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Christian Thielemann

im Gespräch 2003

Die süßen Früchte einer Ochsentour

Er ist wieder ganz agil und versteht die Aufregung, die seine Absage zweier Wiener "Tristan"-Vorstellungen im September verursacht hat, nicht wirklich: "Ich glaube doch", sagt er, "dass man nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht hat, zu sagen, wenn es einem nicht gut geht. Wer erschöpft ist, kann ja keine gute Leistung erbringen."

Keine Frage, das Wiener Publikum erwartet sich von Thielemann die allerbesten Leistungen. Es stürmt auch an diesem Wochenende die Aufführungen von Beethovens Neunter, die zum 90. Jahrestag der Eröffnung des Konzerthauses stattfinden. Die Sitzplätze sind restlos ausverkauft, für den Samstag (15.30 Uhr) können Interessenten allerdings noch Stehplätze bekommen, denn es handelt sich um ein sogenanntes "Proms"-Konzert, bei dem die Bestuhlung des gesamten Parketts entfernt wurde.

Thielemann war von der herzlichen Aufnahme, die ihm die Wiener Philharmoniker anlässlich der ersten Proben zu diesem Ereignis bereitet haben, berührt: "Mit diesem Orchester zu musizieren, ist etwas ganz Besonderes. Ich glaube", analysiert er das Phänomen des viel zitierten "Wiener Klangs", "das liegt an der Tatsache, dass dieses Orchester vor allem Oper spielt. Das erzeugt eine Flexibilität, die sie von einem reinen Konzertorchester nie bekommen. Jedes Orchester, das nicht Oper spielt, hat ein Manko. Man spricht da oft von Schlamperei. Aber das ist es nicht: Es ist Flexibilität. Wer ununterbrochen italienische Sänger begleitet, der ist im Stande, sich auch dem anzupassen, was auf der Bühne gesungen wird. Dann fehlt da halt einmal ein Achtel, aber die Musiker gehen mit der Melodie mit."

Mit Philharmonikern nach Japan

Thielemanns Lust, in Wien zu arbeiten, ist also ungebremst. Mit den Philharmonikern geht er demnächst auf Japan-Reise, für deren Vorbereitung noch im Oktober ein Konzert mit dem "Heldenleben" von Richard Strauss und Beethovens "Pastoral"-Symphonie im Musikverein geplant ist. In der Staatsoper gibt es im Frühjahr eine weitere "Tristan"-Serie und in den darauf folgenden Spielzeiten "Parsifal" und möglicher Weise auch die "Meistersinger". Mit Direktor Holender spricht der Dirigent außerdem über eine Premiere, die ihn in einem ganz anderen Repertoire-Bezirk vorstellen wird.

Dass er vor allem Wagner und Strauss, im Konzertsaal Bruckner oder Beethoven dirigiert, findet er aber "ganz normal". Und: "Ich verstehe Dirigenten nicht, die sich jahrzehntelang um das Haupt-Repertoire herum drücken. Ich verstehe auch nicht, dass man in Städten wie Wien, London und Berlin Karrieren beginnen kann. Es bedarf doch des soliden Handwerks. Es ist schon wahr, dass es eine Ochsentour ist, wenn man in einem kleinen Theater irgendwo in Deutschland hart an den Meisterwerken arbeitet. Erst dann dürfte man doch vor ein Orchester wie die Wiener Philharmoniker treten, oder? Vielleicht ist das altmodisch, aber ich kann das nicht anders sehen."

Beethovens Neunte, die er im Konzerthaus - genau wie bei der Eröffnungs-Gala von 1913 - mit dem eigens dafür komponierten "Festlichen Präludium" von Richard Strauss kombiniert, hat Thielemann schon oft dirigiert. "Bestimmt 50 Mal", sagt er, "in Italien, in Nürnberg, in Berlin, in Bayreuth, aber man wird natürlich nie fertig mit einem solchen Stück. Da sind immer so viele Sachen, die ich den Beethoven gern fragen würde. Warum so viele Sforzati, warum so oft Fortissimo zum Beispiel. Es ist ja so, dass Sie die Dinge so, wie sie in der Partitur stehen, nicht eins zu eins machen können. Wenn Sie das täten, dann käme ein Lautstärke-Chaos heraus. Also müssen Sie als Interpret ununterbrochen Entscheidungen treffen. Entscheidungen an Beethovens statt, sozusagen. Das ist eigentlich schrecklich. Oft ist es ja so, dass man denkt: So ist es richtig. Aber im nächsten Moment stimmt es schon wieder nicht. Den Stein der Weisen hat man jedenfalls nie gefunden."

Über gewisse Dinge kann man mit Christian Thielemann freilich nicht streiten. Zum Beispiel über die Tatsache, dass Barockes und Klassisches in jüngster Zeit viel zu verzärtelt musiziert wird. Dafür hat er auch einen schlagenden Beweis: "Haben Sie schon einmal eine Silbermann-Orgel gehört? Das ist ein überwältigender Klang, von dem wir wissen, dass Bach ihn als Organist immer mit Lust ausgenutzt hat. Und ein solcher Komponist sollte zufrieden sein, wenn man seine Musik mit drei Geigen und acht Choristen aufführt? Wir betrügen das Publikum da, berauben es einer Dimension. Oder nehmen wir Beethoven. Was der in seinen späten Quartetten macht, das nimmt ja Schönberg vorweg. Die Neunte ist ja ganz bestimmt das Tor zur Romantik. Mit Schubert kommt dann eine Subjektivität, eine Feinnervigkeit ins Spiel, die schon die hysterischen Ausbrüche von Schumann vorbereitet. Das muss man doch alles hören! Man muss Schumann exzessiv spielen. Mahler und Strauss muss man entfetten!"

↑DA CAPO

→ Im Gespräch 2006