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Rudolf Serkin

(1903 - 1991)

Über mich muß man nicht schreiben,
meinte Rudolf Serkin einmal, als man ihn nach seinen Memoiren fragte.
Das einzige, was ich je gemacht habe, war: üben, üben, üben.
Seinen Beruf hat er ernst genommen, schon als er noch im kindlichen Alter über das Klavierspielen nachdachte:
Musik verschönert das Leben
Ihre Theorie ist wichtig
Drum greife nie daneben
Und spiele immer richtig
So dichtete der kleine Rudolf, der dem Musikleben seiner südböhmischen Heimatstadt Eger rasch über den Kopf wuchs. Er war acht, als er zusätzlich zum Klavierstudium auch Theoriestunden bekam. Mit neun spielte er ein Konzert im nahen Pilsen - und der Zufall wollte es, daß der große Alfred Grünfeld, Lieblingspianist der Wiener Gesellschaft der Ära des Fin de siècle - zugegen war. Er reagiert sofort und vermittelte das eminente Talent an jenen Mann, den er in Wien für den fähigsten Klavierprofessor hielt: den Bruckner- und Epstein-Schüler Richard Robert (1861 - 1924). Zwar war Theodor Leschetitzky, der Liszt-Schüler, damals Wiens prominentester Klavierpädagoge, doch galt Robert als mindestens so einfühlsam - und Serkin konnte damit zwar nicht wie alle Leschetitzky-Schüler seinen pianistischen Stammbaum über Liszt und Czerny bis zu Beethoven zurückführen, konnte aber dem entgegenhalten, daß Richard Robert bei Franz Krenn ausgebildet worden war - und dessen Wurzeln gingen über Ignaz Seyfried bis Mozart zurück...
Mag man es als Zufall werten, daß Robert mit Clara Haskil die vielleicht feinsinnigste aller Mozart-Interpretinnen ausgebildet hat?

Nöte in Wien

Die ersten Wiener Jahre waren für den kleinen Rudolf aus Eger freilich schrecklich. Robert hatte eine jüdische Gastfamilie ausgewählt, bei der er sich nicht wohlfühlte. Die Tochter des Hauses bekam selbst Klavierunterricht und okkopierte den Flügel für ihre eigenen Etüden. Und wenn die Dame des Hauses Kopfschmerzen hatte, durfte der Gast nicht Klavier spielen. Serkin bekam ernsthafte gesundheitliche Schwierigkeiten.

Mit Ausbruch des Krieges, 1914, übersiedelte die Familie - nachdem die Geschäfte des Vaters in einem Bankrott geendet hatten - aus Eger nach Wien. Da hatte Rudolf bereits beschlossen, die Stunden bei Richard Robert würden nicht mehr ausreichen, ihn weiterzubilden.

Aber der Krieg brachte Hunger, Elend, entzweite die Familie. 1922 starb der Vater, desillusioniert und entkräftet mit 62 Jahren.

Debüt mit Mendelssohn

Die Pianistenkarriere Rudolf Serkins hatte in Wien begonnen, als er noch keine 13 Jahre alt war. Der Vater hatte sich geweigert, das »Wunderkind Rudi« zu vermarkten. Doch die Wiener Solo-Auftritte sicherten dem jungen Mann erste Beachtung und durchwegs exzellente Rezensionen. In einem gemischten Programm im großen Musikvereinssaal durfte er Mendelssohns Klavierkonzert in g-Moll spielen, nicht ein Standardwerk des Repertoires, aber ein Werk, das Serkin für den Rest seines Künstlerlebens begleiten sollte - und anhand dessen Virtuosität wie musikalischer Geschmack sich trefflich unter Beweis stellen lassen.

Bald folgten weitere Engagements - unter anderem für Beethovens Drittes Klavierkonzert unter Franz Schalk und Mozarts c-Moll-Konzert und das Grieg-Konzert, wobei es für die letztgenannten Werke zur ersten Zusammenarbeit mit dem damals ebenfalls blutjungen George Szell kam, der wie Serkin ein Student Richard Roberts war und später legendäre Schallplattenaufnahmen mit Serkin machen sollte.

