»Obertöne« heißt Gidon Kremers neues Buch, das rechtzeitig
vor dem 50. Geburtstag des geigenden Autors, erschien. Obertöne ist das, was
mitschwingt, wenn ein musikalischer Ton angestimmt wird, das, was die
Klangfarbe und Eigenart dieses Tons prägt, was also recht eigentlich die Musik
ausmacht. Obertöne, das ist im übertragenen Sinne dann wohl auch alles, was im
Sinne des alten Spruchs »zwischen den Zeilen« steht.
Kremer hat ein Buch
geschrieben, das sozusagen das Zwischenzeilige in Form bringt. In die ihm adäquate
Form: kurz, aphoristisch, nur manchmal ein wenig weiter ausgreifend, dann
gleich wieder zurückgenommen. Feingliedrige Aperçus zur Musik, zum Leben, zum
Allzumenschlichen, zu allem, was das Dasein nicht notwendig ausmacht, was aber
mit diesem mitschwingt und ihm Farbe, Seele, Charakter gibt.
Über das Künstlerleben –
dasjenige der sogenannten „reproduzierenden” Meister, der Interpreten also –
ist viel geschrieben worden. Denn die Interpreten sind die Ikonen unseres
Kulturbetriebs geworden, wichtiger als die schöpferischen Geister, zu denen
nicht Legionen von Verehrern aufblicken wie zu den Stars im Rampenlicht.
Kremer ist einer von den
Angebeteten. Das ist kein leichtes Los. Man spürt das überdeutlich angesichts
dieser schlichten Aufzeichnungen, die von den banalsten Dingen des
Musikerreisens von Hotelzimmer zu Hotelzimmer, von Konzerthalle zu Konzerthalle
handeln. In welcher Stadt man aufwacht, wie man geschlafen hat, wie man mit den
ständigen Unbilden großer, kleiner und ganz kleiner Herbergen fertig wird, mit
den Launen der Dirigenten, den Problemen der Partner, einem im Stau steckenden
Taxi, das den Violinisten vor dem Künstlereingang absetzt, während das
Orchester schon die Ouvertüre spielt.
»Obertöne« – die zarte,
poetische Autobiographie des Gidon Kremer, der sich daran erinnert, wie er sich
mit einem armseligen Auftritt im Rahmen einer Begräbnisfeierlichkeit seine
erste Gage verdient hat; und sein erstes Scheitern erleben mußte, ein
Scheitern, das nur er selbst bemerkt hat, bat man ihn doch, den langsamen Satz
aus Beethovens Siebenter zu spielen: Wie ließe sich der eintönige Rhythmus auf
einer Geige realisieren?
In solchen Miniaturerzählungen
schwingen für Musikfreunde die liebenswertesten Details mit. Die Teiltöne
dessen, was Kremer bunt vor uns ausbreiten möchte. Wo Sensationslust vor
Erlebnisfähigkeit rangiert, wächst die Verzweiflung, die Einsamkeit des
empfindlichen Musikanten. Die Alte Welt, die Neue Welt, der Westen, der Osten –
vieles schwirrt dem Künstler im Kopf herum und verwirrt ihm den Sinn. Die Magie
der Kunst, die in entscheidenden Momenten ihre ganze Faszination entfaltet, tut
es auf ihre Weise. Kremers Buchseiten lesen sich wie kleine Zettelchen aus der
Welt zwischen Tag und Traum. Ein Grenzgänger formuliert die Visionen des
Schlafwandlers, der wohl auch weiß, daß es gefährlich ist, aus der Trance zu
erwachen. Das bringt den Absturz mit sich.
Aber aus der Besinnungslosigkeit,
der Betäubung des wachen Geistes durch den unerbittlichen Alltag des
weltreisenden Musikers dringen grelle Schlaglichter, die zumindest kleine
Flecken der Landkarte erhellen und klären, was trübe scheint. Und wäre es auch
nur die Erkenntnis, daß die abendliche Hörstörung durch ein kleines Bröckerl
Ohropax verschuldet ist, das sich ins Ohr verkrochen hat und die
Orchesterbegleitung des Beethoven- Violinkonzertes für den Solisten in
schemenhaftes Gedröhn verwandelt. Der Profi findet auch hier die rechten Obertöne.
