rilke ist in der Urgestalt kühn, aber abweisend und schwer singbar, in der Zweitversion aber - Gundula Janowitz hat es uns bewiesen - ein Kleinod der Liedkunst. Die Oper »Cardillac« aber beeindruckte zuletzt in zwei Produktionen an der Staatsoper. Die »gereinigte« Zweitfassung wirkt neben diesem Musterbeispiel expressionistischen Musiktheaters nur einschläfernd.


1. Februar



Blühende Klänge in dahinwelkender Regie-Zivilisation


»Rusalka« in Traumbesetzung mit Piotr Beczaa an der Staatsoper.

Das sind Aufführungen, bei denen früher einmal Stehplatzbesucher keine Reprise versäumt hätten: Dvoraks »Rusalka« in Traumbesetzung, unter der Leitung eines jungen tschechischen Dirigenten, der sich aufs Idiom versteht . . .

Kaum ein Rollendebüt bei dieser 20. Vorstellung von Sven-Eric Bechtolfs Inszenierung in den trostlosen Bühnenbildern Rolf Glittenbergs. Angehörs der Musik fragt freilich niemand, warum dieses Epos von der Allgewalt der Natur in einem vom Menschen längst ruinierten Ambiente spielen muß. Die Sänger, die sich diesmal hier einfinden, scheinen alle gerade auf dem Höhepunkt ihrer stimmlichen Entfaltung, im vollen Saft der gestalterischen Möglichkeiten, sozusagen. Allen voran der Prinz des Piotr Beczaa, der vom Lohengrin nun wieder ins slawische Repertoire gewechselt hat; und seinen für heldische Attacke begabten Tenor in lyrischen Phrasen von außergewöhnlicher Schönheit fließen lässt. Ihm glaubt man die Verzauberung durch das Feenwesen ebenso wie die Irritation, in die ihn die Begegnung mit der »fremden Fürstin« der vulkanösen Elena Zhidkova stürzt.

Der dramatische Knoten schürzt sich in der Auseinandersetzung mit der stumm gewordenen Rusalka von Olga Bezsmertna, deren Stimme, wenn sie fernab der Zivilisation erklingen darf, schöner, weicher, satter klingt als je zuvor - die paar jählings gefährdeten Spitzentöne gehen wohl eher aufs Konto des Nervenkostüms als der vokalen Potenz, die im hinreißend fließenden »Lied an den Mond« und im Monolog am Beginn des dritten Akts voll erblüht.

Wienerisch-böhmische Sinnlichkeit

Einschüchternd, wie sich's gehört, wirken die Auftritte der Hexe von Monika Bohinec, deren Mezzo in der Tiefe so bedrohlich und unausweichlich zupackt wie in den oberen Registern. Der milde und ebenso ausgewogene Gegenpart dazu ist der Wassermann von Jongmin Park: Eine Bassstimme von solcher Geschmeidigkeit und Ausdruckskraft findet man nicht leicht; daß sie zum Wiener Ensemble gehört wie die gesamte Besetzung, den Prinzen und die Fürstin ausgenommen, erfreut den Habitue.

Eine solch bewegende »Rusalka»-Aufführung ist jenseits von Wien vermutlich wirklich nur in des Komponisten Heimat denkbar, von woher Tomas Hanus kam, um das Staatsopern-Orchester mit sicherer Hand zu führen - und ihm die Freiheit zu lassen, vor allem in den ruhigen Passagen seiner notorischen Klangsinnlichkeit zu frönen.


30. Jänner



Wie Siegfried auf Zypern in die Falle des Dämons tappt


Staatsoper: Stephen Gould feierte sein Wien-Debüt als Otello.

Wenn Stephen Gould in der neuen Wiener »Otello»-Inszenierung Adrian Nobles erscheint, politisch korrekt ohne schwarze Schminke, dann ist es wirklich, als ob ein Wagner-Heros ein Verdi-Gastspiel absolvierte. Dabei hat natürlich just in diesem Werk die Landnahme der Heldentenöre Tradition. Man weiß, Verdi selbst träumte stets von Interpreten mit eminenten lyrischen Qualitäten; aber schon zu seinen Lebzeiten fand sich kaum ein Tenor, der angesichts der Ansprüche an Kraft und Tessitura diesem Ideal nahegekommen wäre. Die Italiener ziehen den Komponisten nicht zuletzt deshalb des Wagnerismus.

Ungerecht, das alles. Man weiß es. Und man hat längst akzeptiert, daß auch die Spitzen des deutschen Fachs hier »Esultate!« rufen - Gould tut es mit einem Impetus, der alle stilistischen Bedenken sogleich hinwegfegt. Er sichert dem Otello in der Folge auch eindrucksvolle Momente der Introspektion, gipfelnd im Monolog im dritten Akt, den er herzzerreißend ausdrucksstark deklamiert. Die (seelen)stürmischen Ballungen, vor allem in den Dialogen mit Jago, geraten nicht minder beeindruckend und werden zu theatralischen Ereignissen, weil Carlos Alvarez als teuflischer Gegenspieler nicht nur zynisch-hintergründig spielt, sondern auch stimmlich seinem Vis-a-vis mühelos trotzt.

Menschlicher Kern im Engelsgesang

Überdies gelingen ihm - namentlich im Trinklied - elegante Phrasierungskunststücke. So steht der Bariton bis zuletzt unüberwindlich sicher zwischen Goulds Stentorkraft und der bewundernswerten Schmiegsamkeit, mit der Jinxu Xiahou den Cassio gestaltet. Bemerkenswert, zu welch mutiger Intervention sich zuletzt Bongiwe Nakanis Emilia gegenüber diesem satanischen Beherrscher der Szene durchzuringen versteht.

Die wunderbare Krassimira Stoyanova dazu, eine eindringliche Desdemona, deren flehentliche Gebete nirgendwo ins Süßlich-Melodramatische kippen: Hier herrscht expressive Melancholie; und die schwebenden Pianissimi im »Lied von der Weide« und dem »Ave Maria« behalten bei aller Engelhaftigkeit des Gesangs einen herb-menschlichen Kern.

Aufhorchen ließ auch der Dirigent Jonathan Darlington, der, von einigen metrischen Interferenzen zwischen Orchester und Chor abgesehen, ins wütende Geschehen gestaltend auch einige differenzierende Details zu mischen wußte.


29. Jänner



Mit dem Todes-Tanz fängt die Tragödie erst an


Der Livemitschnitt der Uraufführung von Detlev Glanerts »Oceane« entpuppt sich auf CD als spannendes Hörspiel.

Jubelstürme erntete die Uraufführung von Detlev Glanerts Oper »Oceane« in Berlin. Das Publikum liebte das Stück. Dergleichen passiert nicht alle Tage - und auch wenn mancher Rezensent einwandte, die Musik sei nicht eben avantgardistisch zu nennen, sondern eher in - stilistisch postmodern-bunt verbrämten - Regionen der Zwischenkriegsmoderne um Meister wie Schreker und Korngold angesiedelt: An diesem Muster versuchen sich derzeit viele Komponisten. Aber Glanert kann es.

Der Erfolg ist auch seinem Librettisten zu danken: Hans-Ulrich Treichel, schon für Altmeister Hans Werner Henze aktiv, hat ein nachgelassenes Novellenfragment Theodor Fontanes dramaturgisch raffiniert und sprachlich suggestiv zu einem sogenannten »Sommerstück« verdichtet, das in Glanerts Vertonung zum spannenden Musiktheater-Thriller wurde.

Oceane heißt die neue Undine

Eine Wassernixe, wieder einmal, verdreht den Männern auf der Bühne den Kopf, Oceane heißt die neue Undine, kündigt sich in wortlosen Melismen am Beginn des Spiels an, wie sie zuletzt wieder verschwindet - im Meer, wie zu vermuten ist. Ganz genau wird all das nicht definiert. Oceane bleibt eine rätselhaft unirdische, also faszinierende Gestalt. Wir begegnen ihr in einem Strandhotel, in dem ein Fest gefeiert wird, auf dem das von vielen neugierig, vom eifernden Pastor (Albert Pesendorfer) verstört-skeptisch beäugte Frauenwesen beim Tanz in ein Delirium verfällt, das die Ballveranstaltung sprengt.

Die Liebesgeschichte, die sich daraufhin entspinnt, mündet nach einem rätselhaften Todesfall in ein Verlobungsfest, bei dem die märchenhaft stilisierte Fremdenfeindlichkeit eskaliert. Oceane entschwebt wieder, und man ist so klug als wie zuvor, aber um einige wirklich fesselnde musikalisch-dramatische Erlebnisse reicher. Auch die magische Kußszene, bei Rusalken obligatorisch, fehlt natürlich nicht.

Große Berliner Ensembleleistung

Die Premiere der Uraufführungsproduktion Robert Carsens im April 2019 wurde live mitgeschnitten - und die CD-Aufnahme, die soeben in den Handel gekommen ist, genügt völlig, um sozusagen als Hörspielversion das Publikum in Bann zu schlagen. Die Leistung der Uraufführungsbesetzung war enorm, konzentriert, energetisch, angeführt von der fabelhaften Titelheldin Maria Bengtsson, die - immer wieder angefeuert von fanatischen Chor-Einwürfen und dem von Donald Runnicles zu intensiven Klanggesten angestachelten Orchester der Deutschen Oper - als verführerische Sirene wie in der ekstatischen Selbstbespiegelung an die Grenzen geht; edel strömender Schöngesang hat hier ebenso Platz wie bis zum Schrei angespannte Vokalgeste, wenn etwa Glanert die Sopranstimme in der ekstatischen Finalszene des ersten Teils bis zum hohen Cis führt.

Seine Musik ist fast durchwegs tonal grundiert - und vom ersten Ton an mit höchster Delikatesse instrumentiert. Das tobt, glitzert und irisiert - und zündet dank rhythmischer Akzentuierung, nicht nur in den Tanzszenen des zweiten Bilds, in denen Polka und Galopp fröhliche Urständ feiern dürfen.


27. Jänner



Zwischentöne


Die Freunde der Kammermusik haben mehr von der Musik


Dieser Tage erklingen in Wiens Konzertsälen die jeweils Dritten Streichquartette von Bartok und Britten. Ein kleines Vorgeplänkel dazu . . .

Hans Weigel hat einmal sinngemäß gesagt, nach der »Eroica« mußte jede neue Symphonie »eine ganz bestimmte« Symphonie sein. Eine Nummer soundso war nicht mehr möglich.

