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Olivier Latry
Der Organist von Notre Dame


Olivier Latry war für eine Probe in Wien, als er die Nachricht vom Brand der Kathedrale erhielt. Der Organist im Gespräch über „sein“ Instrument und die Wiederaufbaupläne.

Wie haben Sie als Organist von Notre-Dame von der Katastrophe erfahren?

Olivier Latry: Es war in Wien! Ich war gerade für eine Probe mit dem Ensemble Phil.Blech am Flughafen angekommen, und auf dem wieder aktivierten Handy traf die SMS ein: „Notre-Dame brennt!“ Wenig später schickte derselbe Freund ein zweites Foto, auf dem sich das Feuer bereits viel weiter ausgebreitet hatte.

Wie haben Sie reagiert?

Zuallererst dachte ich: Das ist nicht wahr! Dann dachte ich: Das Dach wird verloren sein; und wenn das Dach verloren ist, auch das ganze Interieur. Ich glaube, es ist wirklich ein Wunder, dass der Altar, der Chor, die Statuen, die Orgel erhalten geblieben sind! Wenn man bedenkt: Die waren im 13. Jahrhundert imstande, ein Bauwerk zu errichten, das so etwas aushält!

Es gab dann vermutlich sofort neugierige Anfragen aus aller Welt?

Oh ja. Etwa 900 Mails werden es schon gewesen sein, dazu Facebook et cetera.

Nun überwiegt die Erleichterung, dass es nicht zum Allerschlimmsten gekommen ist?

Wobei man sagen muss: Die Sicherheit ist noch nicht wirklich gewährleistet. Aber wir können hoffen, dass wir weiterhin sagen dürfen: Es hätte viel schlimmer kommen können.

Man sprach ja schon am Tag danach vom Wiederaufbau. Denken Sie, es wird irgendwann wieder alles so sein wie zuvor?

Ich bin ein wenig besorgt, wenn ich von den ersten Ideen lese, die jetzt in Sachen Wiederaufbau gewälzt werden.

Die gibt es schon?

Haben Sie das nicht gesehen? Im Internet kursiert ein Entwurf, der einen neuen Vierungsturm vorsieht – aus Kristall! Und dazu ein gläsernes Dach.

Also eine Art Aussichtswarte für Touristen?

Ich bin sehr betroffen von solchen Dingen und verärgert. Als Organist bin ich natürlich auch besorgt wegen der Akustik.

Verändert sich diese stark, auch wenn man auf modernen Schnickschnack verzichtet und wirklich eine Rekonstruktion versucht?

Da kommt es sehr darauf an, was mit dem Dach passieren wird. Es geht ja nicht nur um den Stein, sondern auch um den „Überbau“. Es ist für die Akustik sogar wichtig – denken Sie an den Wiener Musikverein – was sich unter einem Gebäude befindet. Wie es war, wird es nicht mehr sein. Jedenfalls werden wir das nicht erleben. Auch wenn man das Holzdach wieder herstellt, die Sparren, die Balken waren jahrhundertealt. Und den Unterschied kann man jedenfalls auch hören.

Und Ihr Instrument? Oder besser: die Instrumente, es sind ja drei Orgeln.

Ja, eine kleine Orgel und eine Orgel am Chor, die haben unter dem Wasser gelitten. Die große Orgel ist vor allem voll Staub und Asche. Das Instrument selbst ist aber intakt. Also, so lang die Kathedrale stehen bleibt . . . Nur was mit dem Elektroniksystem passiert ist, kann man natürlich noch nicht sagen, auch da kann ja Wasser allerhand anrichten.

Können Sie sich noch daran erinnern, welchen Eindruck Ihnen Notre-Dame vermittelt hat, als sie die Kathedrale zum ersten Mal sahen? Waren Sie da noch ein Kind?

Nein, mein erster Besuch fand in meiner Studienzeit statt. Ich muss sagen, dass ich zunächst ein wenig enttäuscht war – über die Orgel, nicht über die Kathedrale. Und zwar gar nicht so sehr aus akustischen Gründen. Bei den Renovierungsarbeiten im 19. Jahrhundert hatte man das sogenannte Rückpositiv entfernt. Aber der Aufbau dieser Orgel braucht es – wegen der Optik. Nicht umsonst hat man in Saint-Sulpice das Gehäuse für das Rückpositiv belassen – halt ohne Pfeifen drin!

Und musikalisch?

Ich war damals auch enttäuscht, als ich die Orgel zum ersten Mal hörte. Das Instrument war in einem schlechten Zustand. Als ich dann das zweite Mal spielen durfte, hat man mich informiert, dass seit drei Wochen wegen eines Kurzschlusses die Elektronik ausgefallen war. Das war 1982, und es blieb so für zehn Jahre. Man musste alles händisch registrieren. Erst seit 1992 besitzen wir das exzellente Instrument, das jetzt gerettet wurde.

Wie ist das eigentlich für einen Organisten, in Konzertsälen aufzutreten – wie am 25. April mit Phil.Blech im Musikverein?

Immer noch eine Rarität. Es gibt in Konzerthäusern nicht so viele gute Instrumente. Jenes im Wiener Musikverein ist eine Ausnahme.

Und mit welchen Programmen macht man ein Konzert- zu einem Orgelpublikum?

Wenn man ein typisches Organistenprogramm spielt, kommen die Leute sicher kein zweites Mal. Bewährt haben sich Arrangements von Stücken, die das Publikum in symphonischer Gestalt kennt. Von den Originalwerken für Orgel sind meist jene besser, die von Nichtorganisten stammen. Oder von Organisten, die zuerst einmal Komponisten und dann erst Organisten waren.

Zum Beispiel?

Olivier Messiaen – er hatte seinerzeit, als er das Organistenamt in Sainte-Trinité übernahm, wenig Ahnung vom Registrieren, hat erst einmal neue Klangkombinationen ausprobiert – und damit die Orgelwelt revolutioniert. Dagegen war Widor zum Beispiel zuerst Organist und dann erst Komponist. Das hört man seinen Stücken auch an.

Versuchen Sie manchmal zu spielen, als ob Sie kein „typischer“ Organist wären?

Wenn Sie so wollen, ja. Meine jüngste Aufnahme, die letzte übrigens, die vor dem Brand an der Orgel von Notre-Dame entstand, heißt „Bach to the Future“ und bietet Puristen sicher nicht jenen Bach-Klang, den sie suchen. Ich versuche auch für diese Musik, alle Möglichkeiten der Orgel auszunutzen. Manches klingt vielleicht eher so, wie man es von den Orchesterarrangements von Leopold Stokowski kennt.

↑DA CAPO