Eugenie Schwarzwald

Serkins prägende Begegnung war die mit der Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald, die das musikalische Talent mit einigen der führenden jungen Köpfe seiner Generation zusammenführte. Serkin lernte durch Schwarzwald Persönlichkeiten wie den nachmals berühmten Philosophen Karl Popper, den Physiker Victor Weisskopf, den Maler Oskar Kokoschka oder den Architekten Adolf Loos kennen.
Bedeutsam im musikalischen Myzel jener Jahre war denn auch nicht nur das Kompositionsstudium beim Spätromantiker Joseph Marx, sondern die durch Schwarzwalds Kontakte geförderten Verbindungen zur künstlerischen Moderne um Arnold Schönberg, die das analytische Gewissen des Interpreten nachhaltig prägte.

Arnold Schönberg

Serkin war 15 als Adolf Loos ihn dem Führer der musikalischen Avantgarde vorstellte. Der hatte bereits vom engagierten Einsatz des jungen Pianisten für die musikalische Bildung der Arbeiter-Schicht Wiens erfahren. Als Serkins Klavierlehrer Richard Robert erfuhr, daß sein Zögling sich entschlossen hatte, Stunden bei Schönberg, dem Revoluzzer, zu nehmen, brach er angeblich in Tränen aus.

Später in seiner Karriere korrigierte Serkin einmal den Geiger Isaac Stern, der im Zuge einer öffentlichen Diskussion meinte, der wichtigste musikalische Einfluß für den Pianisten sei wohl der große Geiger Adolf Busch gewesen, dessen Tochter Serkin heiratete. Serkin meinte daraufhin, Busch hätte ihn zwar auch geprägt, aber der wesentliche Einfluß sei doch von Schönberg gekommen.

Entwaffnend war zeitlebens die Ehrlichkeit dieses Künstlers. Auch Schönberg war verblüfft, als ihm der junge Pianist, der von seinem Unterricht so begeistert war, nach einigen Auftritten in Schönbergs »Verein für musikalische Privataufführungen« gestand, mit seiner Musik wenig anfangen zu können. Der Komponist hat Serkin das sein Leben lang nicht verziehen. Der Sohn des Pianisten, Peter Serkin, erinnerte sich später, daß sein Vater in späten Jahren sogar Schönbergs Klavierkonzert in sein Repertoire aufnehmen wollte, um den Bruch zu kitten - was beides nicht gelang...

Dabei war dem jungen Serkin im Rahmen der Schönbergschen Privat-Aufführungen, bei denen Applaus wie Mißfallenskundg1ebungen gleichermaßen verboten waren, ein Coup gelungen: Nach seiner Aufführung von Schönbergs Klavierstücken op. 11 erhob sich das Publikum zum Zeichen der Zustimmung eines Sinnes von seinen Sitzplätzen.

Adolf Busch

Den analytischen Blick auf die zu interpretierenden Partituren hat Serkin nicht nur bei Schönberg g1elernt, sondern - da hatte Isaac Stern ganz recht - auch durch seine Zusammenarbeit mit seinem geigenden Schwiegervater Adolf Busch. Wobei die Mitwirkung an kammermusikalischen Aufführungen und Aufnahmenmit dem Busch-Quartett, vor allem aber die legendäre Sonaten-Partnerschaft der beiden Musiker zunächst von Buschs Popularität profitierte: Der Pianist übernahm viel von Buschs strenger interpretatorischer Geisteshaltung und wurde anerkanntermaßen zum gleichberechtigten Partner.

Im amerikanischen Exil

Daß an ein Bleiben in Europa nicht zu denken war, erfuhren die Musik bald: Adolf Buschs Bruder, der Dirigent Fritz Busch, wurde von seinem Posten als musikalischer Leiter der Dresdner Semperoper regelrecht verjagt. Und Serkin pfiffen die Nationalsozialisten bei einem Konzert in Düsseldorf, 1933, kräftig aus.

Im amerikanischen Exil gelang es Adolf Busch jedoch nicht, an frühere Erfolge anzuschließen. Zwar spielte man mit Bruder Hermann Busch und Serkin Trio, aber nach zähem Beginn hieß es dann irgendwann: Serkin - der bald am Curtis Institute unterrichtete - spielt mit einem Geiger...

