*** SINKOTHEK ** Portrait ***

Philippe Jordan


Portrait des Dirigenten

„Wer sind wir?
Wo stehen wir?
Wie definieren wir uns?“
-- sozusagen interpretations-philosophische Fragen stellte Philippe Jordan sich, seinen Musikern und - via Interview - auch seinem Publikum, als er 2009 seine Position als Chefdirigent der Opéra de Paris antrat.

Das war typisch für diesen Künstler, hinter dessen Musikantentum immer auch die intellektuelle Reflexion spürbar wird: Intuition gehört zweifellos zu den wichtigsten Voraussetzungen für lebendiges Musizieren.
Doch ohne Bewusstsein für die Hinter- und Untergründe kann keine tiefgründige Interpretation entstehen. Dessen war sich der junge Mann schon bewusst, bevor er vom virtuosen Pianisten zum Kapellmeister mutierte.

Sohn eines Dirigenten

Jordan wusste als Sohn eines Dirigenten um die Tücken des Berufs. Klavier gespielt hat er, seit er sechs Jahre alt war. Die Violine kam ein wenig später hinzu. Und nach Abschluss des Studium der Klavierpädagogik inskribierte er sich an der Musikhochschule seiner Heimatstadt Zürich nicht nur fürs Klavier-Konzertfach, sondern auch für Komposition.

Auf Karajans Spuren

Dieserart wirklich mit den profundesten Kenntnissen ausgestattet, wurde er im Rahmen seiner ersten fixen Anstellung im Theater von Ulm bald vom Korrepetitor zum Ersten Kapellmeister. Da war er 22 Jahre jung. Ob man nun an Zufälle glauben mag oder nicht: Ebenso jung war Herbert von Karajan, als er sein erstes Dirigenten-Engagement in Ulm antrat...

Karajan war es auch, der stets betonte, für einen Dirigenten sei die grundlegende Schule an einem kleinen Haus, in den Mühlen des Repertoirebetriebs unverzichtbar. „Wenn Sie wissen, wie Sie dem Tenor in Ulm helfen, wenn er schmeißt, können Sie’s dann auch bei Pavarotti“.

Das Handwerk

Auch Philippe Jordan erarbeitete sich sein Handwerk von der Pike auf. Er assistierte Jeffrey Tate und Daniel Barenboim und wurde von diesen Maestri auch gehörig gefordert. Und gefördert. Barenboims Empfehlungen waren für den Werdegang des jüngeren Kollegen stets hilfreich.

Kapellmeister in Graz

Von seinem Assistenten-Posten in der Berliner Staatsoper „Unter den Linden“ wechselte der 27-jährige nach Graz. Seine dortige Amtszeit gilt längst als legendär - Jordans Arbeit strahlte über steirischen Landesgrenzen hinaus. Als Orchestererzieher und als ein Mann, der als Probenleiter am Klavier fanatisch mit seinem Ensembles die heikelsten Aufgaben modellierte, fuhr er reiche Ernte ein.

Vermutlich hatte er sich (und seinen Musikern und Sängern) schon damals die „Seins-Frage“ gestellt und klug gespürt, was in Graz „hier und jetzt“ für den Opernbetrieb vonnöten war.

Chefdirigent in Paris

Ein knappes Jahrzehnt danach wies Jordan in Paris sich selbst den Weg: „Diese Fragen“, meinte er, „kann man nur in klanglicher Hinsicht beantworten.“ Für Paris hieß das: „Wir verbinden mit dem typisch französischen Klang eine spezifische Leichtigkeit, Durchsichtigkeit. Das Orchester verfügt tatsächlich über sehr gute Bläser, die sehr sauber, sehr akkurat spielen. Jetzt ist aber wichtig: Was drücken wir aus?“

Die rhetorischen Qualitäten der Pariser Musiker entwickelten sich unter Jordans Führung auf bemerkenswerte Weise. Das konstatierten die heimischen wie die internationalen Beobachter, die längst auf diesen Dirigenten aufmerksam geworden waren.

Internationale Karriere

In Dresden und München, in New York, aber auch in Wien hatte er als Gastdirigent von sich reden gemacht. Bei den Salzburger Festspielen auch, wo er nach einem höchst erfolgreichen Opern-Debüt mit Mozarts „Così fan tutte“ darauf verzichtete, im darauffolgenden Jahr noch einmal am Dirigentenpult zu erscheinen. Er wollte nach traditioneller, freilich in der Praxis längst beinah vergessener Kapellmeister-Manier auch die Rezitative selbst begleiten und so die Aufführung musikalisch wirklich durchgestalteten.

Das hat einst etwa auch ein Clemens Krauss bei den Festspielen so gehalten. Jordan könnte es - aber das Regieteam verbat sich so viel musikalische Feinarbeit.

In Zeiten, in denen die Opernregisseure auch schon in die musikalische Gestaltung eingreifen und ihnen das letzte Wort zugebilligt wird, haben es erstklassige Musiker schwer...

Aber sie können ihren Kopf durchsetzen, wenn sie sich ihrer Sache sicher sind. Jordan verzichtete auf seine Mitwirkung bei den Salzburger Festspielen. Nicht zu seinem Schaden, jedenfalls.

Wiener Symphoniker

Dieserart war Philippe Jordan jedenfalls gerüstet, als er 2014 sein Amt als Chefdirigent der Wiener Symphoniker antrat. Er kannte die musikalischen wie die außermusikalischen Stolpersteine, auf die er in seinem Beruf auch künftig immer wieder stoßen würde.

