Boris CHRISTOFF

* 1919 - 1993

Nachruf, 30. Juni 1993

Die Legende lebt fort

Boris Christoff, der große bulgarische Bassist, starb 74jährig. Das reiche Plattenerbe bewahrt seine Kunst als die eines der bedeutendsten Singschauspieler des Jahrhunderts. Der Name Schaljapin fiel häufig, wenn von Christoff die Rede war. Tatsächlich schien die Baß-Legende von einer neuen abgelöst zu werden. Das Potential der Stimme des stattlichen Bulgaren mit den markanten Zügen war von der Art, die Hörer im entscheidenden Moment schaudern läßt: Gewaltige Tiefe in jeder Bedeutung des Wortes tönte da; und tönt via Tonträger noch immer.

Unausweichlich ist Christoffs Singen vor allem, wenn es um jenen Komponisten geht, der ihn, den angehenden Juristen, wie er selbst glaubhaft versicherte, überhaupt zum Singen "gezwungen" hatte: Modest Mussorgsky.
Die Gesamteinspielung von dessen Liedschaffen (EMI) dokumentiert vielleicht anschaulicher als alles, was an Opernaufnahmen mit dieser gewaltigen Baßstimme überliefert ist, zu welchen Differenzierungskünsten der Sänger fähig war - wie er in Sekundenschnelle Stimmungen, Farben, Chraktere zu wechseln imstande war, wie da Fahles, Jubelndes, Verinnerlichtes, Drohendes nebeneinander stehen und zuweilen in atemberaubender Metamorphose Divergierendes in eins verschmelzen.
Solch gestalterische Kunst weist den Sänger als ebenbürtigen Zeitgenossen einer Maria Callas aus, als Mitglied einer Generation, die mit vokaler Artistik Bühnenwelten zu substituieren wußte.

Die Platte rettet uns diese verlorene Kunst in die viel phantasieloser gewordene Gegenwart. Was im dialogisierenden Lied zum theatralischen Vokalereignis werden konnte, schafft der gestalterische Drahtseilakt im "Boris" sozusagen außer (oder besser: über) Programm: Der Bassist leiht in Personalunion allen drei großen Baßpartien seine wandlungsfähige Stimme, gibt also zuletzt den Zaren und seinen Gegenspieler gleichzeitig (EMI). Nur einem Boris Christoff war es möglich, sich mit dergleichen Studio-Zauberei nicht der Hybris schuldig zu machen. "Ich habe 40 Stimmen für meine 120 Partien", sagte er, nur milde übertreibend.

Im übrigen dürfen als seine außergewöhnlichsten Beiträge zur Diskographie gelten: Christoffs Philipp im "Don Carlos" (DG), ganz ohne imposante Bassistengeste, herrlich schön und innerhalb der zulässigen Belcanto-Grenzen ausdrucksvoll gesungen, sein Fiesco an der Seite Tito Gobbis in "Simone Boccanegra" (EMI) und manche Arien-Kompilation, vor allem jene, auf der, vielgerühmt, "O tu Palermo" aus der "Sizilianischen Vesper" enthalten ist, Paradoxon "machtvoller Phrasierungskunst". Nur die deklamatorischen Anforderungen der deutschen Sprache, und nichts als das, haben ihn - bei Wagner - je in irgendwelche Schranken gewiesen. Schon Mozarts Leporello hat dagegen in der "Registerarie" kaum je einen zynischeren, hintergründigeren Anwalt gehabt.

Boris Christoff ist tot. An seinem Singen werden sich noch Generationen zu messen haben.

↑DA CAPO