Walter Weller
Der Dirigent im Gespräch
Am Abend bin ich nicht zu stoppen
Die Presse - Spectrum, 27. Jänner 1996
London, Mailand, Basel: Walter Weller, Dirigent aus Wien, macht Karriere im Ausland
Ab drei Uhr nachmittags kommt die Kraft", sagt Walter Weller, "das ist wie bei einem Pferd, das rennen will." Bei dem Pensum, das er sich zumutet, hat er solche Energien auch bitter nötig. Demnächst absolviert er sein 1500. Konzert und damit beinahe gleichzeitig seinen insgesamt 4000. Auftritt als Musiker. Seit seinem 13. Lebensjahr stehe er auf der Bühne (oder im Orchestergraben), resümiert er - und es schwingt durchaus ein wenig Stolz in seinen Worten mit. Mit dem eingangs zitierten Satz wehrt er die Frage ab, ob es bei soviel Musik nicht manchmal Phasen der Lustlosigkeit gebe. "So was ist bei mir nur untertags möglich", meint er lachend, "am Abend bin ich nicht zu stoppen."
Jüngst hat er übrigens wieder einmal die Wiener Staatsoper betreten: "Zum ersten Mal seit 20 Jahren - und das nur, weil mir jemand für die Basler Oper vorgesungen hat. Es war schon ein komisches Gefühl, da wieder hineinzugehen. Seit meinem 13. Lebensjahr hab' ich dort als Geiger substituiert. Ich bin in den Orchestergraben gegangen und hab' mich ans Konzertmeisterpult gesetzt, wo ich damals sooft gesessen bin. Was hab' ich da erlebt! Was hab' ich da zwar nicht an Sünden abgebüßt, aber an Nerven gelassen! War schon ein komisches Gefühl, diese Wiederbegegnung."
Geiger, Primarius des eigenen Streichquartetts, Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, unzählige Opernabende unter den berühmtesten Maestri von Karajan bis Böhm - bis man ihn selbst ans Pult ließ. Bevor er aber zum vielbeschäftigten Repertoiredirigenten der Staatsoper wurde, kam es zu einem legendären Einspringen im Wiener Konzerthaus. Dort war ein Philharmonisches mit Beethovens Pastorale und Schuberts großer C-Dur-Symphonie unter Karl Böhm avisiert, ein Sonderkonzert für den Ärztekongreß. Zwei Stunden vor Beginn wird Böhm mit einer Nierenkolik ins Spital eingeliefert. Keine Chance auf einen Auftritt am Abend.
Keine Chance auch, einen Einspringer zu finden, der innerhalb von 120 Minuten ein derartiges Programm zu übernehmen bereit ist. "Da ist", erinnert sich Weller, "Helmut Wobisch, damals Orchestervorstand, zu mir gekommen und hat gemeint: ,Paß auf, i sag' dir was: Du willst doch eh immer dirigieren. Wir geben dir a Chance.' Und ich hab' die Frechheit besessen, mich aufs Podium zu stellen und - Partitur war keine da - das Konzert auswendig zu dirigieren. Na ja, die Stücke hab' ich als Konzertmeister ja gekannt."
Danach hat man ihn "in alles hineingeschmissen", was das Repertoire hergibt, bis hin zur Elektra ohne Probe. Dazu das Weller-Quartett, eines der renommiertesten Streichquartette seiner Zeit, und die Aufgabe im Orchester. Es kam die Zeit, in der sich Weller zu entscheiden hatte. Die Wahl fiel aufs Dirigieren.
"Ich hab' ja als Kind früher Partituren lesen können als Bücher", erinnert er sich. 1969 bot ihm der damalige Opernchef an, den Vertrag "zu tauschen". So wurde er vom Konzert- zum Kapellmeister. Man hat es ihm nach anfänglichem Ruhm nicht wirklich gedankt.
Weller kehrte Wien den Rücken und machte Karriere im Ausland. Unzählige Schallplattenproduktionen mit Orchestern in Israel, England und der Schweiz haben seine Karriere begleitet, die außerhalb Österreichs offenkundig nicht aufzuhalten war. Gesamtaufnahmen des symphonischen Werkes von Beethoven bis Rachmaninow, von Mendelssohn bis Dvorak entstanden.
Als Chefdirigent stand Weller dem Royal Philharmonic Orchestra London ebenso vor wie dem königlichen Orchester in Liverpool und dem Spanischen Nationalorchester. Opern dirigierte er nicht nur in England und Schottland, sondern auch an der Mailänder Scala, wo er 1989 mit dem Fliegenden Holländer debütierte.
Die Verbindung mit Schottland ist besonders innig geblieben. Daß er dort geradezu zum Synonym für den Dirigierberuf wurde, ist leicht zu überprüfen: Die schottische 50-Pfund-Note zeigt einen Mann am Pult eines Orchesters; der Zeichner hat ganz offenkundig eine Photographie Wellers als Vorlage benützt. Somit ziert Wellers Konterfei schon eine Banknote.
Freilich: Wellers künstlerischer Mittelpunkt hat sich längst in die Schweiz verlagert, ist er doch seit dem Vorjahr musikalischer Leiter der Basler Oper. Trotzdem fühlt er sich "als typischer Österreicher": "Ich zahl' auch hier meine Steuern, obwohl ich keinen Groschen hier verdiene. Ich bin heute ein freier Mensch. Um das geht's."
Wenn er heute zurückblickt, dann habe er das Gefühl, er stehe neben sich und beobachte alles. Erinnerungen tauchen auf: "Wie ich mit 13 Schule geschwänzt hab', um zum Philharmoniker-Vorspiel zu gehen; an den unglaublichsten Auftakt, den ein Dirigent geben konnte: den von Knappertsbusch zum ,Rosenkavalier'; an die Aufnahmesitzungen zur ,Walküre' unter Furtwängler, bei denen ich meinen ersten philharmonischen Dienst überhaupt gespielt habe; an den Friedrich Cerha, der mein Musikprofessor in der Schule war."
An der Spitze des Basler Musiklebens muß er die "Mathematikaufgabe" bewältigen, "die Stiftung Basel und die Allgemeine Musikgesellschaft Basel, die sich nie vertragen haben, zusammenzubringen". Und "jede freie Sekunde" mit dem neuen Orchester CDs aufzunehmen. Sein erfolgreicher Einstand im neuen Haus galt immerhin der Frau ohne Schatten von Richard Strauss. Das "spricht sich herum". Wenn auch vielleicht nicht bis Wien . . .