Martin Sieghart
* 1951
Im Gespräch, 2021. Der österreichische Dirigent, der 1986 vom Solocellistenpult der Wiener Symphoniker den Sprung in die »Freiheit« gewagt hat, an seinem 70. Geburtstag.
Mit Musik zu leben, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen: Das war Martin Siegharts Traum. Er hat ihn realisiert. Am Tag vor seinem 70. Geburtstag bilanziert er im Gespräch mit der "Presse": "Ich habe unglaublich viel Glück gehabt." Und das nötige Talent, möchte man ergänzen, aber auch die grundlegende Ausbildung. Sieghart studierte Violoncello, Klavier, Orgel und Dirigieren, um zunächst Solocellist der Wiener Symphoniker zu werden.
Von dieser Position aus wagte er 1986 den Sprung in die freie Musikerkarriere. Apropos Glück: "Das war genau der richtige Zeitpunkt", sagt er rückblickend. "Ich war gerade nicht mehr und noch nicht wieder verheiratet." Nach der Geburt seiner beiden Kinder hätte er den Schritt in die Selbstständigkeit "wohl nicht mehr gewagt", resümiert er. Doch damals funktionierte alles sofort. Vielleicht sogar zu rasch, aus heutiger Sicht.
Musik statt Wetterbericht
Aber das fällt in jene Kategorie, die er nach vielen Jahren des Unterrichtens mit Blick auf seine Studenten so formuliert: "Wie wunderbar ist es zu erleben, wenn junge Menschen in ihrer Liebe zur Musik weit über das Ziel schießen, Tempi und dynamische Vorschriften ignorieren. Wer mit 25 nicht übertreibt, dem mag ich nicht mehr zuhören, wenn er einmal 50 geworden ist."Er selbst ist jetzt 70, übertreibt schon lang nicht mehr, hat aber seine Begeisterung und seine Neugier nicht verloren. Am liebsten - so gewinnt man als Gesprächspartner zumindest den Eindruck - dirigiert er heute die Musik Anton Bruckners und Gustav Mahlers.
Aber mit höchstem Interesse widmet er sich auch halb oder ganz Vergessenem. Das machte seine Unternehmungen in Linz im Rahmen des Festivals EntArteOpera so spannend, für das er Stücke von Franz Schreker und Walter Braunfels produzierte: "In der ,Lieblingsstadt des Führers', die Musik zu spielen, die im sogenannten Dritten Reich verboten war, das war für Linz bestimmt ein gutes Zeichen." So sah das auch der damals zuständige Linzer Kulturpolitiker, aber er war massivem Druck ausgesetzt, denn dergleichen gilt manchen rasch als "zu teuer".
Wie auch immer: Sieghart war Chefdirigent in Stuttgart, in Linz, ist jetzt in Arnhem und betreute auch fünf Spielzeiten lang das Mozart-Festival in Reinsberg. Allerdings schien ihm die Aufgabe, ständig vor dem Computer zu sitzen, um im Minutentakt den Wetterbericht abzurufen, dann doch ein wenig unbefriedigend. Wenn sich dieser Dirigent also noch einmal der Leitung eines Festivals zuwenden sollte, dann sicher für eines ohne Freiluftveranstaltungen. Unter dieser Bedingung könnte er sich dies durchaus als lohnende Aufgabe vorstellen: "Noch einmal überlegen, verwerfen, neu beginnen und dann miterleben, wie so etwas entsteht . . .", sagt er in einem durchaus schwärmerischen Tonfall.
Und dann: das Unterrichten. Das macht ihm Freude. Viele Jahre hat er in Graz eine Professur innegehabt, jetzt liebt er Meisterkurse. "Ich bastle gerade an einem Projekt für die Wiener Ehrbar-Säle, die seit Kurzem von Bechstein übernommen worden sind. Dort kann man mit einem kleinen Kammerorchester klassische Symphonien bis zu den frühen Beethoven-Werken erarbeiten, aber auch Schubert."
Die eigenen Auftritte nicht zu vergessen. Für Herbst wird schon geplant - und die Veranstalter bitten, "nach Corona" besonders viele populäre Stücke anzusetzen. "Sie haben Angst, das Publikum könnte sonst ausbleiben." Für einen Mann, der so "mit der Musik lebt", eigentlich unvorstellbar.