Diese kluge Beobachtung eines Nichtmusikers erklärt jedenfalls, warum ein Mann wie Haydn, dessen Genialitätsquotient gewiß nicht geringer zu veranschlagen ist als der seines renitenten Schülers, 104 Symphonien publizieren konnte, Beethoven aber nur neun - bei weiterhin, wie wir wissen, eher abnehmender Tendenz.

Tatsächlich können wir nur noch von Bruckner behaupten, er hätte einem Formschema neun wirklich höchst originelle Ergebnisse abgerungen - was ihn nicht davor bewahrte, daß Strawinsky ihn als jenen Mann denunzierte, der neunmal dieselbe Symphonie komponiert hätte . . .

Wie auch immer: In der Gattung des Streichquartetts hat Beethoven selbst schon die Diversifizierung ins Extrem geführt. Seine späten Beiträge zur Gattung sind nicht nur harmonisch, sondern auch formal bis heute dankbare Objekte für rätselnde Musikologen - und ein Publikum das gern bei jeder Wiederbegegnung mit Opus 130 oder 131 etc. wieder aufs neue überrascht wird.

Das Originalitätsgebot empfanden spätere Komponisten, glaube ich, auf dem Sektor dieser Königsdisziplin der Kammermusik noch viel rigoroser als im symphonischen Bereich. Dem hatten ja Berlioz und Liszt mit ihren programmatischen Tondichtungen eine gewisse, sagen wir, Erleichterung verschafft.

Entsprechend fasziniert wandten sich die kreativsten Meister des 20. Jahrhunderts dem Streichquartett zu. Bezeichnend, daß Arnold Schönbergs erste beiden nummerierten Beiträge zur Sache, an der Schwelle zur Atonalität, wirklich originell sind, während die Nummern 3 und 4 unter dem Siegel der - formale Sicherheit vorgaukelnden - Zwölftontechnik im Vergleich wenig originell anmuten.

Ein Meister, in dessen Schaffen das Streichquartett wie bei Beethoven geradezu Tagebuch-Charakter angenommen hat, war Bela Bartok. Auf dem Höhepunkt seiner Experimentierlust schuf er sein einsätziges, im wahren Wortsinn unvergleichliches Drittes Quartett, das am kommenden Donnerstag vom Hagen-Quartett gespielt wird.

Wenig beachtet hat man den subjektiv-expressionistischen Zug in den Quartetten Benjamin Brittens, dessen letztes, das Dritte Quartett sich an seinen Opern-Schwanengesang »Tod in Venedig« anlehnt und dabei melancholisch die Formsprache von Bartoks Viertem Quartett paraphrasiert. Zu hören morgen, Dienstag, beim Juilliard Quartet im Musikverein. Zwei Chancen, zu erleben, warum Kammermusik-Kenner es besser haben.


26. Jänner



Im bürgerlichen Glück spiegelt sich Leonores wahre Größe


Die Sopranistin Chen Reiss singt die Marzelline in der Urfassung - und in der Letztversion im Repertoire an der Staatsoper.

Chen Reiss ist die Marzelline in Beethovens »Fidelio« an der Staatsoper. Und zwar sowohl in der Neuinszenierung der Urfassung als auch bei den Reprisen der viel gespielten Produktion Otto Schenks, die seit ihrer Premiere zum Beethoven-Jahr 1970 bereits 260 Mal zu sehen war, des Öfteren auch schon mit Chen Reiss in der Partie der Marzelline. Die Sängerin muß sich nun von Mal zu Mal umstellen.

»Das Schlimmste«, sagt sie, »war die Arie. Sie fängt genau gleich an, aber es gibt etliche kleine Änderungen, rhythmisch, auch bei den Tonhöhen - und sogar der Text ist ein wenig anders. Ein Stück, das man schon so oft gesungen hat, umzulernen, ist viel schwieriger, als neue Stücke zu lernen.«

Die von Beethoven gestrichenen Nummern, die sie nun für die Premiere am 1. Februar einzustudieren hatte, hätten vieles bestätigt, »was ich immer schon über Marzelline dachte: In der ursprünglichen, längeren Version hat sie mehr Profil, wird sogar zu einer echten Gegenfigur zu Leonore, die man dadurch als jene außergewöhnliche Frau begreift, die sie darstellt.«

Marzelline akzeptiert ja die Rolle der Frau zu jener Zeit ohne Wenn und Aber. «,Ein Mädchen darf ja, was es meint, zur Hälfte nur bekennen', singt sie und geht im Duett mit Leonore, das in der Spätfassung gestrichen ist, noch viel weiter, indem sie sich vollkommen Fidelios Willen unterwirft und von einer Großfamilie träumt - mit dem Vater und Kindern. Sie spricht von Glück, Leonore aber spricht von der Liebe, von einer Liebe, die so stark ist, daß sie bereit ist, für ihren Mann in den Tod zu gehen.«

Wovon Beethoven träumte. »Das war die Frauengestalt«, sagt Chen Reiss, »von der Beethoven fasziniert war». Nicht von ungefähr heißt die neue CD der Sopranistin »Die unsterbliche Geliebte« (onyx). »Ich glaube, seine wirkliche unsterbliche Geliebte war die Musik. Sie hat ihn nie enttäuscht. Aber er hat immer wieder seine Musik starken Frauengestalten gewidmet. Etwa Leonore Prohaska, die ja wirklich gelebt hat, in Männerkleidern in den Krieg gegen Napoleon gezogen und beim Versuch gestorben ist, einen verwundeten Kameraden zu bergen.«

Die Romanze aus Beethovens Schauspielmusik zu »Leonore Prohaska« klinge schon beinahe wie ein Schubert-Lied, meint die Sängerin, »aber sonst klingt alles nach Beethoven. Man erkennt seine Handschrift sofort, schon in der Arie aus der Kantate auf die Erhebung Leopolds II. zur Kaiserwürde, in der die Hoffnung auf eine bessere Welt zum Ausdruck kommt. Aber auch in den Vertonungen italienischer Texte.« Etwa im Falle der Arie »No, non turbarti«, die unter der Aufsicht von Antonio Salieri entstand. Chen Reiss ist fasziniert davon, daß ein arrivierter Komponist sich zum Studium der Behandlung der Singstimme noch einmal unter die Obhut eines erfahrenen Kollegen begeben hat: »Er war unsicher, was die menschliche Stimme betrifft. Und seit ich diese CD aufgenommen habe, weiß ich auch, warum. Für Beethoven existierte, sagen wir es so, das Konzept Passaggio nicht.« So nennt man die Behandlung des gesangstechnisch heiklen Übergangs zwischen dem Brust- und Kopfregister. »Beethoven führt die Stimme immer wieder durch die Passage und ,parkt' oft dort. Abgesehen davon aber könnte diese Arie niemals von Salieri sein. Es ist immer Beethoven. Denn bei ihm geht es niemals nur um das schöne Singen. Es geht immer um das Drama.«

Ebenfalls auf der neuen CD ist die große Szene »Primo amore»: »Man dachte lange Zeit, die müsse aus der Salieri-Zeit sein, aber ist viel älter, noch in Bonn komponiert, wurde aber zunächst unter dem Titel ,Erste Liebe, Himmelslust' auf Deutsch komponiert. Aber in Wien hat ihm der Verlag den Text in italienischer Übersetzung übersandt, und er hat zugestimmt.«

Es ist »ein früher Versuch mit einer sogenannten ,großen Szene'. Die erste Liebe sei ein Gottesgeschenk, heißt es, aber auch die größte Qual, wenn die Geliebte einen anderen wählt. Das war eine Prophetie für Ludwig van Beethovens Leben, nicht nur für die Sängerin, für die er diese Arie komponiert hat, Magdalena Willmann, in die er verliebt war, sondern für sein späteres Leben. Magdalena hat er übrigens in Wien wieder getroffen und noch ein Stück für sie komponiert.« Nachtragend war er nicht.


26. Jänner



Beethovens Heldentaten in Napoleons Krieg


Zum Jubiläumsjahr geben Staatsoper und Theater an der Wien alle drei Versionen des »Fidelio«. Wie der Komponist aus der traurigen Kriegsrealität in einer Kammer in Schikaneders Theater zu weltumspannenden Freiheitsvisionen fand.

Fidelio da, Fidelio dort - nein, hier liegt keine Verwechslung mit dem Figaro vor. Auch Beethovens Operntitelheld(in) präsentiert sich in vielerlei Gestalt - demnächst auch auf der Bühne der Wiener Staatsoper. Die Probenfotos zur Erstaufführung der Urfassung des Werks im Haus am Ring zeigen Leonore alias Fidelio jedenfalls in Person der Sängerin und eines Doubles. Aber das ist vielleicht der Tribut, den ein Opernhaus im 21. Jahrhundert an den Zeitgeist zu entrichten hat . . .

Mehrere »Fidelii« gibt es freilich auch in der Werkgeschichte. Zum einen hat Beethoven bekanntlich drei Fassungen seiner Oper zur Aufführung gebracht. Zum anderen bevölkerten in jenen Jahren unzählige heldenhafte Ehefrauen die Bühnen, um ihre Gatten aus der unverschuldeten Kerkerhaft zu befreien. Und Beethoven kannte einige der Vorgängerinnen seiner Theater-Lichtgestalt zumindest flüchtig.

Napoleonischer Pulvergestank. Das Sujet lag damals jedenfalls in der Luft, wie man so schön sagt. Und diese Luft war erfüllt von Pulvergestank. Abgesehen davon durchglüht ja das kämpferisch-siegreiche per aspera ad astra einen nicht unbeträchtlichen Teil des Beethoven'schen Schaffens: Seine Musik streitet für das Gute, Wahre, Schöne. Sie tut es im wahrsten Sinne des Wortes nicht aus heiterem Himmel.

»Wie schwach der Hoffnung Schein«, mochte mancher Einwohner Wiens anno 1805 mit Leonore geseufzt haben. Wien war gerade nicht kaiserliche Haupt- und Residenzstadt, als »Fidelio« zur Uraufführung kam. Die Franzosen hatten Wien eingenommen. Der Kaiser war nach Mähren geflüchtet. Nicht ohne eine Proklamation zu erlassen: »Mag Trunkenheit des Glücks oder unseliger und ungerechter Geist der Rache den Feind beherrschen, ruhig und fest stehe ich im Kreise von 25 Millionen Menschen, die meinem Herzen und meinem Hause teuer sind.«

Franz II. »stand« freilich bald nicht in Wien, sondern in Kremsier. Und die Wiener Bevölkerung, so sie nicht auch die Möglichkeit gehabt hat, sich aus der Stadt abzusetzen, sollte sich in freiwilligen Jägerkorps und Bürgermilizen sammeln und mußte mit ansehen, wie die Schätze aus Bildergalerien und Archiven samt der Staatskasse dem Kaiserhaus nach Norden folgten oder auf der Donau nach Ofen, dem heutigen Budapest, verschifft wurden.

