Martha

Friedrich von Flotow

Das bedeutendste der Spätwerke des Meisters, live 1964


Wiener Volksoper 2004

Sie sollte nicht entschwinden ...

Ein Meisterwerk kehrte in den Wiener Spielplan zurück.

Das findet nicht jeder zukunftsträchtig: Die Wiener Volksoper spielt die Spieloper "Martha" in Bühnenbildern, die das Stück tatsächlich im 18. Jahrhundert ansiedeln. Die deutlich von den bissigen Karikaturen Hogarths inspirierten Illustrationen Julian McGowans signalisieren vom ersten Moment an, dass hier nicht die modische Deutung eines Klassikers versucht werden soll. Man will, das ist die Botschaft, ein Stück erzählen, ganz wie's im Libretto steht. Dergleichen gilt bei Rezensenten als furchtbar rückschrittlich, beim vom Regietheater geplagten Publikum aber offenbar als heilsam. Der Applaus nach der ersten Premiere der Ära Berger klang dankbar.

Freilich: Da stimmt zunächst einmal die Richtung. Ringen sich unsere Intendanten nicht schleunigst dazu durch, ihrem Publikum statt irgendwelcher pseudointellektueller Interpretationen und Neudeutungen wieder die Meisterwerke erkennbar vorzusetzen, dann ist der Tod der Gattung Oper nicht aufzuhalten.

Andererseits soll das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Was Michael McCaffery als Inszenierung anbietet, ist nicht viel mehr als ein nettes szenisches Arrangement in besagten historisierenden Bildern. Wenn der Wille fürs Werk steht, dann stehen die sinnvoll bis gut choreografierten, in zügigem Tempo vorangetriebenen Auf- und Abtritte der Solisten, das bunte Gewimmel des Chors, die reibungslos abgespulten Szenewechsel für Flotows "Martha".

Soll Musiktheater tiefer greifen, dann fehlt dieser Aufführung unter der hübschen und erfreulich konkreten Oberfläche jedoch einiges. Vor allem die deutliche Charakterzeichnung, die sinnfällige Zuspitzung der Konflikte. Man darf nur ahnen, in welche seelischen Wirren die handelnden Personen verstrickt werden, sobald eine vornehme Lady mit ihrer Gespielin sich Spaßes halber auf dem Markt als Magd verdingt und damit den eigenen Hormonhaushalt wie den der dabei beteiligten Herren so durcheinander bringt wie die Standesunterschiede, die hier thematisiert werden.

Dass man dergleichen auch sichtbar machen könnte an Geste, Haltung und Ausdruck, bleibt in der Volksoper diesmal noch ein frommer Wunsch. Da stehen offenkundig lauter Menschen gleicher Kinderstube auf der Bühne und spielen ihre Rollen.

Aber wir stehen ja erst am Anfang der Volksopern-Erneuerung und dürfen immerhin verbuchen, dass akustisch ganz andere Maßstäbe angelegt werden. Sobald Alexandra Reinprecht etwa ihr Rosenlied anstimmt, schwingt plötzlich so viel Seele, so viel Innigkeit in jener Stimme, die zuvor noch höchst virtuos und beweglich, aber kühl distanziert ihre Koloraturspielchen zu spielen wusste, dass ein doppelter Boden sich auftut.

Komik aus verborgenen Tiefen

Mag sein, es bleibt angesichts der vordergründigen, doch nicht störenden Optik dieser Aufführung verborgen, hörbar wird es doch, dass Flotow hier ein Meisterwerk geschaffen hat, das in verborgene Tiefenschichten unserer Existenz vordringt.

Einer komischen Oper, die nur dem schönen Schein verpflichtet ist, wäre kein solcher Erfolg beschieden gewesen, wie er "Martha" von Anbeginn geschenkt war. Das Publikum fand in dem Stücklein - immerhin wenige Monate vor der 1848er Revolution - die Unmenschlichkeit einer Gesellschaftsordnung gespiegelt, die menschliche Gefühle nur in streng reglementiertem Ausmaß zulassen wollte. Das nicht zu zeigen, heißt, ein Meisterwerk auf flaches Groschenroman-Schema zu reduzieren.

Dass in manchem Moment der Aufführung die Vielschichtigkeit des Vorwurfs zumindest musikalisch mitschwingt, sichert dieser "Martha" jedoch gewiss erneut die Zuneigung des Publikums. Solange so prächtig gesungen wird, solang sich der samtweiche Alt von Andrea Bönig in den Ensembles so subtil den Kantilenen der Titelheldin anzuschmiegen weiß, solang die beiden Damen sich die tönenden Pointen so schwerelos sicher zuwerfen, solange Anton Scharinger einen so herzensguten, prächtig timbrierten Plumkett gibt, solange kann sich die Volksopernwelt erholen und auf gutem Niveau wieder finden.

Mit Ismael Jordi hat man außerdem einen Tenor gefunden, dessen Stimme zwar nicht flexibel und eloquent geführt wird, der aber die nötige Agilität für die vielen wohl ausbalancierten Ensemblesätze der Partitur besitzt und seine große Klage auf die entschwundene Martha zumindest mit sympathischem Engagement anstimmt.

Dass Klaus Kuttler den Lord Tristan zu einer billigen Karikatur herunter spielen muss, bringt zwar eine Figur der Komödie mutwillig um beinahe alle ihre Möglichkeiten, sichert dem Interpreten aber immerhin etliche Lacher.

Der junge Dirigent Tomas Netopil sorgt dafür, dass mit großem Elan, zupackend und schwungvoll musiziert wird. Ihm geht wohl das Gefühl für melodische Entwicklungen, die länger als zwei, drei Takte ausschwingen sollten, noch ein wenig ab. Am vorwärts treibenden Tempo, das die Produktion durchwegs auszeichnet, ändert das nichts. Und die heiklen Ensemblesätze verraten engagierten organisatorischen Zugriff.

Man kommt also schon irgendwie auf seine Rechnung, wenn man die neue "Martha" besucht. Das Stück wird, wenn auch deutlich reduziert, so doch ohne falsche Zusätze erzählt. Je rückschrittlicher das auf manche Kommentatoren wirken mag, umso besser ist es wohl für die Zukunft der Volksoper.

↑DA CAPO