Alfred CORTOT
1877 - 1962
1877 geboren in Nyon 1896 Premier Prix am Pariser Konservatorium (als Klavierstudent von Emile Decombes mit Chopins Ballade Nr. 4) 1897 Debüt bei den Concerts Colonne (mit Beethovens Drittem Klavierkonzert) 1898 Chorleiter und Dirigiert-Assistent von Felix Mottl und hans Richter bei den Bayreuther Festspielen 1902 Leitet die ersten Pariser Aufführung der Gtterdammerung und Gründung der Societe des Festivals Lyriques 1904 - 1908 Dirigent der Societe Nationale de Musique 1905 Gründung des bald legendären Trios Cortot-Thibaud-Casals 1907 Professur am Konservatorium von Paris 1919 Gründung der Ecole Normale de Musique 1928 Erste Buchveröffentlichung: »Beobachtungen zur Klaviertechnik« 1930 Band I von drei Bänden über die französischen Klaviermusik der Gegenwart 1940 Cortot steht dank seiner Liebe zur deutschen Kultur in der Gunst der deutschen Besatzer. Er gibt auch regelmäßige Konzerte in Hitler-Deutschland. 1944 Cortot wird nach der Befreitung seiner Heimat zur Persona non grata 1947 Cortot tourt wieder duch Europa, Südamerika und Japan 1958 Rückzug aus der Öffentlichkeit. Am 15. Juni 1962 stirbt Alfred Cortot in Lausanne
Es gibt vielleicht nicht allzuviele berühmte Pianisten, von denen ebenso viele »falsche Noten« dokumentiert sind wie diesen. Es ist ein Leichtes, diesen Pianisten als höchst fehlbar zu entlarven und ihm präzisere Kollegen entgegenzuhalten.
Allein: Trotz alledem war Alfred Cortot einer der großen Interpreten des XX. Jahrhunderts - und das nicht nur, wenn er gerade nicht danebengriff. Abgesehen davon, daß es genügend Dokumente seiner Meisterschaft gibt, die auch strengen Prüfungskriterien standhalten: Cortot war ein Hexenmeister in Sachen Klanggebung und intuitiver formaler Balance. Tatsache war, daß dieser Künstler lieber Risken einging, als »auf Sicht und Sicherheit« zu spielen. Der richtige Klang, die Erhellung des strukturellen Zusammenhangs ging ihm über die vordergründige Präzision.
Eine seiner Schülerinnen berichtete beschämt von ihrem Entsetzen, als sie aufgefordert wurde, während einer Lehrstunde in Cortots Villa - mit Blick über Lausanne - auf einem alten, scheinbar völlig unbrauchbar gewordenen Pleyel-Flügel ihre Kunstfertigkeiten zu demonstrieren. Cortot schubste sie nach jämmerlichen Versuchen zur Seite und entlockte dem Instrument die subtilsten Klangnuancen . . .
Was den Lehrer Cortot betrifft: Er reagierte auf das Talent seiner Studenten etwa so instinktiv wie auf die Eigenheiten und Besonderheiten der Musikstücke, die er zu interpretieren hatte. Zu seinen Schülern zählen so unterschiediche Pianisten wie Dinu Lipatti, Vlado Perlemuter, Samson Francois oder Yvonne Lefebvre.
Unter diesem Gesichtspunkt sind Cortots oft belächelte programmatische Anmerkungen zu verstehen, die seine Kollegen und manche Kritiker ger spöttisch kommentiert und paraphrasiert haben: Für ihn und seine aufmerksamen Hörer hatten die poetischen Assoziationen ihren Sinn. Zumal Cortots Spiel in der Rückblende stets nicht nur poetisch, sondern analytisch wirkt und durchwegs die größeren Zusammenhänge im Werkganzen im Auge behält.
Dazu kam, wenn der Ehrgeiz ihn packte, eine gehörige Portion von elaborierter Virtuosität. Wüßte man nicht, wie wenig Manipulation in jenen Tagen möglich war, man hielte es für unglaublich, daß ein Pianist Camille Saint-Saens Walzer-Etüde in einem Zug so spielen könnte wie Cortot das Anfang der Dreißigerjahre tat.
Aus diesem Grund zählen auch seine Aufnahmen der Chopin-Etüden bis heute zu den unabdingbaren Bestandteilen einer gut sortierten Diskothek. Sie lassen hören, daß nur ein Interpret, der hier bereit ist, das volle Risiko einzugehen, zu künstlerisch wirklich überzeugenden Ergebnissen kommen kann. Für die übrigen Chopin-Aufnahmen gilt das nicht minder, nur daß die Aufmerksamkeit der Höhrer jenseits der Etüden-Sammlungen ohnehin von vornherein nicht allzusehr auf technische Details gerichtet ist und ein legendär »singender« Ton sich quasi ohne Hintergedanken entfalten konnte. Daß er alle diese Qualitäten zu großen Gedanken bündeln konnte, beweist die Aufnahme der einsätzigen, einen halbstündigen ununterbrochenen Bogen bildenden Liszt-Sonate von 1920 - allen aufnahmetechnischen Mißhelligkeiten zum Trotz bis heute ein Meilenstein der Interpretationsgeschichte. (HMV/Pearl)