Das Premierendatum des »Fidelio« markiert, durch kaiserlich-militärische Feldstecher betrachtet, die Mitte zwischen Hoffnung und Verderben. Fast auf den Tag genau einen Monat vor der Uraufführung hatte Admiral Nelson Napoleon bei Trafalgar besiegt. Zwei Wochen danach schlug Frankreich bei Austerlitz die Armeen Russlands und Österreichs vernichtend. Napoleon residierte in Schloss Schönbrunn und ratifizierte den in Pressburg geschlossenen Friedensvertrag.

Ein Blick in die Journale der Beethoven-Zeit läßt die Realität jener Wochen lebhaft nachfühlen. Beispielsweise staunte der Rezensent der »Eleganten Welt«, als er bei seinem Besuch »statt der Wiener Polizeisoldaten jene blauen Röcke, und hohen rauen Mützen« erblickte, und merkt an: »In den Vorstädten schien das Volksgedränge stärker als gewöhnlich . . . alles wogte im bunten Gewimmel . . . Die Hoffnungen der Meisten waren auf den Erzherzog Karl gerichtet, welcher mit seiner Armee nahe sei, und die Feinde sicher schlagen würde.«

Innerhalb der Stadtmauern waren hingegen mehrheitlich französische Offiziere anzutreffen. »Sie waren in die reichsten Häuser verlegt, und mit der Bewirtung zufrieden« und bildeten den Hauptanteil der Besucher der Premiere im Theater an der Wien.

»Das Theater war gar nicht gefüllt, und der Beifall sehr gering. In der Tat ist der dritte Akt sehr gedehnt, und die Musik, ohne Effekt und voll Wiederholungen . . . Daß doch so viele, sonst gute Komponisten gerade an der Oper scheitern, bemerkte ich ganz leise meinem Nebenmanne, dessen Mienen mein Urteil zu billigen schien. Er war ein Franzose, und suchte die Ursache darin, daß die dramatische Komposition die höchste Kunststufe sei, und auch sonst eine ästhetische Ausbildung fordere, die man, wie er höre, bei deutschen Musikern selten finde. Ich zuckte die Achseln und schwieg.«

Der wahre Gefangenenchor. Beethovens Opernsolitär sollte aber im Frühjahr 1806 nach gründlicher (zweiaktiger) Revision zurückkehren. »Beethoven hat seine Oper mit vielen Veränderungen und Abkürzungen wieder auf die Bühne gebracht«, heißt es in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung». »Ein ganzer Akt ist dabei eingegangen, aber das Stück hat gewonnen und nun auch besser gefallen.«

Wie stark mochte die Wiener Bevölkerung die Handlung der Oper auf sich und die eigene Situation bezogen haben? Manche Assoziationen konnten gespenstisch anmuten, lesen wir doch von den unmittelbaren Folgen der Schlacht bei Austerlitz und von den Leiden der Soldaten der mit Österreich verbündeten Armee des Zaren: »Es waren mehrere Tausende gefangene Russen, die man aus Mähren nach Wien gebracht hatte. Ein entsetzlicher Anblick! Diese Elenden waren beinahe ganz in Lumpen gehüllt, mager, ausgezehrt, hatten einige Tage nichts gegessen, und baten nun mit aufgehobenen Händen um Nahrung. Die Gutherzigkeit der Wiener zeigte sich hier im schönsten Lichte. Auf jedem Gesichte las man die lebhafteste Teilnahme, aus den Fenstern flogen ganze Laibe Brotes, Semmeln, Obst, Braten . . .«

Keine neue »Zauberflöte». Wie auch immer: Diesmal war der Oper noch weniger Glück beschieden. Nach nur einer Reprise verschwand sie vom Spielplan, um erst 1814 (übrigens mit derselben Interpretin der Titelheldin) im Kärntnertortheater wieder aufzutauchen - und dann für immer zu bleiben. Der neuerliche Flop war allerdings offenkundig weniger künstlerischen Erwägungen als einem ordinären Streit ums Geld geschuldet: Beethoven überwarf sich mit dem Intendanten des Theaters an der Wien.

Dort hatte er freie Logis gehabt, seit der Erstbesitzer des Hauses, Emanuel Schikaneder, ihn als Opernkomponisten gewinnen wollte.

Aus den Plänen, Schikaneders Libretto zu »Vestas Feuer« zu vertonen, wurde nichts. Die eruptive Musik des skizzierten Schlußterzetts wurde im »Fidelio« zum »Freuden»-Duett Leonores und Florestans. Aber eine »neue Zauberflöte« wollte Schikaneders »neuer Mozart« nicht schreiben. Das Genre schien ihm veraltet.

An Friedrich Rochlitz, der ihm ein Libretto angeboten hatte, schrieb Beethoven: »wäre ihre Oper keine Zauber-Oper gewesen, mit beiden Händen hätte ich darnach gegriffen«, aber die Zeit der Zauberoper sei »durch das Licht der gescheiten und sinnigen französischen Opern gänzlich aus».

Daß Schikaneder sein Theater an der Wien im Frühjahr 1804 verlassen mußte, erleichterte es Beethoven, »Vestas Feuer« ad acta zu legen und einen ihm genehmen Stoff zu wählen. Er fand ihn unter den »gescheiten und sinnigen französischen Opern».

Für die theateraffinen unter Napoleons Offizieren konnte »Fidelio« daher trotz der deutschen Sprache zum Deja-vu-Erlebnis werden. Die erste Vertonung des Stoffes, auf ein Libretto Jean Nicolas Bouillys, stammte aus der Feder von Pierre Gaveaux und hieß »Leonore, ou L'amour conjugal». Sie war 1798 in Paris uraufgeführt worden und zog mannigfaltige Nachahmungen nach sich. Der Wiener Zeitungstratsch wußte schon im Mai 1805: »Nächstens soll eine neue Oper Beethovens auf die Bühne gebracht werden. Man ist sehr gespannt auf diese Arbeit, in welcher Beethoven zuerst als dramatischer Komponist auftreten wird. In dem Texte soll Beethoven mit Paer zusammengetroffen sein, der auch die nämliche ,Leonore' voriges Jahr zu Dresden in Musik setzte.«

Das ließ einem der wichtigsten Mäzene Beethovens, dem Fürsten Lobkowitz, immer an Novitäten interessiert, keine Ruhe. Er ließ Paers wenige Monate alte »Leonora ossia L'amor conjugale« für eine Privataufführung einstudieren - mit Beethovens erster Marzelline, Louise Müller, in der Titelpartie! Vier Tage später startete an der Wien Beethovens Zweitversuch.

Fidelio hier, Fidelio da - nicht erst anno 2020.




25. Jänner



Zur höheren Ehre des Buffo-Opern-Geblödels


Staatsoper. Margarita Gritskova brilliert als bezauberndes Aschenputtel inmitten eines launigen Ensembles auf dem pulsierenden Rossini-Klangteppich, den die Staatsopern-Musiker unter Evelino Pidos Leitung ausbreiten.

Das haltlose Geblödel dieser Inszenierung verfehlt seine Wirkung nicht. Das Publikum nimmt »La Cenerentola« als Heidenspaß mit hie und da gefühlvollen Haltepunkten und vielen raffinierten Ensemble-Sätzchen. Dergleichen haben die Wiener - sehr zum Ärger des Jahresregenten Beethoven - schon zu Rossinis Lebzeiten geliebt. Und wenn es eine Zeit lang scheinen mochte, daß außer dem « Barbier von Sevilla« von der Belcanto-Herrlichkeit wenig bleiben würde, belehrt die jüngere Geschichte uns eines Besseren.

Maestro ex Machina

Allen voran ist das auch ein Verdienst des Dirigenten Evelino Pido, der mit Beginn der Ära Dominique Meyers erschien wie ein Deus ex Machina für den Belcanto. Komponisten wie Bellini, Donizetti oder Rossini hatten die Wiener Orchestermusiker früher verachtet. Vielleicht tun sie das immer noch, aber Pido hat sich mit seiner unübersehbaren Begeisterung für dieses Genre immer wieder als unwiderstehlicher Animator erwiesen, trotzt den Musikern dynamische Nuancen und spritzige Phrasierungsdetails ab; und nach ein paar Minuten der Gewöhnung hat man das Gefühl, es macht auch den philharmonischen Granden Spaß.

Ohne sie geht in der Staatsoper nichts. Daß derzeit nicht nur Richard Strauss und Wagner, sondern auch Rossini und Co. auf höchstem Niveau erklingen, steht dem Haus gut an. Sven-Eric Bechtolfs Regie, nicht minder bewegt als Pidos Dirigat, wird überdies auch von den - teilweise als Transvestiten gewandeten - Herren des Chors zu allerlei Kasperliaden genutzt. Der Rahmen stimmt also, die Solisten können sich austoben.

Sie taten es in der 43. Aufführung der Produktion nach Herzenslust, angeführt vom Opera-buffa-Haudegen Alessandro Corbelli, dem karikierenden, aber nie outrierenden Don Magnifico. Er favorisiert seine schönen Töchter, das auch vokal ebenmäßige Paar Ileana Tonca und Svetlina Stoyanova, und überhört die vokalen Qualitäten seines Stiefkinds: Margarita Gritskovas Aschenbrödel ist stimmlich gereift, makellos in den Koloraturen und in der Höhe brillant auftrumpfend, ohne etwas von ihrer satten Tiefe eingebüßt zu haben. Antonino Siragusas Don Ramiro liegt ihr zu Recht zu Füßen - und umschmeichelt sie mit stilsicherem Belcanto inklusive sicherer hoher C. Sein Tenor ist gewiß nicht der wohlklingendste, aber einer der gewandtesten Vertreter seines Fachs in unseren Tagen. Wohltönend der »rettende Engel« Alidoro von Adrian Sampetrean, um Beweglichkeit mehrheitlich erfolgreich bemüht der Dandini von Orhan Yildiz. Man lacht und applaudiert kräftig.

