Schottische Symphonie
Felix Mendelssohn-Bartholdy
ln der tiefen Dämmerung gingen wir heut nach dem Palaste, wo Königin Maria gelebt und geliebt hat . . . Der Kapelle daneben fehlt nun das Dach. Gras und Efeu wachsen viel darin, und am zerbrochenen Altar wurde Maria zur Königin von Schottland gekrönt. Es ist alles zerbrochen, morsch und der heitere Himmel scheint hinein. Ich glaube, ich habe heute da den Anfang meiner Schottischen Symphonie gefunden.So heißt es in einem Brief vom Juli 1829 - doch sollte es noch mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis aus düster-dräuenden, geheimnisvollen a-Moll-Introduktion diese Symphonie entstehen konnte. Die leuchtenden, lebendigen Farben Italiens drängten sich dazwischen. Die »Italienische« entstand, eine »Reformationssymphonie« sollte zur Symphonie Nr. 5 werden, ehe die Arbeit an der Nummer 3 wieder aufgenommen und beendet wurde.
So ist die Dritte in Wahrheit die letzte von Mendelssohns Symphonien, im Jänner 1842 vollendet und wenige Wochen später unter des Komponisten Leitung in Leipzig uraufgeführt. Daß das Werk von Schottland inspiriert war, erwähnt Mendelssohn später nicht mehr aussdrücklich. Robert Schumann brachte die Stücke des verehrten Kollegen sogar durcheinander und hörte aus der a-Moll-Symphonie „alte Melodien, die im schönen Italien gesungen wurden“ heraus.
Mendelssohn hat sich auch über die berüchtigten Dudelsäcke nicht gerade vorteilhaft geäußert - also scheinen entsprechende Assoziation in bezug auf die pentatonische Scherzo-Melodie vielleicht allzu weit hergeholt.
Lediglich die melancholisch-balladeske Stimmung des Eingangssatzes hat offenbar die Atmosphäre des Reiseeindrucks bewahrt.
In diesen epischen Grundton stimmen auch die martialischen Einwürfe im lyrischen Adagio ein - und das Finale war ursprünglich mit Allegro gueriero überschrieben, was allerdings mit den mythischen schottischen Clan-Fehden in Zusammenhang gebracht werden könnte - wenn denn die romantische Legendenbildung bei einer genuin romantischen Symphonie am Platze sein sollte . . .
Und doch ist es ein Stück meisterlicher Verwandlung orchestraler Stimmungsmalerei in beherrschte symphonische Form. Selbst das Scherzo ist kein einfaches dreiteilige Gebilde, sondern ein raffinierter Sonatensatz - und die A-Dur-Coda des Finales ist eine hymnische Variation des Symphoniebeginns.
Der formale Kreis schließt sich, ohne an malerischer Qualität zu verlieren: »Wie ein Männerchor« soll es klingen, beschied uns der Komponist.
Otto Klemperers Revolte
Ein kritischer Geist wie Otto Klemperer befand dieses Finale für untauglich und komponierte kurzerhand ein neues; paradoxerweise existieren von diesem Dirigenten zwei Aufnahmen dieser Schottischen Symphonie, eine mit Mendelssohns originalem Schluß, eine mit Klemperers eigener Version.Auch wer dieser Eigenmächtigkeit nichts abgewinnen kann, wird Klemperers Mendelssohn-Deutungen als singulär bewerten müssen: Er ist der einzige Dirigent, der die Balance zwischen Formstrenge und Poesie zu halten vermag, wenn auch die Waagschale sich zuweilen eher in Richtung Form neigt.
Mitropoulos' Feueratem
Am gegenteiligen Ende der Skala rangieren die Livemitschnitte von Aufführungen unter der Leitung von Dimitri Mitropoulos, der seinen Mendelssohn als Feuergeist versteht und aus dieser Partitur dramatische Funken schlägt wie kein Zweiter. Das »Allegro vivacissimo« des Vierten Satzes klingt bei ihm tatsächlich »guerriero«, der Schluß euphorisch aufgeputscht. Aufregender kann das Stück nicht klingen; kleine orchestral Schnitzer beiseite . . .Ähnliche Intensität und vor allem: noch rascheres Tempo erreichte Artur Rodzinski mit dem Chicago Symphony Orchestra in einer der frühesten Aufnahmen, noch in der Schellack-Ära entstanden, der es vielleicht im Adagio ein wenig an Innigkeit und großem Atem, sonst aber an nichts mangelt: symphonische Dramatik pur - und eloquent modelliert auch in den Mittelstimmen.
Karajans Solitär
Einzige ernstzunehmende Alternative im Katalog - für alle, die perfektes Orchesterspiel und Klangschönheit schätzen: Herbert von Karajans Berliner Studioproduktion für die Gesamtaufnahme der Mendelssohn-Symphonien im Zuge des "Große Symphonie"-Projektes der Deutschen Grammophon vom Anfang der Siebzigerjahre - die Schottische gehörte nie zu Karajans Welt und taucht in seinen Liveprogrammen nicht auf. Man hört der Aufnahme vielleicht auch an, daß hier nicht eine lang gereifte, tiefe Interpretation zu hören ist, sondern ein Versuch, den Spitzenkräfte in einem bis dato von ihnen nicht betretenen Garten anstellen, der freilich in rundum wohlbekanntem Terrain liegt.Das ist jedenfalls genug, um den Rest der Konkurrenz in der in diesem Fall nicht sonderlich reich bestückten Diskographie zu hinter sich zu lassen.
Vergleichswerte
Der früheste Eintrag im Schotten-Katalog gilt übrigens Arturo Toscanini und seinem NBC-Orchester (1941). Die topfige Klangqualität einmal abgerechnet kann man hier lernen, wie schnell ein Orchester spielen kann, ohne je aus der Kurve zu fallen; und - jenseits solch sportlicher Überlegungen - wie man in zügigem Tempo eine Adagio-Melodie gesanglich flexibel phrasiert; dergleichen findet sich in keiner späteren Aufnahme mehr annähernd so natürlich! Das war es, was Toscaninis Solobratscher Milton Katims meinte, wenn er analysierte:Toscaninis Rubato war so subtil, daß der Hörer es so gut wie nie bemerkte.
Daß dabei das Tempo immer fließend bleiben konnte, ist staunenerregend - immerhin braucht Toscanini für das Adagio nicht einmal ganz neun Minuten, das ist fast drei Minuten kürzer als Karajan und immer noch mehr als zwei Minuten schneller als der von Rezensenten viel gerühmte Peter Maag mit London Symphony (1960), klangtechnisch dank des legendären Decca-Teams die vielleicht schönste Aufnahme im Katalog.
Korrekte Zeitgenossen, die auf die vorgeschriebene Wiederholung im Kopfsatz wertlegen, werden bei Wolfgang Sawallisch fündig, der für seine Gesamtaufnahme der Mendelssohn-Symphonien mit New Philharmonia (Philips) eine kraftvoll-pulsierende Interpretation vorgelegt hat.