Und er beantwortete die „Seins-Fragen“ für sein Wiener Orchester auf ganz eindeutige Weise. Natürlich würden es die „großen Brocken“ des symphonischen Repertoires sein, die man einen Chefdirigenten am Pult sehen wollte. Da war er ohnehin nie zimperlich gewesen.
Im Alter von 33 Jahren war er das erste Mal für eine Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie am Symphoniker-Pult gestanden. Und die Kommentatoren staunten, wie souverän er die heiklen architektonischen Balanceakte der Ecksätze bewältigte.

Wiener Programmatik

Bald folgte die bei Dirigenten noch viel mehr gefürchtete „Missa solemnis“, und man bemerkte, wie dieser Interpret seine Erfahrung als Theaterkapellmeister im Konzertsaal zu nutzen verstand: Die inwendige Dramatik mancher Passagen dieses Werks arbeitete er heraus, in dem er gerade die Hochspannung in ganz stillen, scheinbar entrückten Passagen zu halten wusste.

Aber für seine erste Spielzeit mit den Wiener Symphonikern setzte Jordan ein Zeichen, wie es deutlicher, sagen wir ruhig: wienerischer noch keiner seiner Vorgänger gesetzt hatte: Er avisierte einen Aufführungszyklus sämtlicher Symphonien von Franz Schubert.

Damit ließ sich, das wusste er, für ein Wiener Orchester die Frage „Wer sind wir?“ am allerbesten beantworten. Wer die hiesigen Repertoire-Gepflogenheiten verfolgt, der weiß, dass Schubert zwar in aller Munde ist, wenn es um die Definition des musikalischen genius loci geht.
Doch wirklich fest im Repertoire verankert sind die Symphonien des Meisters nicht. Jedenfalls nicht alle. Aber alle sind es wert, dass man sich - nicht nur, aber vor allem hierzulande - unentwegt mit ihnen auseinandersetzt.

Der dirigierende Dramaturg

Das zu beweisen, gelang Philippe Jordan in seiner ersten Symphoniker-Saison auf eindrucksvolle Weise. Dass er als Chefdirigent außerdem die großen „Brocken“ von Mahler über Richard Strauss bis Tschaikowsky pflegen würde, verstand sich ohnehin von selbst. Von Tschaikowskys „Pathétique“ entstand sogar ein bemerkenswerter Livemitschnitt, der auf CD veröffentlicht wurde und wiederum als Beweis für des Maestros dramaturgisches Geschick herhalten kann: Die Musik entwickelt sich organisch wirklich über alle vier Sätze hin und kulminiert nicht schon in den wütenden Ausbrüchen des Kopfsatzes, sondern erst in den Verzweiflungs-Aufwallungen des tragischen Finales.

Symphonie und Drama

Aufschlussreich für kritische Beobachter des Musik-Geschehens war dann auch, dass Philippe Jordan die vielfach unterschätzten Jugend-Symphonien Schuberts, jede für sich, frisch und höchst differenziert zum Klingen brachte. Für jede hatte er sein Rezept, auch etwa für die vom Komponisten selbst als „Tragische“ bezeichnete Vierte, der sich die Musiker mit ebenso bühnenreifer Theatralik näherten wie sie den Buffo-Geist in der oft Rossini-nahen Sechsten beschworen. Und, apropos profunde Studien: Die Dritte mit ihrem oft leicht-beschwingten Serenadenton zerstückelte Jordan im Rahmen einer „Frühling in Wien“-Matinee, indem er zwischen den Sätzen Matthias Goerne bei Schubert-Liedern begleitete oder Ausschnitte aus „Rosamunde“ musizieren ließ.

Was anno 2015 wie eine Barbarei aussehen mochte, basierte auf Gepflogenheiten des Wiener Biedermeier. Auch darüber ist sich ein Interpret im klaren, der nicht nur Partitur lesen kann, sondern sich auch der historischen Umstände vergewissert.

Der Beethoven-Zyklus

In diesem Sinne hat Philippe Jordan auch das Studium der sogenannten historischen Aufführungspraxis nicht gescheut. Wer sein jüngstes großes Symphoniker-Projekt verfolgt hat, entdeckte in der Gesamtaufführung der Beethoven-Symphonien selbstverständlich auch manches Echo der Errungenschaften der Originalklang-Pioniere, freilich harmonisch eingebunden in die gewachsenen Spieltraditionen eines „romantisch“ geschulten Symphonieorchesters.

Entsprechend euphorisch fielen denn auch die Reaktionen der internationalen Kritik aus, als die Mitschnitte der Beethoven-Reise der Wiener Symphoniker unter der Leitung ihres Chefdirigenten auf CD erschienen. „Thought-through Beethoven of the highest order“, schwärmte der Rezensent des „Gramophone“-Magazins. Rechtzeitig zum Jubiläums-Jahr gelang es den Symphonikern, ein weltweit beachtetes Signal zu versenden, dass man in Wien in Sachen Beethoven ganz auf der Höhe der Zeit angekommen ist.

Die Kardinal-Fragen des Dirigenten hat man also beantwortet - zum Abschied: Mit Anfang September 2020 wechselte Philippe Jordan als musikalischer Direktor an die Staatsoper.

↑DA CAPO