22. Jänner



Der »Rosenkavalier« im Biedermeier-Gewand


Opern-Suiten. Das Ensemble Minui reduziert komplexe Opernpartituren der Zeit um 1900 auf Nonett-Dimensionen und überrascht damit auch Kenner: Da hört man Musik von Puccini, Dvorak und Strauss ganz neu.

Opern-Arrangements für Kammermusik, das hat freilich etwas Biedermeierliches. Als es noch kein Radio, geschweige denn die CD gab, da mußten Musikfreunde zur Selbsthilfe greifen, wenn sie das, was in den Opernhäusern zu erleben war, daheim irgendwie nachvollziehen wollten. Jüngst war an dieser Stelle über die Verbreitung von Beethovens Symphonien in Quartettform zu lesen. Nun legt das Ensemble Minui eine CD vor, die drei Opernsuiten aus der Zeit kurz nach 1900 hören lässt.

Das war nun in dieser Form noch kaum im trauten Heim zu realisieren, denn die Minuis spielen zu neunt. Aber ihre Darbietungen haben Methode auch für den Kenner des Opernrepertoires. Gerade die hier nebst Dvoraks »Rusalka« programmierten Titel »Rosenkavalier« und »Tosca« gehören ja zu den meistgespielten Werken überhaupt - doch gewinnt man dank der originellen Arrangements des Klarinettisten Stefan Potzmann auch als vollkommen Strauss- und Puccini-affiner Opern-Habitue eine erstaunliche Reihe neuer Einblicke in altvertraute Partituren.

Der eingangs erwähnte biedermeierliche Charakter der Unternehmung blieb insofern erhalten, als im Spiel von Minui jegliche dramatische Aufregung vermieden wird. Schon der »Rosenkavalier»-Anfang verrät nichts von der stürmischen Liebesnacht des jungen Grafen Octavian mit der schönen Feldmarschallin, sondern rückt die Musik ins Gemütliche.

So genießt man, was die Zeitgenossen als unglaubliche Abkehr des zuletzt bei »Salome« und »Elektra« noch hypermodernen Komponisten in Richtung von nur noch wohlig durch sanfte Dissonanzen gewürzten Dur-und Moll-Harmonien ansahen. Der Unterhaltungsfaktor soll bei solchen Bearbeitungen ja nie zu kurz kommen.

Der Mond scheint bei Sturmböen

Die Melodien, nicht zuletzt die aus Puccinis Gruseldrama, das hier auf seine lyrischen (und - mit der Mesner-Szene - auf komödiantische) Momente fokussiert wird, strömen ungehindert durch störende szenische Aktionen und Handlungsbrüche dahin. Aufwühlender hingegen die Fragmente aus dem Märchen von der böhmischen Wassernixe, wo vor allem die Verwicklungen des Mittelakts als expressiver Rahmen für das »Lied an den Mond« dienen, das auf diese Weise umso eindringlicher wirkt.

Der Kenner freut sich, die komplexen Strukturen gerade der Dvorak- und der Richard-Strauss-Partitur einmal in völlig neuer Durchleuchtung zu hören: Einfach besetzte Streicher lassen die viele Details des Bläsersatzes plastisch hervortreten. Zumal das Ensemble, vor allem aus Mitgliedern des Kärntner Symphonieorchesters gebildet, blendend harmoniert. Oper einmal anders.


22. Jänner



Philharmonische Bibel-Exegesen im Art-deco-Gewand


Staatsoper. Parallel zur Neuproduktion an der Wien spielt man am Ring »Salome« in originaler, voller Orchesterbesetzung mit spannenden Debüts.

Wie wichtig Richard Strauss gerade für Wien ist, mag man daran ablesen, daß seine bedeutendsten Opern nie aus dem Repertoire verschwunden sind, obwohl bis 31. 12. 2019 Tantiemen entrichtet werden mußten. Daß sein Werk nun »gemeinfrei« ist, erkennt man daran, daß etwa im Theater an der Wien jetzt »Salome« in reduzierter Orchesterfassung gegeben wird - ein fragwürdiges Unterfangen, wenn nebenan das philharmonische Staatsopernorchester gerade diese Partitur als eines seiner Schlachtrösser betrachtet.

Egal, wer am Dirigentenpult steht, möchte man ergänzen. Die 242. Aufführung der immer noch stimmungsvollen Art-deco-Inszenierung Boleslaw Barlogs sollte Mikko Franck betreuen, der absagen mußte, durch Michael Boder ersetzt wurde, der im letzten Moment wegen einer Verletzung nicht dirigieren konnte - und Dennis Russell Davies Platz machte. Dessen »Salome« kennen die Musiker - er nimmt sich sehr viel Zeit, um die großen Steigerungen auszukosten, während die unzähligen Details, die hier glitzern, funkeln, grummeln und knurren, ihr kunterbuntes Mit-, Neben- und Durcheinander entsprechend pittoresk, wenn auch nicht unbedingt mehrheitlich in der vorgeschriebenen Präzision absolvieren.

Ein genügend explosiver Untergrund jedenfalls für das Drama, das sich umso intensiver entfaltet, als die Darsteller ihre Vorstellungen von den Figuren im adäquaten Ambiente, jenseits jeglicher Regie-Verdrehung, zeigen können. Voran Lise Lindstrom. Salome ist ihre allerbeste Partie. Hier entfaltet sich der helle Sopran ungehindert und auch gegen die wütendsten Orchester-Attacken kraftvoll und sicher. Sie wirkt beim Schlußmonolog so frisch wie im Dialog mit Jochanaan, der diesmal dank des Debüts von Michael Volle zum packenden Ereignis wurde. Der Prophet schüttelt mit Mühe seine Gefängnisstarre ab, um ein darstellerisches wie vokales Crescendo zum niederschmetternd-unausweichlichen Fluch zu entfesseln. Salome verwandelt sich in seinem Angesicht vom kindlich-frechen Fratzen zum unversöhnlichen Racheengel. Das sitzt.

Waltraud Meiers Debüt als Herodias

Wäre nach dem atemberaubenden Orchesterzwischenspiel nicht Herwig Pecoraro erschienen, um den Herodes zur Knallcharge zu degradieren - abgesehen von stimmlichen Schwächen verzichtet er, fortwährend mit dem Blick zum Dirigenten, auf jede schauspielerische Ambition -, die Aufführung wäre zur Sternstunde geworden. Hatte doch immerhin Waltraud Meier die Staatsoper als Schauplatz für ihr Weltdebüt als Herodias gewählt - und punktete mit ihrer ganzen, umwerfenden Persönlichkeit. Die Ensemble-Kräfte veredelten dank Ulrike Helzels Pagen und Carlos Osunas Narraboth vor allem die erste Dreiviertelstunde - danach lag die ganze Last auf Lise Lindstrom; und die trug sie mit schleiertänzerischer Leichtigkeit.


17. Jänner



Michael Schades Heimspiel auf der Opernbühne


In der Staatsoper huldigte der Tenor in einem Liederabend dem intimen Genre ebenso wie der Theatralik.

Natürlich ist er ein (Selbst-)Darsteller von Format: Michael Schade kokettiert und scharmutziert mit seinem Publikum nach Herzenslust - wenn es um komödiantische Texte geht. An denen war sein Soloprogramm in der Staatsoper reich. Doch weiß der Tenor auch ziemlich genau, was er dem intimen Genre schuldig ist, wenn es um die großen, die introvertierten Momente im Schaffen der bedeutenden Lied-Meister aus dem deutsch- und dem französischsprachigen Raum geht: Es gab wunderbare Momente an diesem von Malcolm Martineau mit höchster Empathie für den Sänger begleiteten Abend, in denen das Publikum spürbar den Atem anhielt. Dann waren nur die extrem zurückgenommenen Pianotöne der Stimme zu hören.

Unter vollständiger dynamischer Kontrolle entfaltet Schades Tenor seine Reize nach wie vor am schönsten. Da vereint sich das klar und ruhig strömende Timbre dann mit einfühlsamer Textausdeutung - ein paar Konzentrationsfehler bei den dichterischen Versen einmal ausgenommen.

Daß der Applaus nach Schuberts »Laura am Klavier« nur zögerlich einsetzen wollte, obwohl dem Sänger wie dem Pianisten damit ein Kabinettstück an musikalischer Verschmitztheit gelungen war, lag am Programmheft: Es enthielt noch zwei Strophen, die Friedrich Schiller schon gestrichen hatte, ehe der Komponist das Gedicht entdeckte . . .

Französischer Esprit

Daß diesmal auch kleine Zyklen wie Maurice Ravels fünf griechische Volkslieder durch kräftige Zustimmung auseinandergerissen wurden, störte nicht: Tatsächlich fanden Schade und Martineau jedesmal wieder überraschende neue Farben für die temperamentvollen oder, je nachdem, versonnen-melancholischen Stücklein.

Exquisit die Darstellung der ebenso vielfarbigen, aber im Tonfall weitaus ernster gehaltenen Gesänge Gabriel Faures, in denen noch einmal der dezente, eingangs auch mit Beethovens »Adelaide« gepflegte Lied-Stil triumphierte. Diesen hatte man mithilfe des philharmonischen Hornisten Josef Reif bei Schuberts »Auf dem Strom« zu Anklängen an biedermeierliche Hausmusik-Traditionen nützen können. Mit Richard Strauss wurde zuletzt aber auch dem theatralischen Genius loci geopfert. Und bei »Wien, Wien, nur du allein« im Zugabenteil sang und summte Schades Fan-Gemeinde dann schon willig mit.

16. Jänner



Entlarvend: Alle Neune im Zwergenformat


Beethoven-Arrangements. Eine Neueinspielung im Jubiläumsjahr läßt mit Johann Nepomuk Hummels Arrangements der Symphonien hören, wie die Zeitgenossen diese Musik kennenlernen konnten.

Das findet man in keiner Gesamtedition - und doch ist es eine feine Ergänzung der Beethoven-Studien, die zum Jubiläum jeder Musikfreund betreiben kann: Johann Nepomuk Hummel hat sieben der neun Beethoven-Symphonien für Flöte und Klaviertrio arrangiert, eine damals beliebte Besetzung, die ideal fürs häusliche Musizieren im Biedermeier war. Die Hummel'schen Ausgaben (nicht nur Beethoven'scher Werke) sind in vielerlei Hinsicht interessant, unter anderem auch, weil sie etwa im Fall der späten Mozart-Symphonien Metronomangaben überliefern, die uns die Tempo-Gebräuche der Musizierpraxis jener Ära nach des Komponisten Tod verraten.

