Earl Wild

Er war Franz Liszts wahrer "Urenkel"

Nachruf, 27. Jänner 2010
Der Name Earl Wild sagt österreichischen Musikfreunden in der Regel wenig bis gar nichts. In den Archiven des Musikverein und des Konzerthauses in Wien findet er sich nicht. Und doch: Die Todesmeldung, die am Montag von den Agenturen in knappen Worten verbreitet wurde, galt einem der bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts. Man wusste das nicht nur in seiner amerikanischen Heimat, sondern fast überall in der Welt, bis hin zu Tokio und sogar Peking, wo Wild zu Zeiten, als das noch keineswegs selbstverständlich war, bereits Meisterkurse abgehalten hat.

Nur in Wien hat er offenbar nie gespielt. Ich hörte seinen Namen das erste Mal aus dem Munde von Hans Kann, ausgesprochen mit einem für diesen Meister der Ironie und den Zynismus fast singulär ehrfürchtigen Tonfall. Der legendäre Wiener Sammler Robert Purkyt, der kaum eine Klavieraufnahme nicht kannte, wusste damals sogleich Rat und nannte Dutzende Referenzeinspielungen.

Tatsächlich gab es wenige Interpreten nach 1945, die Wilds Repertoirespannweite beherrschten, geschweige denn die Tugenden des großen, romantischen, auf Liszt fußenden Klavierstils. Wild hat sie kennengelernt bei den Liszt-Enkelschülern Egon Petri und Selma Janson, die den Teenager in die Klavierklasse in seiner Heimatstadt Pittsburgh aufnahm. So war ihm die Klangsinnlichkeit und die Kunst der transparenten Linienführung bei gleichzeitiger Eloquenz und Agilität der Fingerfertigkeit von Anbeginn ein Anliegen - das Gegenteil jener Tastendonnerei, in die Aufführungen des von Oktavenkaskaden verbrämten spätromantischen Repertoires in aller Regel heute ausarten. Wild behielt die Lockerheit und Leichtigkeit im Spiel bis ins hohe Alter, wie jener Livestream des b-Moll-Konzertes bewies, mit dem er 1997 die Klassik ins Internetzeitalter holte. Ein Pionier war er schon gewesen, als er 1939 als "Hauspianist der NBC" den Liveklavierabend gab, der je von einem TV-Sender übertragen wurde. Wie er der Erste war, der (1942) die Orchesterfassung von Gershwins "Rhapsody in Blue" musizierte - mit Arturo Toscanini am Dirigentenpult.

Eine Unmenge von Schallplatten dokumentiert Wilds subtil differenziertes Spiel. Unter den Fingern des bärenstarken, doch so feinsinnigen Interpreten klang selbst Liszts "Rigoletto"-Paraphrase wie ein dezentes Kompliment des Grandseigneurs des Klaviers für den der Oper - "He is awfully good", schwärmte der gestrenge New Yorker Kritikerpapst Harold Schonberg, als das Album "Liszt, The Transcriber" erschien - das war 1985! Noch mit fast 70 beherrschte dieser Künstler sein Metier mit hexenmeisterischer Sicherheit. Wild starb in Palm Springs im 95. Lebensjahr.


↑DA CAPO