13. Juni 1992

Der ganz normale Superstar

Seiji Ozawa im Gespräch _ vor der Premiere von Tschaikowskys Pique Dame.

So salopp wie er gibt sich keiner: Seiji Ozawa, in aller Welt begehrter Spitzendirigent, von Schallplattenfirmen wie Operndirektoren oder Konzertveranstaltern gleichermaßen umschwärmt, schafft keinen eitlen Personenkult um sich. Im Gegenteil: Seine Arbeit, das Dirigieren, betreibt er als eine Art "ganz normalen Job". Es scheint, als könnte er die Musik, die Beschäftigung mit ihr, außerhalb der Proben- und Konzertzeit ad acta legen wie ein anderer ein eben bearbeitetes Konvolut von Dokumenten.

So distanziert und gelassen spricht Ozawa auch über seine Tätigkeit. Ein Gefühl wie Ehrgeiz ist ihm, scheint's, völlig fremd. Wo man ihn mag und einlädt, dirigiert er. Wenn er Zeit hat. Und er hat naturgemäß wenig Zeit gehabt in all den Jahren, in denen er seine enorme Karriere gemacht und seinen Ruf gefestigt hat. Allein in den USA, wo er nach wie vor Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra ist, leitete er regelmäßig alle anderen großen Ensembles wie jene in Cleveland, New York oder Philadelphia als Gast.

Das muß man freilich in der Vergangenheitsform schreiben und Lesen, denn mit dem ständigen Gastieren hört es sich jetzt auf. Ozawa: "Ich habe das lang genug gemacht. Ich will jetzt endlich mehr Zeit für mich und meine Familie haben, die immer noch in Japan lebt", sagt er, wie das viele sagen. Nur: "Mein Leben verändert sich jetzt wirklich! In Amerika möchte ich nur mehr Boston dirigieren". Also ergibt sich neben dem Freiraum für die Familie auch ein wenig mehr Zeit für Europa. Berlin und Wien sind die Zentren, auf die er sich da konzentrieren will.

Auf die "Pique Dame" in diesem Mai folgt in der Wiener Staatsoper kommende Saison Verdis "Falstaff" mit Benjamin Luxon, den Ozawa während einer "Wozzeck"-Serie in Boston schätzen gelernt hat: "Ein Sänger", kommentiert er, "der nicht nur mit Stimme, sondern auch mit Hirn singt". Über die kommenden Spielzeiten in Wien wird gerade verhandelt.

Ozawa, der vor allem als Konzertdirigent Furore gemacht hat, will sich jetzt konsequent auch der Oper widmen: "Vor allem in Japan dirigiere ich jedes Jahr eine neue Produktion. Gerade haben wir den ,Fliegenden Holländer' gemacht, "Manon Lescaut', "Elektra', ,Salome' und ,Tosca' waren schon dran. Bisher war das ja für mich kaum möglich. Wann hat man schon ein Monat Zeit, eine solche Aufführung vorzubereiten?"

Ab sofort will Ozawa also Zeit haben. Vielleicht wagt er sich jetzt, immerhin im 58. Lebensjahr, endlich auch an einen Beethoven-Zyklus mit seinen Bostonern. Anders als die Kollegenschaft hat es Ozawa - da sind wir wieder beim Thema Ehrgeiz - nie gedrängt, sich sofort und vor allem via Schallplatte am sogenannten "großen Repertoire" von Beethoven bis Bruckner zu beweisen. "Ich warte", sagt er, und dirigiert die Werke nach und nach in verschiedenen Städten. Das Schielen in Richtung der Vorbilder, ob sie nun Furtwängler, Klemperer oder - bei Ozawa wohl an einer der ersten Stellen - Karajan heißen, ist ihm fremd.

"Ich war", erzählt er schmunzelnd, "sehr nervös, als ich beim heurigen Philharmonikerball Walzer dirigiert habe". Wegen der "debütierenden" Tochter im Ballsaal oder wegen des spezifischen Strauß-Stils? "Wegen beidem", sagt er und lacht. Mit den Philharmonikern herrscht jedenfalls bestes Einvernehmen. Ozawa kehrt regelmäßig wieder. Auch nach Salzburg, wenn auch immer nur für Konzerte: "Länger kann ich dort nicht sein, weil ich ja mit Boston das traditionelle Tanglewood Festival bestreite. Das sind Jahr für Jahr sechs Wochen mit vielen Konzerten und Kursen im Sommer".

Dabei bleibt es in den nächsten Jahren auch. In der Tradition seines Vorgängers Koussevitzky unterrichtet Ozawa dort auch talentierten Nachwuchs. Wie ihn seinerzeit ein Karajan und ein Bernstein unter ihre Fittiche genommen haben. Ozawa, der auch das nicht vergißt, hält an seinem Kurs der ruhigen, stetigen Entwicklung seiner Kunst und seiner Persönlichkeit fest. Was mittlerweile auch heißt: Kunstfertigkeit an Jüngere weiterzugeben.

↑DA CAPO