Dank solcher Überlieferungen lassen sich auch mit hochmögenden Vertretern der Originalklangbewegung muntere Diskussionen führen. Was Beethoven betrifft, haben wir mit des Meisters originalen Geschwindigkeitsangaben schon genug zu tun. Aber die Aufnahmen von Hummels symphonischen Einrichtungen lehren uns einiges über die Musiziergewohnheiten zur Beethoven-Zeit. Wer damals eine der viel diskutierten, hoch modernen Beethoven-Symphonien hören wollte, mußte ja zur Selbsthilfe greifen. Ein eigenes Orchester konnte sich bestenfalls Fürst Lobkowitz leisten, dem die »Eroica« gewidmet ist, die auf der ersten CD der Gesamtaufnahme durch den Flötisten Uwe Grodd und das Gould Piano Trio zu hören ist, wie die Zeitgenossen des Komponisten sie selbst musizieren konnten.

Freilich können vier Spieler nicht die überwältigende Wirkung des Beethoven-Orchesters simulieren. Doch kommen im kammermusikalischen Kontext manche Schärfen und Eigenwilligkeiten von Beethovens Harmonik zur Geltung, die sich im großen Klang immer wieder verlieren.

Von der Lyrik im Heroischen

So ballen sich die Dissonanzen an den Höhepunkten der Durchführung im Kopfsatz der »Eroica« eindringlich und ersetzen so mühelos die Schlagkraft eines orchestralen Fortissimos. Andererseits hört man hier ebenso, wie viel Lyrismus, wie viel Sensibilität auch in dieser »heroischen« Musik steckt. Zumal der Pianist des Gould-Trios, Benjamin Frith, dank subtiler Anschlagkultur und rhythmischer Akkuratesse als eloquenter Spielmacher fungiert. Er treibt die dramaturgische Entwicklung stets mit Elan voran.


13. Jänner



Beethoven und seine Bayreuther Dimensionen


Konzerthaus. Philippe Jordan rekonstruierte mit den Wiener Symphonikern, der Singakademie und etlichen Solisten des Meisters große Akademie von 1. August. Man spielte und sang unermüdlich von sechs bis elf.

So war das einst: Der Meister rief zum Konzertmarathon - und das Publikum hörte an einem Abend zwei Symphonien, ein Klavierkonzert und Vokalmusik. Vier Stunden Programm; zum Glück ist das Konzerthaus anno 2020 im Gegensatz zum damaligen Theater an der Wien beheizt. So konnte man das Remake in Ruhe genießen; oder via Livestream zu Hause verfolgen - oder beides: Wer zur Pause wechselte, konnte feststellen, wie klangsatt die ORF-Technik via »fidelio»-Plattform den Klang ins Zimmer transferiert.

Philippe Jordan und seine Wiener Symphoniker zogen in diesem Rahmen noch einmal Bilanz über ihre Beethoven-Arbeit. Die Sechste zum Einstand wirkte zwar nicht so homogen wie beim ersten Mal, aber nach wie vor ungemein detailverliebt und schlank musiziert. An der Fünften ließ sich aber Jordans Beethoven-Bild perfekt studieren.

Zwischen den Sätzen läßt der Dirigent keine Hustenpausen zu; die Spannung muß aufrecht bleiben. Selbst letzte Reste romantischer Interpretationstraditionen sind getilgt. Das Seitenthema des Kopfsatzes etwa wird streng im Tempo genommen, der Puls wird eher nervöser als ruhiger. Nirgendwo aber wird das Klanggeflecht intransparent. Die Aufführung wird bei aller stürmischer Attitüde zum Muster an Präzision.

Im Zweifel entscheidet Jordan für die Genauigkeit, gegen Hörer-und Spieler-Leidenschaften, auch gegen dramatische Stimmungsmalerei, etwa bei der Überleitung vom Scherzo ins Finale: Das Pianissimo siedelt beeindruckend nah an der Hörschwelle, doch das bleibt ein bemerkenswertes technisches Phänomen, wird nicht zum theatralischem, gar »metaphysischen« Effekt.

Präzision! Nur keine Metaphysik!

Übertriebenen Deutungen dieser angeblichen »Schicksalssymphonie« misstraut der Dirigent, läßt keine bedeutungsschwangeren Akzentsetzungen zu; bei Fermaten hält er sich nie zu lange auf. Womit er eher die sachliche Denkungsweise der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Spitze treibt, als Anleihen bei der viel zitierten Klangrede der Originalklang-Ära zu nehmen.

Der Notentext ist das Maß aller Dinge, der, den Beethoven notiert hat, nicht der, den gedruckte Ausgaben oder die Spieltradition überliefern: Wiederholungen werden alle beachtet, sogar jene im Scherzo, die nur im Originalmanuskript steht . . .

Der Effekt ist dennoch alles andere als sachlich oder gar trocken. Jordans Beethoven reißt mit. Ein Werbetexter dürfte sagen: Wo con brio draufsteht, ist auch brio drin - das führt zur spontanen Standing Ovation.

So wird dem Publikum die Zeit zwischen 18 und 23 Uhr nicht zu lang. Auch dann nicht, wenn zum Finale ebenso grandios angelegte, aber vielleicht nicht ganz so substanzreiche Musik auf dem Programm steht wie die Chorfantasie, in der Heinz Ferleschs Singakademie ihre große Viertelstunde feiern durfte. Sie war zwischendurch schon in den Sätzen aus der C-Dur-Messe zu hören. Da führte Jacqueline Wagner, die mit klarer, sicherer Sopranstimme die Konzertarie »Ah perfido« gesungen hatte, das Solistenquartett mit Anke Vondung, Allan Clayton und Hanno Müller-Brachmann an. In der Fantasie ergänzten Miriam Kutrowatz und Franz Gürtelschmied die Riege zum wohl ausgewogenen Sextett.

Nicholas Angelich hatte in die Rolle zu schlüpfen, die Beethoven 1. August. als sein eigener Solist gespielt hat - »ein saures Amt« zumal dann, wenn man Fantasien vom Blatt spielt und ihnen damit alles Fantastische, Freie nimmt. Aber schon das G-Dur-Konzert klang eher buchstabiert als musiziert.


13. Jänner



Zwischentöne


Die Tür zur Kultur ist geöffnet, aber der Durchgang blockiert


Mehr und mehr Klassik-Ereignisse kann man sich durch Streaming-Angebote ins Wohnzimmer holen. Aber das ist erst der Anfang.

Die Dinge sind völlig unausgereift. In gewisser Hinsicht funktionieren sie allerdings schon sehr, sehr gut: Die Technik ist so weit, daß sie uns Opernaufführungen und symphonische Konzerte via Livestream ins Haus liefern kann - wer über eine entsprechende Gerätschaft verfügt, um Video-Empfang mit hochkarätiger Tonwiedergabe zu koppeln, der kann sich die Berliner Philharmonie, die Wiener Staatsoper oder - wie am vergangenen Wochenende - das Wiener Konzerthaus ins Wohnzimmer holen.

Berlins Philharmoniker und unsere Staatsoper haben dafür perfekte Lösungen gefunden und sind imstande, ihre Produktionen in HD-Qualität ins Netz zu stellen. Die Berliner heben es sogar geschafft, dank großzügiger privater und staatlicher Unterstützung ihr Video-Archiv auf Dauer online zur Verfügung zu halten.

Damit sind wir in ein neues Zeitalter der Versorgung mit hochwertigen Klassik-Inhalten eingetreten. Freilich, jetzt kommen wir zur Unausgereiftheit, die Trends unserer Epoche streben in entgegengesetzte Richtungen. Hier der Hunger nach Information und nach Bereitstellung möglichst umfassender Archive. Da die immer weiter angezogenen Schrauben des Urheberrechts, das in dieser Hinsicht bald so viele Einschränkungen festgeschrieben haben wird, daß sich die gerade geöffneten Archive bald wieder in Hochsicherheitstrakte verwandelt haben werden.

Nicht von ungefähr hat der neue Chef von Ö1 jüngst über die Sehnsucht der Radiohörer nach Abhörmöglichkeiten für weiter als sieben Tage zurückliegende Sendungen referiert. Man kann ihm bei diesbezüglichen Vorstößen nur sehr viel Glück wünschen.

Zugriffsmöglichkeiten, wie sie die Berliner Philharmoniker erreicht haben, wären für das Rundfunkarchiv so wünschenswert wie für die archivierten Livestreams aus unseren Opern- und Konzerthäusern. Dagegen arbeitet nicht nur die Urheberrechtslobby. Auch das mediale Quotendenken bremst.

Es konfrontiert uns notorisch mit Zugriffszahlen, deren Höhe nichts für oder gegen die prinzipielle Notwendigkeit zu sagen hat, Hochkultur so breit wie möglich verfügbar zu machen. Europäisches Selbstverständnis sollte sich nicht durch Ziffern und Zahlen rechtfertigen müssen.

Daß etwa das Neujahrskonzert unter Andris Nelsons eine etwas höhere Einschaltquote erreicht hat als jenes unter Christian Thielemann, sagt zur Sache so wenig aus wie zur begründbaren Ansicht, das Nelsons-Konzert sei nicht annähernd so qualitätvoll gewesen. Die Öffentlichkeit muß beide hören und sehen. Schon um solche Diskussionen und damit das Kulturbewusstsein zu animieren.


12. Jänner



Der andere Beethoven: Tipps für Hörerlebnisse


Gerade in den Handel gekommen oder demnächst greifbar: Die spannendsten CD-Neuerscheinungen und Wiederauflagen jenseits des Repertoire-Mainstreams.

Zum Jubiläumsjahr mangelt es nicht an Neuauflagen historischer Beethoven-Aufnahmen, wirklich exzellenter und entbehrlicher gleichermaßen. Etliche neue (oder aus gegebenem Anlass wieder in den Handel gebrachte) CDs konfrontieren uns aber auch mit den unbekannten Seiten des reichen Schaffens dieses Komponisten, vor allem mit den je nach den Umständen tagesaktuell fabrizierten politischen Stellungnahmen. Sie stehen so verblüffend vor uns wie das eine oder andere Dokument des grimmigen Humors dieses Komponisten.

