Raoul Jobin
1906 - 1974
Jobin war - wie sein populärerer Kollege Léopold Simoneau - Frankokanadier und einer der wenigen bedeutenden Tenöre des XX. Jahrhunderts, die die französische Gesangstradition hochzuhalten versuchten: Schlanke Tongebung, idiomatische Transformation von Text in Klang, Eleganz der Phrasierung, zu hören etwa in der vielleicht einzigen rundum geglückten Aufnahme von Offenbachs Hoffmanns Erzählungen, die unter André Cluytens (mit Dialogen!) die musiktheatralische Lebensart der Pariser Opéra-Comique im Schallplattenstudio verewigte.
Hörenswert ist auch Jobins Don José in Cluytens' Carmen-Aufnahme mit Solange Michel, die ebenfalls in ihrer Gesamtheit, nicht unbedingt wegen einzelner Sängerleistungen, ein exzeptionelles stilistisches Dokument - und ein viel zu selten aufmerksam rezipiertes Korrektiv darstellt gegen eine alles verballhornende Aufführungstradition (nicht nur in deutschsprachigen Landen!). Gewiß gibt es glühender, vordergründig ausdrucksvoller gesungene Blumen-Arien, doch scheint bei Jobin die Melodie unmittelbar aus dem Wort, aus der Erzählung heraus zu entstehen. Das emotionelle Crescendo führt Jobin bald zu höchst eindrucksvollen Steigerungen - und zu einem allerdings entgegen dem Notentext forte gesungenen hohen B.
Die Höhensicherheit Jobins war nicht außerordentlich, die Salut!-Arie von Gounods Faust singt er einen halben Ton tiefer, dafür freilich in natürlichstem melodischem Fluß. Im Live-Mitschnitt einer Regimentstochter-Aufführung an der Seite von Lilly Pons präsentiert Jobin in seiner Solo-Szene mit Chor ein strahlendes (und mit Sonderapplaus bedachtes) hohes H, die folgende Arie mit den berüchtigten hohen Cs ist dann aber gestrichen . . .
Wer sich nicht scheut, einen aufnahmetechnisch höchst mangelhaften Livemitschnitt wegen seiner künstlerischen Qualitäten anzuhören, wird mit dem Dokument einer Aufführung von Charpentiers Louise von der New Yorker Metropolitan Opera unter der Leitung von Sir Thomas Beecham reich belohnt: Jobin an der Seite von Grace Moore gelingt im Verein mit dem liebevoll verständnisvollen Dirigenten eine außerordentliche, zwingende Wiedergabe einer viel zu wenig beachteten Partitur.