Walter Gieseking
1895 - 1956
Er war einer der feinsinnigsten Pianisten seiner Generation, ein Meister der subtilsten Anschlagsnuancen, der als Debussy- und Ravel-Spezialist galt, aber auch Mozart mit Geschmack und Stilgefühl interpretierte und die himmelhochjauchzenden Momente der Musik der deutschen Romantik, allen voran jener Robert Schumanns, mit der rechten - und raren - Mischung aus technischer Brillanz und emotioneller Hingabe gestalten konnte. Seine Aufnahme der C-Dur-Fantasie aus dem Jahr 1928 gehört zu den seelenvollsten Schumann-Aufnahmen, die je gemacht wurden. Die selten gespielte fis-Moll-Sonate hat in ihm einen Anwalt gefunden, dessen Zeugnis schwerer wiegt als beinah jeder Konkurrenzversuch - Emil Gilels und Annie Fischer mit ihrem Livemitschnitt von 1978 vielleicht ausgenommen.Für HMV/EMI entstanden Aufnahmen von Werken Bachs, Mozarts, Beethovens, Schumanns und der Impressionisten, darunter auch Aufnahmen von Klavierkonzerten Mozarts, Beethovens, das Schumann- und das Grieg-Konzert unter Herbert von Karajan. Wobei Gieseking auch angesichts vertracktester Herausforderungen wie jenen, die Ravel in seinem Gaspard de la nuit an seinen Interpreten stellt, souveräner Techniker bleibt.
Ein leider nicht nur interpretations- und aufnahmehistorisch bemerkenswertes Tondokument ist der frühe → Stereo-Test des deutschen Reichsrundfunks von 1944, in dem Gieseking unter der Leitung von Arthur Rother Beeethovens Fünftes Klavierkonzert musiziert - im ersten Satz kann man buchstäblich die deutsche Fliegerabwehr schießen hören . . .
Daß sich dieses Dokument erhalten hat, ist ein doppelter Zynismus der Geschichte. Die Interpretation ist großartig - abgesehen davon kann sie als Menetekel gelten: Einige der bedeutendsten Pianisten seiner Zeit, voran Horowitz und Rubinstein, haben Gieseking als einen überzeugten Parteigänger der Nationalsozialisten geschildert. Wie viele ähnlich gelagerte Fälle, wurde auch jener Giesekings nach Ende des Zweiten Weltkriegs relativ rasch zu den Akten gelegt: 1947 durfte der Künstler wieder auftreten und seine internationale Karriere fortsetzen. Allerdings dauerte es nach anhaltenden Protesten bis 1953, daß Gieseking wieder in der New Yorker Carnegie Hall auftreten konnte, dann allerdings umjubelt wie nie zuvor . . .
Eine ungemein rasche Auffassungsgabe, verbunden mit einem absoluten Gehör hat es dem Pianisten ermöglicht, sein Repertoire auch auf selten Gespielte Werke der neueren und neuesten Literatur auszudehnen. Hans Pfitzner fand in ihm einen exzellenten Solisten für die Uraufführung seines klangmächtigen Klavierkonzertes (1922), der auch die Poesie der Musik zum Klingen brachte und das rare Stück 1943 in Hamburg unter Albert Bittner auch aufnahm.
Am anderen Ende der Repertoire-Skala stand Bachs Klaviermusik, die Gieseking nach Meinung eines Kenners wie Ralph Kirkpatrick auf ungeheuer moderne, transparente, durchsichtige Weise interpretierte und damit zu einem Vorfahren der jüngeren Interpretengeneration wurde.