Oktober 1995
Kritik: Staatsoper
Nur Rehe glauben noch an Wälder
Dermaßen durchgefallen ist in Wien schon lange keine Operninszenierung: Dem Jubel für die Sänger folgte nach dem »Freischütz« beim Erscheinen des Regisseurs ein Buh-Orkan.
Musikalisch ist an diesem Abend tatsächlich beinahe alles in schöner Ordnung. Leopold Hager hat Webers romantische Oper liebevoll einstudiert, animiert den Chor zu einem bemerkenswerten Höhenflug, begleitet die Sänger behutsam und vermeidet alles, was nach demonstrativer Zurschaustellung interpretatorischer Erkenntnisse klingen könnte. Sänger und Orchester modellieren nicht nur wohltönende Phrasen, zauberhafte Pianissimi, aber auch alle grellen Farben der Partitur, sondern erfüllen diese mit Bedeutung, ohne dabei übertreibend das Maß zu verlieren. Man versteht's auch ohne das.
Monte Pederson gibt den bösen Jagdburschen, charakterisiert prägnant - vor allem vom tiefen B an aufwärts. Thomas Moser ist sein »guter« Kamerad, und macht viel von den seelischen Qualen, die Max in seiner Zwangssituation zu leiden hat, mit vokalen Mitteln deutlich. Sein gut gewachsener Tenor übersteht dabei sämtliche Fallen und Stricke der Weberschen Partitur untadelig.
Besonders wohltönend die Damen: Soile Isokoski (Agathe), zur innigsten Kantilene fähig, Ruth Ziesak, ein Ännchen von Munterkeit und keckem Übermut, aber auch von ausdrucksvoller Verhaltenheit. Der Hörer versteht, was die Töne bedeuten, und gewinnt den Eindruck, das sei ganz unverkrampft zu vermitteln.
Benötigte Oper nicht auch noch eine optische Komponente, der Abend wäre ein rauschender Erfolg. Aber da ist die Sache mit dem deutschen Wald. Und überhaupt die vieldiskutierte Frage, ob so etwas wie der »Freischütz« samt Wolfsschlucht, Jägerchor und gütigem Eremiten »heute noch möglich« sein kann und darf.
Warum die Musik uns berührt, aufrüttelt, bezaubert, wenn ihre Inhalte ach so »altmodisch« sind, diese Frage darf offenbar nicht gestellt werden. Auch die nicht, ob in alledem - etwa auch in dem Auftritt des Deus ex machina - Allgemeingültiges liege, das nicht unzeitgemäß werden kann: Da kommt ja immerhin ein weiser Mann und spricht über die Gefährlichkeit starrer Konventionen, wirbt für Menschlichkeit und Individualität. Ließe sich solches zeitgemäß nicht deuten?
Von Alfred Kirchner nicht. Er überwindet die Angst des zwanzigsten Jahrhunderts vor Märchenhaftigkeit und Romantik nicht, will die Herausforderung, die darin liegt, nicht annehmen, hat sich von Erich Wonder Bühnenbilder von postmoderner Häßlichkeit entwerfen lassen und setzt in diese ein alles relativierendes Spektakel, in dem historische theatralische Projek-
tionseffekte, die Unbeholfenheit von Laientheater-Aufführungen, Parodistisches, Karikierendes und ein klein wenig Realismus (vor allem in Gestalt von Ruth Ziesak) ineinanderfließen.
So ist aber der Zuschauer fortwährend beschäftigt, sich zu fragen, was sich der Regisseur bei diesem und jenem Späßchen gedacht haben mag - und käme kaum dazu, sich über die möglichen Botschaften des »Freischütz« Gedanken zu machen, sängen da nicht Menschen auf der Bühne so gar nicht angekränkelt von solchen Verzerrungstendenzen. Fände ein wenig von dem Hörbaren - Emotion, Tiefgang, irrationale Angst - ein ungeschminktes optisches Äquivalent, was wäre das für ein Musiktheaterabend! Da müßte sich aber zunächst jemand entschließen, den »Freischütz« zu inszenieren.