Ernest ANSERMET
(1883-1969)
Die Kritiken, die dieser Dirigent für seine Schallplatten-Aufnahmen erhalten hat, waren nicht immer freundlich. Und doch: Dank seines Exklusivvertrags mit Decca konnte Ernest Ansermet mit seinem Genfer Orchestre de la Suisse romande unzählige Einspielungen vorlegen, die unter Sammlern bald Kultstatus erhielten.
Die legendäre weiträumige Aufnahmetechnik des Labels und der analytische Geist hinter Ansermets Interpretationen vertrugen sich gut. Sie machten auch manche kleinen Unebenheiten im Spiel des Genfer Orchesters wett, das nicht zu den allerersten der Welt zählt, aber unter Ansermets Führung ein Höchstmaß an Disziplin erreichte.
Und das Repertoire, das Ansermet wählte, harmonierte wiederum perfekt mit seinem Personalstil: Sinn für sinnliche Farben harmonisierte dieser Dirigent mit tiefem Verständnis für kompositorsche Strukturen.
Diese Mischung macht vor allem Aufnahmen impressionistischer Werke und der farbenfrohen Partituren der russischen Moderne, voran Rimskij-Korsakow und Strawinsky wertvoll. Da verschwimmt trotz liebevoll detailierter Koloristik nichts, das Stimmengewebe bleibt stets gut durchhörbar.
Als Musik-Philosoph war Ansermet von der Macht der Tonalität überzeugt und versuchte sie analytisch in ausladenden Schriften zu begründen. Die Welt der Wiener Schule um Arnold Schönberg stand ihm daher fern. Umso wichtiger war er - teils als Uraufführungsdirigent - für Komponisten wie Strawinsky (mit dem es durchaus zu Meinungsverschiedenheiten kam) Milhaud oder Honegger. Einige Werke des Schweizer Landsmanns Frank Martin hat Anssermet in Referenz-Einspielungen vorgelegt.
Die Palette der unverzichtbaren Ansermet-Einspielungen reicht von Hauptwerken → Debussys und Ravels bis zu Raritäten - etwa aus der Feder eines → Alberic Magnard.
Sie umfaßt auch romantische Literatur wie Franz Liszts Faust-Symphonie und dessen auf Lenau basierenden Faust-Szenen, darunter vor allem eine exquisite Wiedergabe des ersten Mephisto-Walzers mit dem selten zu hörenden, geheimnisvollen, poetisch-stillen Schluß.
Daß dieser Mann einen Sinn für Dramatik hatte, beweist - wenn auch technisch teils problematisch - der Livemitschnitt einer Aufführung von Debussys
Pelleas und Melisande aus New York (Pristine) mit einer unschlagbaren, weil auch herzhaft »zupackenden« Besetzung:
George London - Golaud Anna Moffo - Mélisande Nicolai Gedda - Pelléas Blanche Thebom - Geneviève Jerome Hines - Arkel Teresa Stratas - YnioldSänger wie Orchester machen aus dem gern in nobler Blässe erstarrenden Werk ein leidenschaftliches Drama, das sich oft bedrohlich zuspitzt. In dieser Hinsicht ist der Mitschnitt trotz aller technischen Unbilden sogar Ansermets glänzender Studioaufnahme (Decca) überlegen.