Beethovens Liedschaffen Hermann Prey, Pamela Coburn
Gesamtaufnahme der Kompositionen für eine Singstimme, am Klavier: Leonard Hokanson (Capriccio)

Über der Symphonik, der Klavier- und Kammermusik vergisst die Konzertpraxis gern den Vokalkomponisten Beethoven, dessen Liedschaffen in Hermann Preys längst klassisch gewordener Gesamtaufnahme mit Leonard Hokanson am Flügel Gerechtigkeit widerfährt. Der Bariton, der mit dieser Sammlung unter anderem auch eine der schönsten Aufnahmen des Zyklus »An die ferne Geliebte« vorgelegt hat, bricht eine Lanze für die unscheinbareren Gesänge - und geniert sich hörbar für den Text von politischen Momentaufnahmen wie dem »Kriegslied der Österreicher«, das er von Strophe zu Strophe, also mit steigender patriotischer Aufladung der Worte, kleinlauter zu interpretieren scheint - ein Fall von früher musikalischer Political Correctness? (Die CDs erschienen erstmals 1991 und sind nun zum Jubiläumsjahr wieder greifbar.)

Schauspielmusik zu Kotzebues »König Stephan«, op. 1 Leif Segerstam, Turku Philharmonic (Naxos)

Für die Eröffnung des neuen Theaters in Pest schrieb Beethoven die Musik zu August von Kotzebues »König Stephan«, originelle Gebrauchsmusik - und mehr als das, wie die von Leif Segerstam animiert dirigierte Neuaufnahme aus Turku hören läßt - immerhin korrespondierte der Komponist mit dem Autor über ein mögliches Opernlibretto zu »Attila« - schon im »König Stephan« geht es ja um die Unterwerfung der »wilden Horden im Osten».

Military Beethoven.

Originalkompositionen und Arrangements für Klavier

Carl Petersson, Klavier (Naxos)

Aufschlußreich die eben erschienene CD des schwedischen Pianisten Carl Petersson, der unter anderem das 1816 erschienene Klavierarrangement von »Wellingtons Sieg« eingespielt hat. So holten sich die Zeitgenossen den Kanonendonner von Beethovens damals populärster Komposition ins biedermeierliche Wohnzimmer.

Historisch interessant auch die quasi parallel zur Bonaparte-Symphonie, »Eroica«, entstandenen Variationen über »God Save the King« und »Rule Britannia« - die wahre Verehrung des Zoon politikon Beethoven gehörte ja nicht den Franzosen, sondern den Engländern. Entsprechend liebevoll, als eine spannende zusammenhängende Erzählung, sind vor allem die »Brtiannia»-Variationen gearbeitet.

»Beethoven unknown« Eine Raritätensammlung

Gewandhausorchester Leipzig, Staatskapelle Berlin, Eberhard Büchner, Kurt Masur u. v. a. (neun CDs, Corona Classic Collection)

Erstaunliche Facetten erschließt diese Sammlung. Beginnend mit den Tänzen, die Beethoven in den ersten Jahren seiner Wiener Zeit für Bälle und Redouten komponiert hat, bis zu Gelegenheitskompositionen für den sofortigen Gebrauch im wienerischen Musikleben. Mehr als lehrreich ist es zum Beispiel, die 1795 geschriebenen Einlagelieder für Ignaz Umlaufs Singspiel »Die schöne Schusterin« zu hören - zehn Jahre vor dem »Fidelio« übt sich der Komponist hier im Singspielton, der dann auch die Eingangsszenen seiner einzigen vollendeten Oper beherrschen wird. Die ein Jahr später auf der Reise nach Prag komponierte Konzertarie »Ah, perfido« kann dann durchaus als, wenn auch italienisch gesungenes, Vorbild für die große Leonoren-Arie gelten, mit der Beethoven im »Fidelio« in den Seria-Stil wechselt. Was als Prototyp der großen deutsche Oper gilt, wurzelt offenkundig in der italienischen Opern- und deutschen Singspieltradition.

Einige Arrangements wie jenes des Violinkonzerts für Klavier und Orchester, inklusive einer erstaunlichen Kadenz, in der die Pauke an die Seite des Soloinstruments tritt, verraten den Praktiker; und manches kleine Vokalstück den humoristischen Zeitgenossen, der schon auch einmal seine Freunde und Wegbegleiter (»Schuppanzigh ist ein Lump») kräftig zauste.

Symphonien, Orchesterwerke Hermann Scherchen

Sämtliche Symphonien u. a. aus der Westminster-Sammlung, Orchester der Wiener Staatsoper, London Philharmonic (DG)

Demnächst im Handel - für alle, die glauben, die sogenannte Originalklangbewegung sei nötig gewesen, um frischen Wind in die Beethoven-Interpretation zu bringen: Schon in den Fünfzigerjahren machte Hermann Scherchen die wildesten Aufnahmen aller Zeiten: Die Symphonien und »Wellingtons Sieg« in vollem Ungestüm - diese »Eroica« muß gehört haben, wer über rasche Tempi spricht . . .

Missa solemnis Karajan 1966

Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Fritz Wunderlich, Walter Berry, Wiener Singverein, Berliner Philharmoniker (DG Blueray)
Und noch eine Aufnahmelegende, die nie aus den Katalogen verschwunden ist. Mehr als 50 Jahre ist es her, daß Herbert von Karajan die Missa solemnis mit »seinem« Wiener Singverein und den Berliner Philharmonikern aufgenommen hat, die zweite seiner vier Studioproduktionen - und für die meisten Musikfreunde die definitive, denn ein Solistenquartett von solcher Güte stand nie wieder zur Verfügung: Schon in den ersten Takten des »Kyrie« schweben die Edelstimmen von Gundula Janowitz, Christa Ludwig und Fritz Wunderlich »über den Wassern«, Walter Berry dazu; der frühe Tod Wunderlichs hat verhindert, daß weitere solche Aufnahmen entstanden. Haydns »Schöpfung«, die man zur selben Zeit begann, konnte nicht mehr in dieser Konstellation fertiggestellt werden . . .


12. Jänner



Beethoven, seine Kaiser, Götter und Heroen


Für die Welt ist er Revoluzzer und Klassiker in Personalunion. Doch selbst Jubiläen bescheren uns kaum stimmigere Beethoven-Perspektiven.

Freude, schöner Götterfunken«, gewiß, aber auch: »Ein großes deutsches Volk sind wir . . . gerecht ist unser Krieg . . . stimmt an das Feldgeschrei»; alle BeethovenJahre wieder hebt man den Meister des »Fidelio« und der Neunten Symphonie als Vorkämpfer der Political Correctness auf den Schild, und könnte damit nicht falscher liegen . . .

Was wissen wir von Ludwig van Beethoven? Der Geburtstag des musikalischen Giganten jährt sich Ende 2020 zum 250. Mal. Die Feierlichkeiten haben pünktlich zwölf Monate vorher bereits begonnen und werden schon musikalisch - wie bei sämtlichen runden Gedenktagen zuvor - wieder zu kurz greifen. Man wird vorgeben, zutage zu fördern, was ohnehin längst zutage liegt. Die Streichquartette in zyklischer Form. Die Symphonien in zyklischer Form. Alle drei Versionen des »Fidelio«, sämtliche Klaviersonaten.

Schon die Sache mit den Sonaten stimmt aber nicht. Die Pianisten spielen an mehreren Abenden ihrer 32 - und übergehen damit das Faktum, daß das Wunderkind Beethoven in Bonn bereits drei Klaviersonaten komponiert und seinem Fürsterzbischof, einem Bruder des Kaisers, gewidmet hat. Diese »Kurfürstensonaten« fehlen in beinahe allen »Gesamtaufnahmen« der Beethoven'schen Klaviersonaten, und natürlich bei den einschlägigen Konzertaufführungen im Jubiläumsjahr.

Kriegs- und Freiheitsklänge. Die Musikwelt ist bequem. Sie hat am Kanon der wenigen ausgewählten, ununterbrochen präsenten Beethoven-Werke genug. Was sie dabei verpaßt, weil es als angeblich taubes Gestein im OEuvrekatalog als vernachlässigbar gilt, wird auch in Jubiläumssaisonen kaum hinterfragt.

Das eingangs zitierte »Kriegslied der Österreicher« gehört indes bestimmt nicht zu den Höchstleistungen des Musikgenies. Peinlich ist es den Interpreten vor allem wegen des Texts, einer patriotischen Kampfansage an die postrevolutionären Franzosen, gegen die man freudig in den Krieg zog.

Beethoven, der Freiheitsideologe, der Napoleon Bonaparte seine »Eroica« widmete, als Kriegshetzer aufseiten des Kaisers? Dergleichen darf man angesichts des tadellosen Leumunds dieses Künstlers als Jugendtorheit abtun.

»Doch halt«, singt schon der Minister im »Fidelio»-Finale. Treten wir einen Schritt zurück, um die Dinge genauer zu betrachten. Das »Kriegslied« erschien 1897. Da war Beethoven bereits im Wiener Musikleben etabliert, wenn auch die erste Gruppe der Streichquartette und die erste Symphonie noch nicht komponiert waren. Sieben Jahre später lag die Dritte, die »Eroica«, vor. Und Beethoven kratzte wütend die Widmung »geschrieben auf Bonaparte« aus dem Titelblatt der Kopistenabschrift: »Ist der auch nicht anders wie ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen; er wird sich nun höher wie alle anderen stelle, ein Tyrann werden.«

Die Wut Beethovens, wie sie sein Schüler Ferdinand Ries überliefert, währte nicht lang. Immer wieder ist in der Korrespondenz davon die Rede, die Symphonie sollte »eigentlich den Namen Bonaparte« tragen.

Solange dieser Name für den Kampf um die Freiheit vom tyrannischen politischen System stand, war er genehm; sobald sich der Feldherr zum Kaiser machte, konnte er nicht mehr Synonym für das sein, was die Musik ausdrücken sollte.

Im Falle einer Symphonie, die ohne gesungene Worte auskam, mußte sich das Publikum ohnehin immer seinen eigenen Reim auf die Musik machen. Selbst dort, wo bei Beethoven gesungen wird, ließ sich in vielen Fällen mühelos die Perspektive verschieben: Die »Freude« der Neunten, das »Heil sei dem Tag« im »Fidelio« sorgten gleichermaßen für Jubelstimmung in Anwesenheit von Kaiser Franz, von Reichsmarschall Göring oder von Bundes- und Staatspräsidenten der Europäischen Union.