Das Publikum jubelt. Nichtsahnend.
Gidon Kremer musizierte im zweiten Abonnementkonzert der Wiener Philharmoniker - ein Luxus, den sich das Orchester allzu selten gönnt. Denn die Zusammenarbeit mit großen Solisten kann gerade bei einem Klangkörper wie diesem, der im Aufeinanderhören und -reagieren seinesgleichen nicht hat, zu den allerschönsten Ergebnissen führen. Zumal dann, wenn mit Riccardo Muti ein Dirigent zur Verfügung steht, der als Belcanto-Begleiter von Rang den rechten Ton auch für ein Paganini-Konzert findet.
Paganinis Viertes
Keines der Violinkonzerte dieses ersten aller Virtuosen habe ich bisher als so schön, so amüsant, so lebendig empfunden wie das diesmal gespielte Vierte. Wahrscheinlich liegt das daran, daß ich keines bisher von Kremer gegeigt, von Muti dirigiert, von den Philharmonikern musiziert erleben durfte. Kein anderes Gespann wünsche ich mir hinfort als den introvertierten Violinisten und den forschen Maestro.
Denn Kremer spielt die vertracktesten Passagen noch mit Understatement und liefert eine eigens fabrizierte Kadenz im ersten Satz, die ihn verrät: Da musiziert einer, der den Tönen und ihren Erfordernissen einzeln nachzulauschen imstande ist, der Virtuosität sozusagen »nach innen« kehrt.
Das fesselt den Hörer mehr, als wenn einer sich mit der Grandezza des souveränen Jongleurs der unspielbarsten Doppelgriffe entledigt. Und die Dissonanzen, in die Kremers Solo-Kommentar Paganinis nette Melodien auflöst, führen die verträumte Sonntagsmorgentändelei behutsam zurück in die Wirklichkeit.
So läßt sich scheinbar veraltetes Virtuosentum neu beleben - und ein Rahmen für tatsächlich erbauliche Genüsse finden, der zeitgemäß scheint, ohne der Romantik ganz den Garaus zu machen. Denn auch das können Kremer, Muti und die Philharmoniker: eine große Szene, wie sie Paganini im Stirnsatz skizziert, mit Einzugsmarsch und kaprizierter Solo-Szene, so recht theatralisch inszenieren. Selbst unscheinbare Begleitfiguren erfüllt das Orchester mit Verve und Energie.
Schallplatten hat Gidon Kremer vom Anfang seiner Karriere an aufgenommen, auf frühe Einspielungen wie etwa das Brahms-Violinkonzert unter Herbert von Karajan, folgten nicht nur Aufnahmen der großen Repertoire-Konzerte - zum Teil in experimentellen Interpretationen wie jene der Mozart-Konzerte unter Nikolaus Harnoncourt, die des Dirigenten erste Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern darstellen. Kremer bestand stets darauf, auch Musik jener zeitgenössischen Komponisten und Komponistinnen aufzunehmen, für die er sich leidenschaftlich einsetzte. Durch Live-Aufführungen und CDs popularisierte er bereits in Zeiten der zu Ende gehenden kommunistischen Diktatur die hinter dem Eisernen Vorhang geächteten, im Westen aber zunächst kaum bekannten Meister der sogenannten »Postmoderne« von Moisej Weinberg, Alfred Schnittke bis Sofia Gubaidulina und trug nicht wenig zu deren internationaler Durchsetzung bei.
Mit Martha Argerich und Mischa Maisky gab Kremer jahrzehntelang gern Duo- und Trioabende, deren Repertoire in der Regel aufgenommen wurde. So entstanden zahlreiche Einspielungen des einschlägigen Repertoires von Bach, Beethoven und Schumann bis Debussy, Bartók, Janáček , Schostakowitsch, Prokofieff und Messiaen.