Was heißt musikalische Moderne?
Aus den »Lustigen Blättern«, 1908
Der Rädelsführer der »Moderne«, das war in den Augen des Publikums und der Kritik in den Jahren um 1900 ein Komponist, den spätere Generationen als Inbegriff des Spätromantikers betrachteten:
Richard Strauss!
Der Komponist ist in seinen Opern Salome und Elektra an die Grenzen dessen gegangen, was in Richard Strauss
der damaligen Harmonik möglich schien und hat das Tor zur sogenannten Atonalität aufgestoßen.
Die frühe Moderne
Doch den Weg, den er eingeschlagen hatte, wollte er nicht weitergehen. Und mit ihm viele Mitstreiter, die damals alle als Moderne qualifiziert wurden, sei es Erich Wolfgang Korngold - der heute als Vorreiter der Filmmusik gilt -, sei es Franz Schmidt - dessen Musik für spätere Kommentatoren wie ein »ewiggesstriger« Nachhall der Romantik klang - oder auch Joseph Marx, Franz Schreker, Julius Bittner und wie sie alle hießen.
Ein Mann wie Alexander von Zemlinsky erweist sich als Grenzwächter: Als Lehrer von Arnold Schönberg steht er mit seiner Musik am Beginn dessen, was wir heute noch als moderne Musik bezeichnen, der Avantgarde der sogenannte Wiener Schule um Schönberg und seine Studenten Alban Berg und Anton von Webern.
Das Chamäleon Hindemith
Eine der faszinierendsten Gestalten der musikalischen Moderne war jedenfalls Paul Hindemith, der vom radikalen Bürgerschreck, der im Konzertsaal die Sirenen heulen ließ, zum Siegelbewahrer der deutschen musikalischen Handwerks-Tradition wurde - von den Nationalsozialisten vertrieben, und nach 1945 dennoch von den Vordenkern der Avantgarde ins reaktionäre Eck gestellt . . .
Nationale Schulen
Doch über der Einseitigkeit, mit der man in deutschsprachigen Landen ausschließlich diesem Traditionsstrang die Vorherrschaft zubilligt, übersieht man, wie viele Spielarten einer musikalischen Moderne es in der Welt gegeben habe: Da waren die nationalistisch gesinnten Ungern, die von der Volksmusik ihrer Heimat ausgehend zu höchst unterschiedlich avancierten Ergebnissen kamen: Béla Bartók und Zoltán Kodály markieren die Eckpunkte.
Rußland
Da war aber auch Rußland mit seinen so völlig unterschiedlichen bedeutenden Komponisten zwischen Alexander Skrjabin und Sergej Rachmaninow, Sergej Prokofieff und Dmitri Schostakowitsch: Jeder von ihnen hat seinen persönlichen, unverwechselbaren Stil geprägt - nur einer von ihnen, Strawinsky, wird auch von den Nachgeborenen noch als Moderner rubriziert.
Dabei hat gerade Strawinsky seinen Stil von Werk zu Werk gewechselt - als eine Art Picasso der Musik, und zu Zeiten auch den sogenannten Neoklassizismus, die Besinnung auf klassische und barocke Vorbilder, hoffähig gemacht.
Frankreichs Sonderstellung
Eine Sonderstellung nimmt ab der Zeit um 1900 Frankreich ein, wo mit Debussy und Ravel zwei höchst unterschiedliche Meister höchste unterschiedliche Musik machen, die in ihrer Eigenart aber doch als Impressionismus eine völlig eigenständige Sicht auf die Möglichkeiten musikalischer Entwicklung wirft.
In der Folge bildet sich in Frankreich eine freche, jugendlich-frische und um viele im deutschen Sprachraum erregt diskutierte Doktrinen unbekümmerte Moderne heraus, die zuweilen auch die Berührung mit der Unterhaltungsmusik nicht scheut.
Futuristen, Surrealisten
Ganz aus dem Blickfeld waren über lange Zeit jene Komponisten verschwunden, die musikalisch an ästhetischen Vorstellungen orientiert waren, wie sie in der Kunst und Literatur als Surrealismus oder auch Futurismus bekannt wurden. Ob Edgar Varèse oder Ferruccio Busoni, ob Lugi Dallapiccola, sie haben Klangwelten erschlossen, die sich in ganz anderen »Galaxien« bewegen wie die »Wiener Schule«.
Kein Jahrhundert war so reich an völlig unterschiedlichen musikalischen Abenteuern wie das XX. Wer sich ohne Scheuklappen in dieses Abenteuer einläßt, entdeckt auch bei Puccini, dem großen Melodiker, harmonische und koloristische Effekte, die ahnen lassen, warum dieser letzte große italienische Opernromantiker von der Musik eines Schönberg, eines Strawinsky fasziniert war. Alle diese Meister haben Geister gerufen, die den Zauberlehrlingen der zweiten Hälfte des Jahrhunderts den Weg in immmer feiner Differenzierungen gewiesen haben.