Fürst Igor
Alexander Borodin nach dem »Lied von der Heerfahrt Igors« (um 1185)
Uraufführung: 1890 St. Petersburg, Mariinskij-Theater
BESETZUNG
Igor Swjatoslawitsch, Fürst von Sewersk (Bariton) – Jaroslawna, seine zweite Frau (Sopran) – Wladimir Igorjewitsch, sein Sohn aus erster Ehe (Tenor) – Wladimir Jaroslawitsch, Fürst Galitzkij, Bruder der Fürstin Jaroslawna (Bariton) – Kontschak, Polowetzer Khan (Baß) – Kontschakowna, seine Tochter (Alt) – Owlur, getaufter Polowetzer (Tenor) – Skula und Jeroschka, zwei Gudokspieler (Bariton und Tenor) – Ein Polowetzer Mädchen (Sopran) – Gsak, Polowetzer Khan (Baß) – Die Amme der Fürstin (Sopran)
Die Stadt Putiwl und das Lager der Polowetzer, 1185
HANDLUNG
Prolog
Platz vor der Kathedrale in Putiwl
Fürst Igor versammelt sein Heer zum Feldzug gegen die ins Landes eingedrungenen Polowetzer. Eine Sonnenfinsternis wird ein böses Vorzeichen gedeutet. Jaroslawna sucht den Fürsten von seinem Plan abzubringen. Doch Igor sucht Sieg und Ruhm. An der Seite des Thronfolgers Wladimir zieht er ins Feld. Die Bänkelsänger Skula und Jeroschka machen sich lieber aus dem Staub. Die Regierungsgeschäfte legt Igor in die Hände seines Schwagers, Fürst Galitzkij.
Erster Akt
Monatelang bleibt man in Putiwl ohne Nachricht von Igor. Galitzkij hat die Macht bereits ganz an sich gerissen und feiert ausschweifende Gelage, zu denen Skula und Jeroschka aufspielen. Eine Gruppe junger Mädchen, die um die Freilassung ihrer im Palast festgehaltenen Freundin bitten, trifft ebenso auf Galitzkijs Spott wie die Vorwürfe der Fürstin. Deren schlimmste Befürchtungen bestätigen sich: Bojaren überbringen die Nachricht, Igor sei in Gefangenschaft geraten - die Polowetzer dringen gegen Putiwl vor.
Zweiter Akt
Im Lager der Polowetzer tanzen die Mädchen zur Unterhaltung der Krieger. Khan Kontschak bezieht auch seine noblen Gefangenen in die Feiern mit ein. Wladimir verliebt sich prompt in die Kontschakowna. Igor wiederum, ganz Ehrenmann, lehnt das Angebot Owlurs ab, ihm zur Flucht zu verhelfen. Er stellt sich aber auch gegen Kontschaks Plan eines Waffenbündnisses. Das wiederum sichert ihm die Hochachtung des Khans, der ihm zu Ehren ein Fest gibt.
Polowetzer Tänze
Dritter Akt
Khan Gsak hat Putiwl erobert und kehrt mit Raubgut und unzähligen Gefangenen ins Polowetzer Lager zurück. Igor, schuldbewußt, entschließt sich angesichts der Katastrophe doch zur Flucht. An Owlurs Seite kann er Putiwl befreien. Sie gelingt dank Owlurs Hilfe.
Wladimirs Fluchtversuch wird jedoch vereitelt. Doch erneut zeigt sich der Khan großmütig, bietet Wladimir sogar die Hand der Kontschakowna - er will auf diese Weise doch ein Bündnis mit dem Fürsten Igor erreichen.
Vierter Akt
Der siegreiche Igor erscheint unvermittelt vor der über ihr Schicksal klagenden Jaroslawna.
Skula und Jeroschka, die gerade noch ein Spottlied über ihren gefangenen Fürsten gesungen haben, läuten als Wendehälse die Glocken, um das Volk zusammenzurufen, das Igor huldigen soll.
Enstehungsgeschichte
Der Kritiker Wladimir Stassow hatte 1869 dem Komponisten vorgeschlagen, Szenen aus dem Igorlied für eine Oper zu bearbeiten. Borodin, der Glinka bewunderte, hatte damit das passende Sujet für eine russische Nationaloper gefunden, die in den Polowetzer Szenen die Möglichkeit für exotisches Kolorit bot, wie es die russische Romantik so liebte.Daß das selbstverfaßte Libretto eine unzusammenhängendes Bilderfolge darstellte, statt eine dramaturgisch schlüssige Geschichte zu erzählen, störte Borodin nicht. Ihn reizte die Möglichkeit, die Seelenzustände der einzelnen Figuren darzustellen. Und für die Tänze im Lager der Polowetzer fand er Musik, die in ihrer orientalischen Färbung - vergleichbar etwa Mili Balakirews Klavier-Fantasie Islamey - ungeheure Popularität erlangen sollte.
