Eugène Ysaÿe

1858–1931

Eugène Ysaÿe war nach übereinstimmenden Aussagen seiner Zeitgenossen eine Hühne von einem Mann, also nicht nur künstlerisch, sondern auch körperlich eine imponierende Erscheinung. Für die Kollegen Kreisler, Zimbalist, Elman, Thibaud oder Szigeti galt er als Numero uno unter den großen Geigern seiner Zeit.

Geboren in Lüttich, erhielt er seinen ersten Unterricht mit vier Jahren von seinem Vaters. Als Henri Vieuxtemps ihn eines Tages üben hörte, drang er darauf, den jungen Mann ans Konservatorium zu schicken. Dort studierte Ysaÿe bei Rudolphe Massart, dann bei Wieniawski, der inzwischen die Stelle des kränklichen Vieuxtemps eingenommen hatte. Auf Vieuxtemps stieß Ysaÿe dann doch noch in Paris. Er bezeichnete ihn stets als seinen wichtigsten Lehrer.

Seinem immensen Talent zum Trotz machte Ysaÿe nur langsam Karriere. Die Kritik stellte Vergleiche mit Wieniawski an und hielt ihm die Erfolge des so beliebten - wie ganz ander gearteten Pablo de Sarasate entgegen. Ganz im Gegensatz zu diesem Konkurrenten setzte sich Ysaÿe mit den führenden Komponisten seiner Zeit auseinander, spielte Franck und Debussy, Saint-Saëns und Fauré, Chausson und Lekeu. César Franck widmete Ysaÿe seine Violinsonate, Debussy widmete ihm sein Streichquartett, Chausson sein Poème. Alle diese Werke hat der gleichermaßen solistisch als auch kammermusikalisch aktive Ysaÿe uraufgeführt. Kammermusik macht Ysaÿe mit Anton Rubinstein und Sergej Rachmaninov, vor allem aber mit Raoul Pugno, der ihm in jeder Hinsicht ähnlich gewesen sein muß: Anläßlich einer Tournee erwies sich die Tragfähigkeit des Konzertpodiums in einer kleinen belgischen Stadt als zu gering für das kombinierte Gewicht von Ysaÿe, Pugno und dem Konzerflügel. Die alte Bühne brach unter der Last zusammen.

Ysaÿes Überzeung war, daß auch bedeutende Musik stets einen »Dolmetscher« brauche. Der Interpret hätte daher stets die Freiheit, die Partituren nach seinem Gutdünken einzurichten, um aus ihnen alles herauszuholen. Sein Motto lautete:

Geige spielen ist ziemlich einfach, sogar banal. Aber zu fühlen, zu klopfen, die Seele des Instruments zum Schwingen zu bringen, ist ein Geschenk Gottes!

Ysaÿes Spiel brachte den um die Jahrhundertwende kultivierten neuen Geigenstil zu einer Hochblüte: Eine neue Klangsinnlichkeit, geprägt auch durch die konsequente Verwendung des Vibrato nutzte er in unzähligen Varianten zu ungeahnten Klangwirkungen.

Sein Stern begann in den Jahren des Ersten Weltkriegs zu sinken. Etwa um 1916, zur Zeit seines Comebacks nach New York, begann sein Bogen zu zittern und es stellten sich Gedächtnislücken ein. Um seine Lebensführung aufrecht zu erhalten, übernahm Ysaÿe den lukrativen Posten des künstlerischen Leiters des Cincinnati Orchestras. (Ein Angebot von New York Philharmonic hatte er auf dem Höhepunkt seines Ruhms, 1898, abgelehnt.)
Auch in der Funktion des Dirigenten engagierte er sich für die Neue Musik seiner Zeit und dirigierte zahlreiche US-Premieren und Uraufführungen, ehe er 1922 endgültig nach Europa zurückkehrte.

Ysaÿe hat niemals Komposition studiert, brachte mit seinen sechs Violinsonaten jedoch einen unvergleichlichen, für die Solo-Violinliteratur unschätzbaren Zyklus hervor, der die Violintechnik auf zuvor unbekannte Weise für einer avancierten Kompositionsmethode dienstbar machte. Ysaÿes Behandlung des Instrument ist so raffiniert wie die harmonischen Abenteuer seiner Sonaten, die sechs vollkommen unterschiedliche - zum Teil sogar auf Bach zurückgreifende - Neudefinitionen der Sonatenform aufzeigen.

Sein lezter öffentlicher Auftritt als Geiger galt im Jahr 1927 einer Aufführung des Beethoven-Konzerts in Barcelona unter der Leitung von Pau Casals.
Diabetes und die damit verbundenen Herzproblemen hatten seiner Gesundheit schwer zugesetzt. Zuletzt mußte sein rechter Fuß amputiert werden. In der Rekonvaleszenz-Zeit versuchte Ysaÿe die Oper Pier-li-Houyeu (»Peter der Bergmann«) zu vollenden, die er in Jugendjahren aufgrund eines tragischen Vorfalls in einem Bergarbeiter-Dorf skizziert hatte. Die Hoffnung, die Premiere seiner Oper selbst dirigieren zu können, erfüllte sich nicht. Ysaÿe brach bei der ersten Probe zusammen und mußte die Premiere über das Radio in der Brüsseler Klinik verfolgen.

Ysaÿe galt als Nationalheld, erhielt ein popmpöses staatliches Begräbnis - sein Herz wurde in einer eigens dafür angefertigten Urne aus Silber ins Ysaÿe-Museum nach Lüttich gebracht und dort zur Ruhe gebettet.


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↑DA CAPO