Charles Alkan
1813 - 1888
Einer der jüngsten Zöglinge des Pariser Conservatoire, das er ab seinem sechsten Lebensjahr besuchte, absolvierte Alkan seine Prüfungin Solfeggio bereits mit sieben und erhielt als Zehnjähriger den ersten Preis im Fach Klavier. Befreundet mit Chopin und Liszt, konnte Alkan offenkundig alle Konkurrenten übertrumpfen: Liszt bezeichnete ihn als jenen Pianisten, der über die makelloseste Technik gebot.
Entsprechend hoch hinaus wollte Alkan auch als Komponist für sein Instrument. Seit seinem 15. Lebensjahr verfaßte er zahlreiche Solowerke, die oft haarsträubend schwierig sind und formal wie harmonisch oft in bizarre Regionen vordringen. Seine beiden Serien von Etüden teilte er in jeweils 12 Werke in allen Dur (op. 35, 1848) beziehungsweise allen Moll-Tonarten (op. 39). Die Moll-Reihe enthält als Werk im Werk jeweils eine viersätzige Symphonie für Klavier solo und ein dreisätziges Konzert für Klavier solo, das länger dauert als Beethovens längste, die Hammerklavier-Sonate. Allein der erste Satz - die Etüde Nr. 8 der Sammlung, nimmt beinah eine halbe Stunde in Anspruch. Zeitweilig berühmt-berüchtigt wurde die Etüde Nr. 12, eine Folge von Variationen namens Le festine d'Esope, wobei jede Variation eine bestimmte Tierart charakterisiert.
Originell ist auch Alkans 1848 publizierte Sonate Die vier lebensalter (op. 33), die - wohl einzigartig in der Musikgeschichte - mit dem Scherzo beginnt und deren Satzbezeichnungen für die folgenden drei Sätze stetig langsamere Tempi vorschreiben.
Singulär auch die Reihe der drei Etüden op. 76. Die erste ist vielleicht die früheste Etüde für die linke Hand allein, die zweite gilt - noch rarer - der rechten Hand. Und die Nr. 3 ist ein Presto unisono moto perpetuo, komponiert ein Jahr vor dem Finale von Chopins b-Moll-Klaviersonate, das auf Grund dieser formalen Besonderheit berühmt werden sollte.
Aber nicht nur formal war Alkan erfinderisch. Die Musikwissenschaft fand in seinen Werken sogar Vorläuferstücke zu so radikalen Klavierkompositionen der Moderne wie Béla Bartóks Allegro barbaro.
Alkan selbst spielte in seinen Konzerten nicht unbedingt vorrangig eigene Musik. Er programmierte auch Werke seiner Zeitgenossen Mendelssohn oder Chopin, widmete sich dem Spätwerk Beethovens und musizierte auch Mozart oder sogar Bach!
Er war in seinen frühen Vierzigern als er - vom Temperament her eher misanthropisch veranlagt - die Konzertbühne für fast zwei Jahrzehnte verließ. Erst mit 60 trat er wieder auf und lud jede Spielzeit zu sechs kleinen Konzerten, wie er sie nannte.
Es liegt nicht unbedingt an ihnhaltlichen Schwächen, daß Alkans Musik fast vergessen ist. Die Hauptwerke dieses Komponisten sind wegen ihrer eminenten technischen Schwierigkeiten ausschließlich pianistischen »Extremsportlern« zugänglich. Noch Meisterpianisten wie Hans von Bülow, Eugen d'Albert oder Harold Bauer haben sie gespielt. Doch in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts wagten sich nur wenige Interpreten daran.
Der besonders neugierige Repertoire-Forscher Marc André Hamelin ist unter ihnen. Er hat die umfangreichsten Solo-Werke Alkans für CD eingespielt (hyperion). So hat er das Konzert für Klavier solo mit dem originellen
Troisième recueil de chants op. 65 gekoppelt. Außerdem die Symphonie für Solo-Klavier und die Grand Symphonie »Les quatre ages«, gekoppelt mit Le festin d'Ésope.
Das Label Toccata erschließt ganze Werkreihen Alkans: Stephanie McCallum nimmt den Zyklus der Recueils de chants auf, José Raúl Lopéz begann die Reihe der Transkriptionen mit einer Mozart-CD, die unter anderem Alkans Solo-Arrangement des d-Moll-Klavierkonzerts KV 466 entält.
Der Bibel-Übersetzer
Als gläubiger Jude - sein Vater war Direktor einer Schule im jüdischen Viertel Marais in Paris - widmete der vielseitige Künstler, der auch fließend Altgriechisch und Hebräisch sprach, Jahre einer neuen Übersetzung der Bibel ins Französische. Die gern erzählte Geschichte, daß Alkan zu Tode kam, weil ein Bücherregal über ihm einstürzte, von dem er gerade aus der obersten Reihe eine Ausgabe des Talmud holen wollte, scheint eine gute Erfindung, aber doch eine Erfindung zu sein.