*** SINKOTHEK ** PORTRAIT ***

Patricia Petibon als Lulu

Premiere der dreiaktigen Version von Bergs Oper in Genf

Holzhammer trifft nackte Lulu

Jugendverbot für Alban Bergs "Lulu" in der Genfer Oper: Den Regie-Gag hätte Patricia Petibon bei ihrem brillanten Rollendebüt nicht nötig gehabt. Im Sommer gibt sie die "Lulu" in Salzburg. Wahrscheinlich.

Nicht jugendfrei - das weiß sogar die Concierge im Hotel: "Ach, da gehen Sie hin?", fragt sie mit maliziösem Augenaufschlag.
Opernpremieren, die im Vorfeld Schlagzeilen machen, sind rar. Früher einmal gab es legendäre Skandale. Oder aber auch künstlerische Erfolge, zu denen man Publikum via Sonderzügen führte. So geschehen etwa beim Dresdner "Rosenkavalier" des Jahres 1911. 100 Jahre später erzeugt man Interesse, indem man eine Aufführung für Zuschauer unter 16 sperrt.
Tatsächlich lässt Regisseur Oliver Py das letzte Bild von Alban Bergs "Lulu" (in Friedrich Cerhas vervollständigter Fassung) in einem Pornokino spielen, wo minutenlang einschlägige Videozuspielungen zu sehen sind.

Ob Oper solche Vorauspropaganda wirklich nötig hat, sei dahingestellt. Für ein Stück wie "Lulu" sind derartige Zusatzeffekte beinah tödlich.
Die Regie in Genf überfrachtet Frank Wedekinds ohnehin bunte Handlung mit einem Übermaß optischer Reize. Über unzähligen Nebenhandlungen droht die eigentliche Geschichte völlig verloren zu gehen. Zwar haben alle Scharaden und "lebenden Bilder", die Py uns auf der neonglitzernden und -flimmernden Bühne stellt, ihre mehr oder weniger offenkundige Beziehung zum Text. Doch liegt der Fehler solchen Schaustelleransatzes schon im Prinzip; dieses offenbart sich bereits in der ersten Szene: Eine Lulu muss nicht splitternackt herumlaufen, um uns zu signalisieren, dass die gesamte Männerwelt ihr verfallen ist.
Schon gar nicht hätte eine Interpretin wie Patricia Petibon das nötig, die in Genf ihr Debüt gab und sich damit auf die Salzburger Festspielproduktion dieses Jahres vorbereitete.

Lulu gilt in der Opernwelt als eine Schlüsselrolle wie die Isolde - Archetypen, nur von Charismatikern glaubwürdig darstellbar und eminent schwierig zu singen.
Nun ist die Petibon charismatisch genug, sie wäre die ideale Protagonistin für eine feinfühlig-psychologische Personenführung. Doch Oliver Py arbeitet mit dem Holzhammer. Abgesehen von einigen Ungereimtheiten (das von Berg sogar mit einem "Leitmotiv" versehene Lulu-Gemälde fehlt, weil der Maler Fotograf ist) oder bewussten Verdrehungen (Doktor Schön apostrophiert die Titelheldin und nicht die lesbische Gräfin Geschwitz im Angesicht des Todes als "den Teufel"), lässt er im allgemeinen Tohuwabohu aber immerhin auch die Figuren der "Lulu"-Handlung sichtbar werden.

Koloraturen, punktgenau serviert

Was in oder hinter diesen Figuren steckt, müssen sensiblere Zuschauer allerdings "erhören". Im Falle der Petibon kann das sogar gelingen. Denn die ist nicht nur eine Schauspielerin von Rang, sondern kann die gefürchtete Partie auch wirklich singen. Neben den aberwitzigen Koloraturfeuerwerken, die Berg seine Titelheldin abbrennen lässt - und die von Petibon punktgenau serviert werden -, brilliert, fasziniert und bewegt sie auch mit ihrer Kunst, die lyrischen und dramatischen Aspekte der Rolle klangschön und mit differenzierter Farbgebung zu gestalten.
Das ist eine Meisterleistung, die allerdings wenig Respons auf der Bühne oder im Orchestergraben findet.

Vor allem die beiden wichtigsten Gegenspieler Lulus, Doktor Schön und dessen Sohn Alwa, bleiben eindimensional (Pavlo Hunka) oder schlicht überfordert (Gerhard Siegel). Die Kunst, Bergs Zwölftonlinien als melodische Bögen hörbar werden zu lassen, geht auch dem Orchestre de la Suisse romande ab, dessen Geigen selbst im leidenschaftlichen Furor erotischer Aufladung stumpf und brüchig klingen.

Dirigent Marc Albrecht, der nach der Absage Nikolaus Harnoncourts "Lulu" auch in Salzburg dirigieren soll, achtet zwar auf dynamische Zurücknahme, wo es gilt, die Sänger "leben zu lassen". Manches heikle Ensemble wirkt tatsächlich sauber geprobt. Doch von der Sinnlichkeit, der schillernden Farbgebung von Bergs Instrumentationskunst ist nichts zu spüren. Dieser eklatante Mangel tötet im Verein mit der optischen Überfrachtung das Stück. Was da zu erleben ist, sind Anklänge an ein Meisterwerk, nicht dieses selbst.

Daran ändert wenig, dass manche Darsteller auch stimmlich den Anforderungen der Partitur gerecht werden könnten, allen voran die nur in der Höhe etwas forcierende Geschwitz von Julia Juno, die sogar die heikle Kunst des Bergschen Melodrams mit seiner schwer realisierbaren Mixtur aus Sprache und Gesang beherrscht, der exzellente, wortdeutliche Robert Wörle (in mehreren Rollen) oder Hartmut Welker als perfekter Schigolch - verständlich Wort für Wort und präsent auch im kühnsten szenischen Wirrsal.

Wird "Lulu" in Salzburg stattfinden?

Spannend bleibt abzuwarten, ob die Beschäftigung mit den Wiener Philharmonikern zur Sommerzeit wirkliche gestalterische Qualitäten Marc Albrechts mobilisieren wird können. Noch spannender, ob die Festspielaufführung überhaupt stattfinden kann. Dem Vernehmen nach will man in Salzburg das Paris-Bild mit seinen schwer zu konzertierenden Ensembles eliminieren und von der Cerha-Fassung nur das letzte Bild in der Londoner Dachkammer aufführen, eine dramaturgisch fragwürdige Variante, gegen die sich der Verlag bis dato stets gesträubt hat. Ob man für Salzburg einen Präzedenzfall zulassen wird?

↑DA CAPO