Versteckte Hymnen. Andererseits erlauschten manche Zeitzeugen verschlüsselte Botschaften in textlosen Hymnen: »C'est l'Empereur, vive l'Empereur« riefen Offiziere in Paris, als bei der französischen Erstaufführung der Fünften, von deutschsprachigen Kommentatoren gern »Schicksalssymphonie« genannt, das C-Dur-Finalthema erstrahlte. Es ist tatsächlich einem Kriegslied der napoleonischen Armee nachgebildet und stand wohl für eine politische Idee, nicht unbedingt für eine Verherrlichung des Franzosenkaisers, dessen Truppen 1805 und 1809 in Wien einmarschierten, sehr zum Grimm des Komponisten. Der verschanzte sich während der Kanonade im Keller des Hauses seines Bruders und suchte seine ohnehin schon in Mitleidenschaft gezogenen Ohren mit Pölstern vor dem Lärm zu bewahren.

Für sein Schlachtengemälde »Wellingtons Sieg« ließ Beethoven dann 1813 freilich seinerseits schießen und böllern, um den Sieg über Napoleon nicht nur musikalisch zu illustrieren.

Das Stück hätte, wäre das Kino schon erfunden gewesen, eine prachtvolle Filmmusik für einen antinapoleonischen Propagandastreifen abgegeben und war seinerzeit mit Abstand Beethovens populärstes Werk. Die Uraufführung, bei der die Komponisten Hummel und Meyerbeer die Kanonenschüsse imitierten, wurde vom Publikum mit johlender Begeisterung quittiert. Die am nämlichen Abend uraufgeführte Siebente Symphonie degradierte der Zeitgeist zur Petitesse: »Man gab im k. k. Redoutensaal seine schöne musikalische Darstellung von Wellingtons Schlacht bey Vittoria, und vorher die dazu als Begleitung komponierte Symphonie.«

Bald war Gelegenheit, dem Kriegslied ein Friedenslied der Österreicher folgen zu lassen. Die Kantate »Der glorreiche Augenblick« wurde zum Höhepunkt der künstlerischen Verbrämungen des Wiener Kongresses. 200 Jahre später gehört dieses Stück in den Augen zeitgeistiger Kommentatoren vielleicht in eine Reihe mit Huldigungskantaten, wie sie russische Komponisten vom Format eines Schostakowitsch oder Prokofieff in der Stalin-Ära der Sowjetunion verfaßt haben . . .

Was der Zeitgeist ausblendet. Das erklärt, warum man diese Facette von Beethovens Schaffen komplett aus dem Bewusstsein der Musikwelt auszublenden versucht. Die Kongress-Kantate, der die edelste Druckausgabe gewidmet war, die je von einem Beethoven-Werk erschien, gehört in einen Topf mit Beethoven'schen Repräsentationsmusiken wie den ungarischen Weihespielen »König Stephan« oder »Die Ruinen von Athen«, in deren Finale bei strahlender Beleuchtung eine Statue des Kaisers und Königs Franz zwischen die Musenaltäre gesetzt wird . . .

Auszublenden sind da freilich auch Anklänge an die »Ode an die Freude« in der Neunten Symphonie oder die Kadenzformel, mit der im »Glorreichen Augenblick« dem Geist Europas gehuldigt wird: Sie steht nahezu unverändert auch vor dem Bekenntnis »Credo in unum Deum« in der Missa solemnis!

Beethoven und seine Kaisergestalten, das ist die eine Sache. Beethoven und der liebe Gott eine ganz andere. Generationen hätten ihren Klassiker ja am liebsten zum selbstgerechten Titanen stilisiert, der dem Allerhöchsten trotzt wie Prometheus in Goethes kraftstrotzenden Versen.

Bei Beethoven liest es sich weniger aufbegehrend, wenn er versichert, es sei seine Absicht gewesen, bei den Singenden wie bei den Zuhörenden »religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen« - der späten Missa sollte noch eine weitere Vertonung des katholischen Ordinariums folgen: Skizzen für eine cis-Moll-Messe haben sich erhalten. Vielleicht ist manches von der Musik, die dem Komponisten hier vorschwebte, ohne Worte in das späte Streichquartett in der gleichen, raren Tonart eingegangen, vielleicht in den langsamen Satz des nahezu gleichzeitig entstandenen a-Moll-Quartetts, den »Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit in der lydischen Tonart».

Heißt es doch schon 1818 in einem der Skizzenbücher: »Frommer Gesang in einer Symphonie in den alten tonarten -- Herr Gott dich loben wir -- alleluja». Und Neffe Karl gab im leidigen Prozess um die Vormundschaft zu Protokoll, er hätte Tag für Tag mit seinem Onkel morgens und abends gebetet.

Möglicherweise benennt ein Schiller-Zitat, das der Komponist einmal notiert, den Endzweck von Beethovens Streben und Schaffen am trefflichsten: »Die Wahrheit ist vorhanden für den Weisen/Die Schönheit für ein fühlend Herz:/Sie beide gehören füreinander.« Im praktischen Leben kannte er zwar keine Scheu, etwa Verleger schlitzohrig gegeneinander auszuspielen. Aber philosophisch betrachtet . . .

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8 Jänner



Der neue Tenorstar und seine Eroberungen


Benjamin Bernheim präsentierte seine erste Arien-CD mit Ausschnitten aus dem französischen, italienischen und russischen Repertoire. Die klare, edle Stimme fesselt bei Massenet, Tschaikowsky, Verdi und Belcanto.

Mit Erscheinen dieser CD galt Benjamin Bernheim international als Topstar. Aufmerksame Besucher der Wiener Staatsoper (und Leser des »Presse»-Feuilletons) wissen es hingegen längst: Dieser junge Franzose ist einer der Hoffnungsträger des Opern-Business, begabt mit einer elegant timbrierten Stimme voll Schmelz und sanft eingebundenem, aber oft strahlendem Metall.

Im Haus am Ring sang er bisher den Nemorino, den Tamino und zuletzt den Rodolfo in Puccinis »Boheme»; im Ausklang der Ära Dominique Meyers wird er noch den Alfredo in Verdis »Traviata« geben - und damit eine jener Partien gestalten, die im Moment seine Grenzen abstecken. Alfredo und Herzog (»Rigoletto») verraten auch auf der ersten Arien-CD Bernheims, begleitet von der Prager Philharmonia unter Emmanuel Villaume, die äußerste stimmliche Anspannung, die der Künstler seinem Tenor zumutet. Da trübt nicht der kleinste Drücker den klaren Fluß der Stimme.

Längst sind wir gewohnt, solche Rollen von Interpreten gesungen zu hören, die für zartere Passagen sozusagen »downgraden« müssen. Bernheims Pianissimi, die wohl ausbalancierten Phrasen strömen freilich in vollem Saft. Und sie sind beherrscht dank beachtlicher technischer Meisterschaft: Immer wieder staunt man beim Anhören dieser Novität, wie souverän Bernheim dynamische Nuancierungen in den natürlichen Fluß der Musik einbringt.

Ausdruck kommt dank modulationsfähiger, farbenreicher Tongebung immer von innen, wird niemals dem melodischen Fluß oktroyiert. Daß einer der Lehrer Bernheims der Ausdruckssänger Giacomo Aragall war, hört man indes immer wieder: Hier geht es um Seelenprotokolle, nicht einfach ums Hervorbringen möglichst schöner Töne.

Wenn die Melodie ins hohe C strömt

Ideal fügt sich das Material in die Musik des Belcanto, von Donizettis »Furtiva lagrima« bis - wiederum am äußersten Anschlag der unforcierten Hochdruckskala - zum Finale von »Lucia di Lammermoor«, ebenso, nicht zu vergessen (und apropos Erinnerungen an Aragall!) in die von schwebenden Pianissimi getragene Traumerzählung des Des Grieux aus Massenets »Manon».

Die Arie des Rodolfo aus der »Boheme« steht zu Recht als krönender Abschluß am Ende dieses Reigens: Ein so sicher eingebundenes hohes C hört man nicht alle Tage.


5. Jänner



Entschlossen nach vor und zurück


Von Schönberg bis Gershwin: Die musikalische Moderne war eine merkwürdige Mixtur.

Seit den Jahren um den Ersten Weltkrieg hatte die musikalische Moderne ihre Klauen gewetzt, in den 1920er-Jahren trieb sie erstaunliche Blüten - gedüngt mit einer Mixtur aus unbedingtem Fortschrittsglauben und Reaktion. Die Zeit war unter anderem geprägt durch Arnold Schönbergs Proklamation der neuen Kompositionsmethode »mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen». Diese sollte für eine oder zwei Generationen von Komponisten, die nach 1945 auf den Plan traten, der Ausgangspunkt für Experimente werden, die sich unter dem Rubrum »Serielle Musik« zum Schreckenswort für Konzertveranstalter und Publikum entwickelten - was die Kluft zwischen Produzierenden und Konsumierenden unüberbrückbar werden ließ. Dabei hatte sich Schönberg vor allem um eine Ordnung im sogenannten atonalen Klangraum bemüht, um, so viel zur Reaktion, klassische Formen wieder zu beleben. Er nutzte sein System nicht, um in neue Räume vorzudringen, sondern um wieder Sonaten- und Variationssätze zu komponieren.

Sein Antipode Strawinsky ging, nachdem er 1913 mit den stampfenden Rhythmen seines »Sacre du printemps« die später oft so genannte »musikalische Atombombe« gezündet hatte, in den Zwanzigerjahren den direkten Weg in Richtung Klassizismus, nahm sich barocke Concerti zum Vorbild. Seinem Ballett »Pulcinella« galt im Mai 1920 vielleicht die erste wichtige Uraufführung der Zwanzigerjahre - Diaghilevs Ballets russes tanzten in Bühnenbildern von Picasso.

Gershwins Hybrid-Genie. Verschmelzungen ganz anderer Art wagte ein George Gershwin. Die Trennung von sogenannter E- und sogenannter U-Musik war angesichts der vom Publikum abgelehnten radikalen Moderne längst vollzogen; aber manchen Jazzmeister plagte die Sehnsucht, auch von der Klassikszene anerkannt zu werden: 1924 präsentierte Gershwin seine »Rhapsody in blue« - aber es sollte bis nach dem Zweiten Weltkrieg dauern, bis solche Hybrid-Geniewürfe auch als solche erkannt werden sollten.

