Arturo Toscanini
Der Vulkan am Dirigentenpult, legendär für seine (Wut-)Ausbrüche, wurde zum ersten Maestro des Medienzeitalters.
Die Mißverständnisse spiegeln sich schon in den einleitenden Zeilen dieses Artikels: Der wütende Orchestererzieher, der auf den Proben beinhart seine Wünsche durchzusetzen verstand -- das ist eine höchst oberflächliche Taxierung. Arturo Toscanini war vor allem einmal auch ein Meister der Zartheit und Poesie - und war beileibe nicht immer (wenn auch häufig) der »schnellste Dirigent« von allen: Mindestens so legendär wie die brachialen Erziehungsmethoden dieses Künstlers ist die Tatsache, daß er den bis heute langsamsten Parsifal aller Zeiten im Bayreuther Festspielhaus dirigiert hat!
So einfach kommt man diesem Mann also nicht bei. Daß zumindest die Spätphase seines Wirkens so gut dokumentiert ist, setzt die Nachgeborenen immerhin instand, hörend das Faszinosum Toscanini begreifen zu lernen.
Der kompromißlose Streiter für die Genauigkeit in der Umsetzung des Notentextes - insofern als er dieses Verantwortungsbewußtsein wachgerufen hat, hat Toscanini Schule gemacht - war ebenso ein fanatischer Liebhaber einer gesungenen melodischen Linie. Seinen Musikern hat er lebenslang versucht, die Leidenschaft für das »Cantabile« einzuimpfen. Die Phrasierungs- und Nuancierungskunst der menschlichen Stimme galt ihm auch für die Instrumentalmusik als Vorbild. Und das nicht nur dort, wo vordergründig eine Melodie zu spielen war, sondern zur Belebung des Stimmengeflechts einer Partitur auch in der sogenannten »Begleitung« und nicht zuletzt für den Baß. Das sichert Toscaninis Aufnahmen eine Lebendigkeit und Beredtheit, die sie vor allem auszeichnet. Eine Toscanini-Aufnahme zum Vergleich heranzuziehen, wenn es um Fragen der Interpretation eines Werkes geht, kann nie schaden: Nicht immer, aber häufig kann sie als Korrektiv dienen und die Latte hoch zulegen.
Aufnahmen
Manche dieser Aufnahmen muß man gehört haben, auch wenn man eher anderen Maestri den Vorzug gibt. Wie man Verdis Kantilenen über die Taktstriche hinweg strömen läßt, ihnen Atemluft verschafft, ohne die große dramaturgische Linie einer Szene, ja eines ganzen Akts aus dem Sinn zu verlieren. Seine Interpretationen von Un ballo in maschera, Aida oder La traviata sind hörens- und studierenswert, auch wenn es weitaus besser gesungene Einspielungen gibt.Was Puccini betrifft, darf Toscanini in grundsätzlichen Fragen das letzte Wort beanspruchen, war er doch über Jahre hin der bevorzugte Uraufführungs-Dirigent der Werke dieses Komponisten, mit dem er sich im persönlichen Umgang zu Zeiten allerdings zerstritten hatte.
Über die Jahrzehnte hin immer wieder aufgelegt wurden die Aufnahmezyklen der Beethoven- und Brahms-Symphonien, die Toscanini in seiner amerikanischen Zeit gemacht hat. In Rundfunkübertragungen lernte eine ganze Generation von US-Bürgern diese Musik ausschließlich in Toscaninis Deutungen kennen - und machte sich ein Bild von der sogennanten »klassischen Musik«, eines, das jedenfalls nie langweilig wurde. Auch wenn man anderen Kapellmeistern mehr Sinn etwa für die Musik Mozarts zugestand, auch wenn er vieles ausgespart ließ, was im mitteleuropäischen Musikleben als sakrosankt gilt - etwa beinah vollständig die Symphonik Anton Bruckners.
Auch zur zeitgenössischen Musik hat Toscanini kaum Zugang gefunden. Dennoch war sein Ruhm groß genug, daß er ganz selbstverständlich den Kampf um die amerikanischen Erstaufführungsrechte von Dmitri Schostakowitsch Leningrader Symphonie gewann, was damals - auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs - ein Politikum darstellte.
In der Wertschätzung der Zeitgenossen galt Toscanini jedenfalls trotz Konkurrenz durch Maestri wie Bruno Walter, Otto Klemperer, George Szell oder Fritz Reiner als primus inter pares - lediglich Wilhelm Furtwängler schaffte es (aus europäischer Perspektive) zu ähnlich kultischer Verehrung. Obwohl, oder vielleicht gerade weil seine künstlerische Welt eine völlig andere war, er sich der Kunst quasi von der Gegenseite her näherte, aber zu Ergebnissen von ähnlicher Intensität gelangte. Die Politik hat die beiden einander zunächst grundsätzlich gewogenen Künstler ab Mitte der Dreißigerjahre auch menschlich zu Antipoden gemacht. (Toscanini hatte sich von einem glühenden Parteigänger Benito Mussolinis in dessen »roter« Phase zum enragierten Gegner des Faschismus gewandelt.)