Leopold Godowsky

1870 - 1938

Sein Biograph James Huneker nannte ihn den Pianist für Pianisten und das traf insofern zu, als die Kollegen vor Leopold Godowsky die größte Hochachtung hatten, das Publikum ihn jedoch zwar respektvoll anerkannte, aber nie aufs höchste Podest stellte. Merkwürdig war, daß dieser Künstler, von dessen technischen wie musikalischen Fertigkeiten die Pianisten regelmäßig zu schwärmen begannen im Konzertsaal - und auch vor Mikrophonen im Aufnahmestudio - weitaus weniger brillant und farbenreich musizierte wie im privaten Kreis. Nicht alle Connaisseurs empfanden das übrigens als Nachteil. Der strenge George Bernard Shaw meinte nach einer Aufführung von Schumanns Symphonischen Etüden die Tatsache, daß der Interpret hier nicht mit seinem unstreitig perfekten Virtuosentum kokettiert hätte, mache ihn geradezu sympathisch.

Vielleicht lag Godowskys Zurückhaltung daran, daß ihm technische Perfektion ungemein wichtig war und er in der Öffentlichkeit daher gewillt war, ihr alles unterzuordnen. Der große Kenner Harold Schonberg meinte einmal, es seien zwar alle erhaltenen Aufnahmen Godowskys gut, aber nur die um 1928 eingespielte Ballade von Edvard Grieg vermittle eine Ahnung von der Klarheit, Eleganz und geistvollen Autorität seines Klavierspiels.


Aus E. Griegs Ballade op. 24


Niemand Geringerer als → Josef Hofmann schärfte nach einer der legendären privaten Auftritte Godowskys einem Freund ein:
Vergiß nie, was heute abend gehört hast; speichere diesen Klang in Deiner Erinnerung, es gibt ihn kein zweitesmal! Wie traurig, daß das Publikum niemals gehört hat, was Popsy wirklich kann.


Dieser von Freunden zärtliche Popsy genannte Könner war, erstaunlich genug, Autodidakt. Die Ausbildung, die er genoß - oder vielmehr: die er nicht genießen konnte, weil sie ihm viel zu wenig fordernd schien - betrachtete er als unzureichend. Godowskys Vater war gestorben, als der talentierte Sohn noch im Kindesalter war. Aber Leopold hatte schon in jüngsten Jahren mit seinen pianistischen Leistungen Aufsehen erregt, so daß ein Bankier aus Königsberg für seinen Unterhalt aufkam und ihn an die Berliner Musikhochschule sandte. Statt dort konsequent den, wie er meinte, vernachlässigbaren Ratschlägen seiner Lehrer zu folgen, ging er lieber als Begleiter des Geigers Ovide Musin auf Amerika-Tounee ein. Zurück in Europa, nahm sich Saint-Saens seiner an. Er wurde nach Meinung des Schülers zum einzig prägenden Lehrer, hatte aber als aktiver Komponist, der gern auf Reisen ging, nicht allzu viel Zeit für seinen Zögling. So blieb Godowsky letztendlich, wie er selbst nicht ohne Stolz betonte, ein »Self-made-Musiker«.

Sein Debüt im Dezember 1900 in Berlin wurde - einmal waren sich Publikum und Fachleute (darunter die Pianisten de Pachman und Hambourg) einig - ein singulärer Triumph. Godowsky spielte Brahms' B-Dur-Konzert und Tschaikowskys b-Moll-Konzert und dazwischen einige seiner höllisch schwierigen eigenen Paraphrasen; das Pensum würde einem Pianisten 100 Jahre spater für ein dreitägiges Festival reichen! - Schon während des Konzerts kannte die Begeisterung keine Grenzen. In einem Brief beschrieb Godowsky die Euphorie, die im Saal herrschte:
Ich hätte jedes einzelne Stück wiederholen können, aber ich wollte das Konzert nicht zu lang dauern lassen . . .
Berlin wurde in der Folge Godowskys Heimatstadt, wo er sich legendäre Klavier-Duelle mit Ferruccio Busoni lieferte. 1909 ging er in der Nachfolge Sauers nach Wien als Klavierprofessor an der kaiserlichen Akademie. Der Kriesgausbruch trieb ihn in die USA, die ihm zur Heimat wurden.

Der Komponist

Als Techniker arbeitete Godowsky vor allem an der vollkommenen Unabhängigkeit der beiden Hände und an Möglichkeiten, den Klavierklang durch noch größere Auffächerung ins Symphonische zu weiten - wobei eine atemberaubende Vielstimmigkeit entstand, die er in seinen eigenen Kompositionen auch für aberwitzige polyphone Kunstfertigkeiten nutzte. Zu diesem Zweck mußte vor allem die Beweglichkeit der linken Hand gestärkt werden. Bearbeitungen von Chopin-Etüden zum Spiel mit nur einer Hand gehörten denn auch zu den ersten artifiziellen Versuchen Godowskys. Aus diesen entstanden die insgesamt 53 Etüden über die Chopin-Etüden, die zum Herausforderndsten gehören, das die Klavierliteratur hervorgebracht hat. Nicht nur vertraute Godowsky hie und da die Komplexität einer Etüde den fünf Fingern einer Hand an, er schichtete - apropos Polyphonie - auch zwei Etüden in derselben Tonart (Ges-Dur) übereinander und ließ sie gleichzeitig ablaufen!

Was den Perfektionismus anlangt, der weit über die Wahrnehmungsschwelle des Publikums hinaus wirken kann, war Godowsky nicht nur ein Pianist für Pianisten, sondern auch ein Komponist für Komponisten . . .


Titelblatt der Johann-Strauß-Paraphrasen
Ähnliche Hexenmeistereien, die auch seine raffinierte Kompositionstechnik erweisen, zaubert Godowsky in seinen Johann-Strauß-Paraphrasen aus dem Flügel. Die »Symphonischen Metamorphosen Johann Strauß'scher Themen« widmen sich Themen aus der Fledermaus, dem Walzer Künstlerleben und Wein, Weib und Gesang. Sie hätten exquisite Zugaben-Stücke abgegeben, wenn sie denn die Pianisten späterer Generationen spielen hätten können. Den meisten blieb das verwehrt. Es war vor allem Godowskys Schwiegersohn David Saperton, der hier Pioniertaten im Aufnahmestudio leistete. Später gelangen Marc-André Hamelin und Carlo Grante herausragende Godowsky-Aufnahmen - wobei Grantes Einspielung sogar zu einem bemerkenswerten Plagiatsfall führte: Der Ehemann der Pianistin → Joyce Hatto bearbeitete die Aufnahmen der Etüden über die Chopin-Etüden und gab sie als Aufnahmen seiner Frau heraus. Der Mythos Godowsky wirkt auf kuriose Weise fort!


↑DA CAPO