Oktober/November 2019
STAATSOPER
Auferstehung eines Märchens
Christian Thielemann hat "Die Frau ohne Schatten" von Hofmannsthal und Strauss völlig ungekürzt einstudiert. Das als schwer verständlich geltende Werk hielt in der klaren Regie Vincent Huguets dank Glanzbesetzung alle in Atem.Opernpremieren von solchem musikalischen Zuschnitt verzeichnet die Chronik nur alle heiligen Zeiten: Mit der Neuinszenierung der "Frau ohne Schatten", dirigiert von Christian Thielemann, gesungen von einer exquisiten Solistenriege, hat sich die Staatsoper ein luxuriöses Geschenk zum 150. Geburtstag gemacht.
Erfreulicherweise spielte - was ja heutzutage keineswegs selbstverständlich ist - auch die Regie mit: Vincent Huguet hat nach den pseudopsychologischen Verirrungen, mit denen man dieses Werk in Wien zuletzt nahezu unspielbar gemacht hat, einen Weg gefunden, auf behutsame Weise das Märchen zu erzählen, wie Hugo von Hofmannsthal es gedichtet hat.
Allzu behutsam, werden fortschrittliche Kommentatoren meinen, während das Wiener Publikum ziemlich einhellig befunden hat, hier würde es endlich einmal nicht szenisch bevormundet, sondern erlebe die wirklich singuläre musikalische Leistung in einem adäquaten Rahmen. Nun hat Aurelie Maestre, abgesehen vom kaiserlichen Schlafpavillon im ersten Bild, eine Einheits-Felsenlandschaft auf die Bühne gestellt, die je nach Projektionen alle Stationen, auch das abweisend kalte Färberhaus vorstellen kann.
Das ist ein wenig eintönig. Dass der Färber Barak nur Grau- und Blautöne zu beherrschen scheint, macht aber vielleicht den Frust seiner Ehefrau sichtbar. Farbe, vor allem ein leuchtendes Rot für den Mantel der Kaiserin, bringen nur Clemence Pernouds wallende Kostüme ins Spiel. So bleiben immerhin die Figuren auch in den apokalyptischen Szenen des Mittelakts gut unterscheidbar. Huguet führt sie en gros nicht immer differenziert, konzentriert die Bewegungsabläufe auf die jeweils zentralen Gestalten der Handlung. Dann bilden die Umstehenden oder Umsitzenden ein oft erstaunlich degagiert wirkendes Publikum.
Schuld und Sühne a la Hofmannsthal
Dafür gelingt im Detail manch berührender Moment - meist vollkommen im Einklang mit dem Text; hie und darüber hinaus interpretierend. Vor allem gewinnt die Beziehung zwischen der Kaiserin und dem Färber ungeahntes Profil. Die Frau ohne Schatten erscheint als herzlose Diebin unter den Menschen und erkennt nach und nach ihre moralische Verpflichtung zur Umkehr. Dieses essenzielle Moment der Dichtung arbeitet der Regisseur akribisch heraus. Die Erkenntnis "Dir Barak bin ich mich schuldig" im zentralen Monolog der Kaiserin wird auf diese Weise deutlich zum entscheidenden Drehpunkt der Geschichte.
Manchmal gleiten Huguets Bilder freilich ins Kitschige ab - in der Tempelszene, einem Moment, da wohl jeder im Auditorium eine Ahnung davon gewonnen hat, worum es in diesem Werk geht, wirken die Visionen vom Kinderglück im Hause Barak und am kaiserlichen Hofe nur als ärgerliche Störfaktoren.
Ärgerlich, weil sie von den herrlichen Klängen ablenken, die aus dem Orchestergraben strömen. Das wunderbar modellierte Violinsolo in besagter Tempelszene markiert den vielleicht stillsten, innigsten Moment des ganzen Abends; und ist doch voll der Sammlung, derer es in einem solchen Moment der Entscheidung bedarf. Es ist bemerkenswert, dass es Christian Thielemann gelingt, gerade Szenen, die in der Wiener Aufführungsgeschichte der "Frau ohne Schatten" in den vergangenen Jahrzehnten konsequent dem Rotstift zum Opfer gefallen sind, mit besonderer Innenspannung zu erfüllen.
Das gilt für das Melodram, in dem sich die Kaiserin zu ihrem schweren Entschluss durchringt, nicht das eigene Schicksal und das ihres Mannes, sondern das Gemeinwohl zum Maß aller Dinge zu machen, aber auch für die zuvor nötige Trennung der Kaiserin von ihrer Amme, die stur festhält an ihrer menschenfeindlichen Haltung und ihrer Bindung zur Feenwelt, der die Kaiserin entstammt.
Die Partie der Amme ist in dieser ungekürzten Version zur dritten weiblichen Hauptfigur geworden - zur dritten hochdramatischen Sopranpartie auch, die Evelyn Herlitzius in atemberaubender Vielschichtigkeit modelliert: Stimmlich beherrscht sie von Beschwörungsformeln in sonorer Mezzotiefe über exaltierte Wutausbrüche bis zum intriganten Flüsterton jegliche erwünschte Nuance.
Sie dient in hündischer Ergebenheit ihrer Kaiserin, für die Camilla Nylund nicht minder differenzierte Töne findet: Vom Auftritt in lichten, ganz zart hingetupften Koloraturhöhen bis zu den euphorischen emotionellen Ausbrüchen im dritten Aufzug spannt sie mit ihrem leuchtenden Sopran ein bruchloses emotionales Crescendo.
Thielemanns souveräne Klangregie
Leuchtenden Sopranklang stellt ihr auch die "Frau mit dem Schatten" entgegen. Die volle Entfaltung ihrer gewaltigen Stimmreserven macht Nina Stemmes Färberin zum Ereignis. Der Vergleich mit dem Vorbild Birgit Nilsson wird in den Pausengesprächen zu Recht bemüht. Die Leuchtkraft, die Intensität dieses Gesangs paart sich mit dem Spiel des Orchesters unter Thielemanns Leitung zu einer Wiener philharmonischen Opernsymphonie, die nicht nur dank Klangschönheit auf allen dynamischen Stufen, sondern auch durch ungebremsten dramatischen Fluss den Hörer gefangen nimmt.
Thielemanns souveräne Regie lässt die volle Kraft des Apparats erst im Schlussquartett explodieren, entlockt der instrumental-vokalen Klangpalette bis dahin immer neue, ungeahnte Mixturen. Auch Stimmen oder mystische Trompetentöne aus der Ferne sind kunstvoll eingebunden. Das sichert nicht nur der robusten Heldenstimme Stephen Goulds die rechte imperiale Präsenz, sondern ermöglicht auch Wolfgang Koch, die Wandlung vom liebenswert ratlos den Übermächten ins Angesicht blickenden Handwerker zum glücklich jubelnden Ehegatten in subtil phrasierten, oft ganz liedhaften Phrasen hörbar zu machen.
Wohlklingend all die Geisterboten (ehrfurchtgebietend: Sebastian Holecek), Tempelhüter und Vogelstimmen (Maria Nazarova, tatsächlich federleicht), die tenoral-schlanke Jünglingsvision von Benjamin Bruns oder die sonore Ruferin in der Bergwüste (Monika Bohinec). Gut konzertiert auch Baraks Brüder, Samuel Hasselhorn, Ryan Speedo Green und Thomas Ebenstein.
Das Publikum, spürbar ununterbrochen bei voller Konzentration, schien im puren Opernglück.