Die breiteste amerikanische Hörerschaft erreichte Serkin durch Liveübertragungen von Auftritten mit dem NBC Orchester unter Arturo Toscanini. Sein erster US-weiter Radioauftritt fand in dieser Konstellation bereits 1936 dtatt. 1944 entstand auf diese Weise eine der eloquentesten, feinnervigsten Aufnahmen von Beethovens Viertem Klavierkonzert.


1947 bezeichnete einer der führenden Agenten New Yorks den Pianisten
a box office attraction to equel the most successful.
Die Gesetze des amerikanischen Musik-Markts lernten die Emigranten bald kennen. Als Serkin eines Tages einen kammermusikalischen Abend mit dem Busch-Quartett veranstalten wollte, erklärte ihm sein Manager klipp und klar: »Das Busch-Quartett verkauft schlecht«

Tief blicken ließ die Annonce für eine von der Klavierfirma Steinway gesponserte Radio-Sendung:
Setzen Sie sich in ihren Lehnstuhl, lehnen Sie sich zurück uns stellen sich vor, Sie seien der Herzog und Rudolf Serkin und das Busch Quartett spielen in Ihrem Salon für Sie. So ist es jetzt tatsächlich.
Bedenkt man, daß der junge Serkin Adolf Buschs Herz gewonnen hatte, weil er bei der Erstbegegnung auf die Frage, ob er etwas von Chopin zum besten geben wolle, entgegnet hatte: »Ich würde lieber Bach spielen«, kann man ermessen, wie sich die europäischen Musiker fühlten, wenn ihnen von Veranstalterseite beschieden wurde, statt der langen Goldbergvariationen doch lieber ein bunteres Programm unterschiedlicher Stücke zu spielen, um dem »gemischten Publikum« doch ein wenig Abwechslung zu bieten.

Repertoire-Vorlieben

Von den Schönbergschen Programm-Ideen und denen der Busch-Familie blieb Serkin bis zuletzt eine Vorliebe für die vom Publikum in der Regel wenig geliebte Musik Max Regers. Mit Eugene Ormandy hat Serkin Ende der Fünfzigerjahre die Referenz-Aufnahme von Regers Klavierkonzert vorgelegt, um 1984 noch die Bach-Variationen maßstabsetzend einzuspielen. Reger stand auch bei den ersten wichtigen Konzerten in den USA wiederholt auf Serkins Solo-Programmen, wobei ihn die Kritik zunächst dafür lobte, dann aber im Fall der Telemann-Variationen Bedenken an Werk und Wiedergabe anmeldete. Serkin hat dieses Werk nie wieder angerührt...

Seine Liebe zur Kammermusik bescherte der Musikwelt nach 1945 dann Auftritte Serkins bei den von Pablo Casals veranstalteten Festivals jenseits dessen von Franco regierten Heimat Spanien - und ab 1950 bei dem mit Adolf Busch ins Leben gerufenen Festival von Marlboro. Dabei entstanden grandiose Schallplattenaufnahmen, etwa die Cellosonaten Beethovens, die wie manche Serkin-Platte mit Ensembles wie dem Budapester Streichquartett zu den Allzeit-Klassikern in gut bestückten Diskotheken gehören. Die Aufnahme von Beethovens Tripelkonzert mit Jaime Laredo und Leslie Parnas unter Alexander Schneiders Leitung gehört in ihrer Natürlichkeit zu den besten Klassiker-Einspielungen der Geschichte.

Liebe zur Kammermusik

Die Liebe zur Kammermusik ist Serkin im Laufe seines Lebens übrigens teuer zu stehen gekommen: Der Kritiker Charles Rosen bemerkte einmal mit Blick auf die deutlich geringeren Gagen, die ein Pianist für seine Mitwirkung bei einem Kammermusik-Abend verlangen konnte:
Er hat viel Geld verloren, weil er so gern Kammermusik gemacht hat. Das aber macht den Musiker erst zum wahren Künstler.
Die menschliche Größe Serkins, der seine frühen Nöte und seine Herkunft nie vergessen hat, spiegelte sich in seinem Ruf als großzügiger Unterstützer Notleidender, vor allem von Flüchtlingen. Sein künstlerisches Ethos verrät eine Passage aus einem Brief an seine Schwester während des Vietnam-Krieges:
Wir Musiker sind doch die einzigen Botschafter für Frieden und gegenseitiges Verständnis...

↑DA CAPO