Die Komposition der Oper nahm freilich lange Zeit in Anspruch. Borodin war in seinem Hauptberuf als Chemiker extrem gefordert. Er konnte das Werk auch nicht fertigstellen. Die Potpourri-Ouvertüre hatte er im Freundeskreis beispielsweise mehrmals improvisierend am Klavier vorgestellt, aber nie niedergeschrieben. Alexander Glasunow hat sie rekonstruiert. Von ihm stammt auch die Musik zu den von Borodin nicht vertonten Szenen - vor allem das Lied des Kontschak im Dritten und weite Teile des vierten Akts. Wobei der Dritte Akt bei vielen Aufführungen weggelassen wurde.
Nikolai Rimskij-Korsakow hat die Partitur fertig instrumentiert.
Aufführungs-Geschichte
Nach der Uraufführung kam Fürst Igor 1898 am Moskauer Bolschoi-Theater heraus, 1914 folgte Covent Garden, London, 1915 Paris und New York.1947 erschien eine Neuausgabe, redigiert von Pawel Lamm, der schon für Mussorgskys Boris Godunow eine textkritische Ausgabe hergestellt hatte. Laut Lamm hätten Glasunow und Rimskij-Korsakow die Akte 1 und 2 in umgekehrter Reihenfolge publiziert. Borodin hätte beabsichtigt, den Polowetzer Akt unmittelbar nach dem Prolog zu positionieren.
Überdies enthielt Lamms Ausgabe noch einiges originales Material, das die beiden Bearbeiter ausgeschieden hatten. Nicht zuletzt eine mehr als 200 Takte umfassende Passage im ersten Akt, die Galitzkijs Machthunger illustrieren, sowie einen Monolog des Titelhelden im dritten Akt.
Aufnahmen
Zwar haben die Polowetzer Tänze ungeheure Popularität erlangt, doch die gesamte Oper ist kaum je in befriedigender Weise realisiert worden, weder szenisch noch im Plattenstudio.
Im Westen fand die von Decca in Lizenz verbreitete Einspielung unter Oscar Danon mit den Kräften der Belgrader Nationaloper weite Verbreitung, die jedoch weder besonders mitreißend musiziert, noch besonders ausdrucksvoll gesungen ist.
Die russische (dreiaktige!) Aufführungstradition ist mit der Moskauer Aufnahme unter Alexander Melik-Paschajew hinreichend dokumentiert. Sie läßt einige der machtvollsten Stimmen des Bolschoi-Ensembles der Fünfzigerjahre hören, darunter Mark Reizen und Alexander Pirogow, zwei bedeutende Darsteller von Mussorgskys Boris Godunow in den Partien von Kontschak und Galitskij. Dazu den grandiosen Sergej Lemeschew als Wladimir. Den Igor singt in dieser Einspielung Andrej Iwanow. (Melodia/Naxos)
Melik-Paschajew hatte Fürst Igor bereits zehn Jahre zuvor, 1941, mit dem Moskauer Ensemble aufgenommen. Damals war Ivan Koslowskij der Wladimir, Pirogow sang damals bereits den Galitzkij, Mixim Mikhailov war der Kontschak.
Allen technischen Bedenken zum Trotz sind diese beiden Moskauer Aufnahmen allen nachfolgenden Aufnahme-Versuchen vorzuziehen. Bei Sony erschien in den Neunzigerjahre sogar eine Aufnahme aus Sofia, die Nikolai Ghiaurov und Nicola Ghiuselve in den beiden großen Baßpartien konfrontiert, doch krankt diese am unzureichenden Dirigat Emil Tchakarovs.
Noch später stand Valery Gergiev an der Spitze seiner St. Petersburger Kräfte - seine Aufnahme, leider dirigentisch ebenso oberflächlich und ungenügend betreut, hat den Vorteil, daß alle von Lamm dokumentierten Szenen aus Borodins Feder enthalten sind, und bietet die wohl imposanteste Paarung von Frauenstimmen, Galina Gorchakova und Olga Borodina (Kontschakowna).
Eine allseits überzeugende, gültige Darstellung der revidierten Fassung mit allen von Borodin erhaltenen Musiknummern steht allerdings nach wie vor aus.
An der Wiener Staatsoper hat man das Werk nicht allzu oft gegeben. Eine seelenvolle, wenn auch stark gekürzte und natürlich deutsch gesungene Aufnahme existiert von einer Aufführung anno 1960 mit Eberhard Waechter in der Titelpartie, Hans Hotter als Galitzkij und Gottlob Frick aus Kontschak. Hilde Zadek war die Jaroslawna, Ira Malaniuk die Kontschakowna. Am Pult stand Lovor von Matacic, der die Schönheiten der Partitur, aber auch die Dramatik wunderbar erfaßt. (Gala)