Der Jazz fesselte freilich manchen führenden Komponisten der »ernsten« Fraktion: Hindemith definierte 1922 die barocke Suite neu, indem er statt Allemanden, Gavotten oder Sarabanden einen Shimmy und einen Ragtime paraphrasierte und durch schräge Harmonien in seine Avantgarde-Welt herübertanzen ließ. Ernst Krenek errang weltweites Aufsehen, als er in seinem »Jonny spielt auf« einen Jazzgeiger zum Opernhelden werden ließ; noch dazu einen Farbigen, was alsbald auch rassistische Proteste hervorrief: Als diese anlässlich einer »Jonny»-Aufführung an der Wiener Staatsoper auf der Ringstraße losbrachen, schrieb man freilich bereits die 30er-Jahre. Da hatte die Musik schon nach der politischen Pfeife zu tanzen, die auch stilistisch simplere Vorgaben machte.

Dergleichen hatte die Welt freilich schon gesehen - während der im Westen noch wilden 20er begann das kommunistische Regime in Russland bereits unter dem Banner der Volksnähe, gegen die (bis dahin auch in Russland reiche) avantgardistische Kulturszene mobil zu machen.


3. Jänner



Die Klassiker von 1870 sind die Klassiker von heute


Musikverein. Am 5. und 6. Jänner spielen die Philharmoniker das Programm der Eröffnung von vor 150 Jahren, Semyon Bychkov dirigiert.

Mitten im Winter 1869/70 hieß es: »Vollendet das ewige Werk« - aber nicht Musik aus Wagners »Rheingold« durfte zur Feier des Tages erklingen, sondern das, was zu jener Zeit vor den Augen und Ohren der Musikfreunde Ewigkeitswert erlangt hatte. Die Ansichten darüber unterscheiden sich 150 Jahre später nicht eklatant. Und deshalb darf die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ohne Weiteres - und nicht zum ersten Mal - ein genaues Remake jenes Eröffnungskonzerts aufs Programm setzen, das die Wiener Philharmoniker auf den Tag genau vor 150 Jahren zum Einstand im jenem Saal gaben, der bald zum berühmtesten Konzertsaal der Welt werden sollte.

Am 5. und 6. Jänner 2020 musizieren die Philharmoniker also noch einmal, »wie die Alten sungen». Beethovens Fünfte Symphonie, die Symphonie schlechthin, durfte und darf nicht fehlen. Dazu ein bunter Strauß aus Werken von Haydn, Bach und anderen. Mozart, vor allem, dessen »Don Giovanni« wenige Monate vor Eröffnung des Musikvereinsgebäudes zum Auftakt des Programms in der ebenfalls neu errichteten Wiener Hofoper erklang. Die Klassiker waren schon in der Ära von Johannes Brahms unverzichtbar, als sich der Repertoirekanon langsam herausbildete, der bis heute gültig ist.

Daran denkt man wohl, wenn Semyon Bychkov den Taktstock schwingt. Schon Riccardo Muti hat vor einem Vierteljahrhundert dasselbe Eröffnungsprogramm noch einmal Revue passieren lassen. Mariss Jansons wollte es ihm gleichtun. Semyon Bychkov springt nun für den jüngst verstorbenen Publikumsliebling ein. Ein Wiener Publikumsliebling ist auch er, der Stadt und dem Orchester seit Langem verbunden.

Bychkov: »Ich war immer gern in Wien»

Im Gespräch anlässlich eines Gastspiels jüngst im Musikverein ahnte er noch nicht, daß er diese Aufgabe übernehmen würde und meinte auf die Frage, ob er bald wieder einmal auch am Pult der Wiener Philharmoniker stehen würde: »Schauen Sie mein Leben an, ich war immer gern in Wien und werde auch immer gern hier arbeiten, aber ich habe sehr, sehr wenig Zeit.« Vor allem seine Aufgabe als Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie gibt ihm wenig Chancen, andere Engagements anzunehmen. Die jüngsten Konzerte des Prager Orchesters mit Bychkov an der Spitze bewiesen, zu welch harmonischer Einheit Dirigent und Musiker verschmolzen sind: »Viele nennen mich ihren Daddy«, freut sich der Maestro, den einst Herbert von Karajan als einen möglichen Nachfolger bezeichnet hatte.

Für glamouröse Klatschspalten-Abenteuer hat sich Bychkov aber nie hergegeben. Er bewährte sich stets als Orchestererzieher und tief schürfender Interpret. Als solchen schätzte man ihn stets auch, wenn er in Wien am Pult erschien; auch an der Staatsoper, wohin er demnächst zurückkehrt: »Da schließt sich für mich ein Kreis«, meint er, »denn ich habe mir für diesmal die ,Elektra' von Richard Strauss ausgesucht, mit der es in Wien für mich auch angefangen hat.« Seither war er der Dirigent mitreißender Vorstellungen von Werken wie »Tristan und Isolde« oder »Lohengrin«, leitete viel beachtete Premieren wie »Daphne« oder »Chowanschtschina« - und bedauert, daß zwischendurch immer wieder lange Pausen eingetreten sind. Im kommenden Februar gibt es nun immerhin noch einmal die »Elektra« - und danach vor allem einmal wieder Zeit für die Tschechische Philharmonie. Immerhin fürs Musikvereins-Jubiläum fand sich ein Loch im Terminplan . . .


2. Jänner



Sein Regiebuch war die Partitur: Der Opernregisseur schlechthin


Nachruf. Mit dem 84-jährig verstorbenen Berliner Harry Kupfer verliert die Oper einen Regisseur, der sie ernst nahm. Sein »Ring« in Bayreuth galt als Jahrhundertereignis, zuletzt schenkte er Salzburg einen fantastischen »Rosenkavalier». Und er prägte etwa mit »Elisabeth« auch das Wiener Musical.

Es durfte auch etwas schiefgehen bei ihm. Immer nahm Harry Kupfer das volle Risiko auf sich, wenn er eine Neuinszenierung anging. Halb- oder dreiviertelgar kochte er nie. Mochte ihm die Kritik auch hinterher versichern, er sei diesmal in die falsche Richtung marschiert: Den eingeschlagenen Weg hatte er immer bis zum Ende beschritten. Und in der Rückschau bleiben doch mehrheitlich Erinnerungen an spannende, aufschlußreiche, oft tatsächlich große Opernproduktionen, stets brillant bis ins kleinste Detail durchgestaltet.

Hierzulande gab es zuletzt 2014 eine »Rosenkavalier»-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen, die als erste einen wirklichen konsequenten Gegenentwurf zur bis dahin allein gültig scheinenden, von Max Reinhardt hinter den Kulissen entscheidend mitbestimmten Urproduktion in den Rollerschen Dekorationen bot. Was zwischendurch auf den internationalen Bühnen gezeigt wurde, war entweder ein Imitat dieser ursprünglichen Gestalt der letzten deutschen Erfolgsoper - oder ein untauglicher Versuch, die Hofmannsthalschen Karten neu zu mischen. Harry Kupfer gelang die gültige Neudeutung, weil er seit seinen Anfängen auf den wichtigsten DDR-Bühnen stets nicht nur den Text, sondern vor allem die Musik in Augenschein nahm. Wenn er inszenierte, konnte es vorkommen, daß er Sänger und Korrepetitoren verblüffte, weil er sagte: »Wir fangen dort an, wo es nach e-Moll geht.«

Welcher der heute zwischen Salzburg, München und New York herumgereichten Moderegisseure weiß schon, wann die Musik nach e-Moll moduliert? Und wer von ihnen kann überhaupt Noten lesen?

Dank seiner eminenten Musikalität war Kupfer zum Opernregisseur schlechthin geworden. Wie immer er die Figuren seines Spiels mit geduldig-behutsam verschleierter, aber im Endeffekt doch brachialer Gewalt führte, sein Regiebuch war die Partitur, nicht das Libretto. Penibel ausgeführte Gänge, Läufe, Kletterpartien in seinen Inszenierungen dauerten präzis so lang wie die Melodiekurven oder Sechzehntelläufe der Geigen. Das war es, was seine Arbeiten vor denen aller anderen auszeichnete. Im Verein mit seinen Bühnenbildnern, vor allem mit Hans Schavernoch, gelang es ihm oft, diese penible Umsetzung musikalisch-textlicher Dramaturgie auch in die Optik des Bühnenraums zu projizieren - nicht selten hoben Kostüme, Dekors und Lichtgestaltung sein theatralisches Bewegungskonzept in die dritte Dimension; im Idealfall erwuchsen daraus Modellaufführungen wie der erwähnte »Rosenkavalier«, der dann auch gleich ein zweites Mal gezeigt werden mußte, obwohl das im Festspielkonzept gar nicht vorgesehen war.

Daß aus diesem idealen »Rosenkavalier« fürs 21. Jahrhundert kein musiktheatralischer »Jedermann« wurde, lag auch daran, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, eine Kupfer-Produktion am pulsierenden Leben zu erhalten, wenn der Meister selbst nicht bei jeder Wiederaufnahme das Zepter führt und den Sängern im wahrsten Sinn des Wortes Beine macht. Kupfer im Repertoire war in der Regel nicht mehr Kupfer - die einst brillante Volksopern-»Boheme«, in ihrer Anfangsgestalt ein wirklicher Kontrapunkt zur unverzichtbaren, klassischen Zeffirelli-Inszenierung an der Staatsoper, konnte davon Zeugnis geben.

Kupfer, das ging nur »live»

So muß sich die Welt jetzt verabschieden von der Möglichkeit, einem genialen Opern- (und übrigens auch Musical-)Animator bei der Arbeit zuschauen zu dürfen. Harry Kupfer, das ging nur »live« - und es ging gegen alle Erwartung auch im Kampf gegen eine schwere Erkrankung, der dieser Künstler noch mehrere Jahre seines gewohnt intensiven Pensums abzutrotzen wußte.

Man muß zusammensuchen, was von seiner reichen Ausbeute dokumentiert wurde und zumindest als Videomitschnitt erhalten blieb; es ist nicht allzu viel - vom Bayreuther »Ring des Nibelungen«, der auf DVD greifbar ist, bis zur unvergesslichen Händel-Wiederbelebung »Giustino« mit Jochen Kowalski, die zumindest im Internet zu finden ist - übrigens als bester Beweis dafür, daß es nicht unbedingt die Originalklang-Apostel waren, die in vorderster Linie die Barockoper wieder zurückerobert und dem modernen Repertoire erschlossen hatten . . .