11. Mai 1992

KRITIK: FESTWOCHEN

Das Lauteste am Beginn

Eröffnung des Musikfests 1992: Schönbergs Gurre-Lieder unter Abbado mit Sharon Sweet, Siegfried Jerusalem und einer heulenden Barbara Sukowa.

Wenn aus Hunderten Kehlen das Lob der göttlichen Morgendämmerung tönt, wenn sämtliche erreichbaren Wiener Philharmoniker auf dem eigens dafür vergrößerten Musikvereinspodium dazu aufspielen, dann gehen Arnold Schönbergs berüchtigte »Gurre-Lieder« mit überwältigender Lautstärke zu Ende. Für ein Musikfest ist kein effektvollerer Beginn kalkulierbar.



Ob es bei den gewaltigen Klangentladungen, die Schönberg da mit vier Chören - diesmal waren es mit dem Staatsopern-, dem Schönberg-Chor und einem Ensemble aus Preßburg ausgezeichnete Formationen - und dem vielleicht am stärksten besetzten Orchesteraufgebot der romantischen Literatur zu entfesseln wünscht, auch differenzierter zugehen kann, wenn alle zusammen nach Kräften Musik machen, blieb auch diesmal, wie meist, nur zu erahnen.

Ein phänomenaler Wirbel ist es allemal, wenn im dritten Teil des enttäuschten Waldemars Mannen sich zur Wilden Jagd versammeln, wenn zuletzt alle zusammen ihr pantheistisches Lob anstimmen.

Zwischendurch aber setzt Schönberg den Riesenapparat sparsam und raffiniert differenzierend für allerlei musikalische Farb- und Stimmungsspiele ein. Genialer Instrumentator, der er war (der genialste vielleicht von allen...), ergeben sich da auch bei sauberer, interpretatorisch "neutraler" Wiedergabe des Notentextes, wie Claudio Abbado sie diesmal übersichtlich organisierte, faszinierende Stimmungen. Der flirrende, geheimnisvoll rieselnde Beginn, die grellen, schwirrenden Attacken, mit denen der Sommerwind zuletzt über die Wiesen pfeift, und vieles mehr lassen den musikalischen Connaisseur jedenfalls auf seine Rechnung kommen.

Die Philharmoniker, in Hochform, spielten makellos schön auf. Allein der seidige Glanz, zu dem in solchen Momenten die wahrhaft einzigartige Cellogruppe dieses Orchesters fähig ist, entschädigt für manchen Moment, in dem Schönberg, ganz Romantiker, weite melodische Atemzüge erträumt, die man sich vielleicht freier, großzügiger, lustvoller ausgekostet wünschte.

Eine Sängerin wie Marjana Lipovek erschließt über alledem das ganze Spektrum, dessen ein großer Interpret fähig sein muß: Neben perfektem Schönklang steht bei ihr noch intensivster Ausdruck. Die Klage auf den Tot der Heldin des Stücks wurde zum mitreißenden Höhepunkt dieser Aufführung. Die Lipovek erschloß dem musikalischen Farbenzauber für Minuten eine weitere Dimension, die der Leidensfähigkeit der Klänge, mit der die große Musik erst anfängt.

→ Sharon Sweet war, in jeder Hinsicht, die Heldin des Nachmittags. Innerhalb weniger Stunden war sie für die erkrankte Jessye Norman eingesprungen und sang wunderbar klar und leuchtend timbriert. Ihre Stimme verschwisterte sich ideal mit dem philharmonischen Instrumentalklang. Schwerer hatte es Siegfried Jerusalem, der den verliebten und später verzweifelt mit Gott hadernden König Waldemar mit klug differenziertem Gesang zu charakterisieren versuchte. Weshalb ihm zu wenig Zeit blieb, um auch noch unausgesetzt genügend Kraft zu mobiliseren, mit der er alle massiven Attacken des Orchesters abzuwehren imstande gewesen wäre.

Ein Mißverständnis nur an diesem bejubelten Nachmittag: Barbara Sukowas Erzählerin. Gewiß kann niemand so recht sagen, wie Schönberg seine Erfindung des auf Tonhöhen notierten Sprechgesangs tatsächlich realisiert haben wollte. Das exaltierte Geheule der Schauspielerin dürfte er aber schwerlich im Sinn gehabt haben.


Ein Mitschnitt dieser Aufführung diente als Grundlage für die CD-Edition der Gurrelieder bei DG.

↑DA CAPO